Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_136.001
Augenbrauen in dem Netze einer Spinne hängen. Eines der in breiterer pba_136.002
Weise und zwar sehr geschickt und witzig durchgeführten Epigramme des pba_136.003
Martial (XII, 29) enthält als ganze Exposition im ersten Verse die pba_136.004
Bezeichnung des Hermogenes als des ärgsten Serviettendiebes, und der pba_136.005
"Aufschluß" besteht in den durch zehn Distichen sich häufenden Hyperbeln pba_136.006
über die Ausübung der Manie, die alle nur die Schlußpointe vorbereiten:

pba_136.007
At cenam Hermogenes mappam non attulit unquam, pba_136.008
A cena semper rettulit Hermogenes.
pba_136.009

Zwischen diesem aber und dem folgenden des Martial (XII, 88) scheint pba_136.010
kein anderer Unterschied zu sein, als daß das letztere statt einer ganzen pba_136.011
Reihe von Hyperbeln nur eine einzige enthält:

pba_136.012
Tongilianus habet nasum: scio, non nego Sed jam pba_136.013
Nil praeter nasum Tongilianus habet.
pba_136.014

Gegen Epigramme wie dieses ist der Form nach nichts einzuwenden -- pba_136.015
und sie sind zahlreich genug -- doch läßt sich nicht leugnen, daß sie pba_136.016
recht kahl sind und ungesalzen, wenn nicht eine Würze hinzugethan wird; pba_136.017
eine solche aber kann schon in der Drastik des angewendeten Vergleichs pba_136.018
liegen, wenn z. B. Logau dasselbe Thema folgendermaßen variiert:

pba_136.019
Nasalus ist ein großer Herr, schickt ins Quartier und meldt sich an! pba_136.020
Lakay, Trompeter ist es nicht; wer denn? Die Nase kömmt voran.
pba_136.021

Mitunter fehlt solche Würze bei Martial ganz, wie z. B. II, 35, wo pba_136.022
er einem Krummbeinigen anrät, seine Füße in einem Trinkhorn zu pba_136.023
waschen; oder sie wird durch das obscöne Element gegeben, wie in dem pba_136.024
widerwärtigen 36. des VI. Buches, nach dem von ihm selbst aufgestellten pba_136.025
und so emsig befolgten Gesetze (vgl. I, 35):

pba_136.026
Lex haec carminibus data est jocosis, pba_136.027
Ne possint, nisi pruriant, juvare.

pba_136.028
Was freilich das eben citierte Nasenepigramm auf den Tongilianus pba_136.029
angeht, so möchte den Martial hier der Vorwurf mit Unrecht treffen; pba_136.030
warum sollte es nicht über das bloße Spiel des Witzes hinaus den pba_136.031
tieferen, allegorischen Sinn haben, daß, wie auch wir metaphorisch von pba_136.032
einer "feinen Nase" sprechen, das Geruchsorgan hier für die kritische pba_136.033
Befähigung
steht, und das Epigramm also sagen würde: "Ja, er pba_136.034
mag sie haben, ich weiß es und will es nicht leugnen; aber bei ihm ist pba_136.035
es so weit, daß er aus gar nichts anderm besteht, als aus Kritik." Die pba_136.036
Adresse des "Tongilianus" mag, wenn auch der Name fingiert ist, durch pba_136.037
irgend eine notorische Beziehung den Lesern des Martial diesen Sinn

pba_136.001
Augenbrauen in dem Netze einer Spinne hängen. Eines der in breiterer pba_136.002
Weise und zwar sehr geschickt und witzig durchgeführten Epigramme des pba_136.003
Martial (XII, 29) enthält als ganze Exposition im ersten Verse die pba_136.004
Bezeichnung des Hermogenes als des ärgsten Serviettendiebes, und der pba_136.005
„Aufschluß“ besteht in den durch zehn Distichen sich häufenden Hyperbeln pba_136.006
über die Ausübung der Manie, die alle nur die Schlußpointe vorbereiten:

pba_136.007
At cenam Hermogenes mappam non attulit unquam, pba_136.008
A cena semper rettulit Hermogenes.
pba_136.009

Zwischen diesem aber und dem folgenden des Martial (XII, 88) scheint pba_136.010
kein anderer Unterschied zu sein, als daß das letztere statt einer ganzen pba_136.011
Reihe von Hyperbeln nur eine einzige enthält:

pba_136.012
Tongilianus habet nasum: scio, non nego Sed jam pba_136.013
Nil praeter nasum Tongilianus habet.
pba_136.014

Gegen Epigramme wie dieses ist der Form nach nichts einzuwenden — pba_136.015
und sie sind zahlreich genug — doch läßt sich nicht leugnen, daß sie pba_136.016
recht kahl sind und ungesalzen, wenn nicht eine Würze hinzugethan wird; pba_136.017
eine solche aber kann schon in der Drastik des angewendeten Vergleichs pba_136.018
liegen, wenn z. B. Logau dasselbe Thema folgendermaßen variiert:

pba_136.019
Nasalus ist ein großer Herr, schickt ins Quartier und meldt sich an! pba_136.020
Lakay, Trompeter ist es nicht; wer denn? Die Nase kömmt voran.
pba_136.021

Mitunter fehlt solche Würze bei Martial ganz, wie z. B. II, 35, wo pba_136.022
er einem Krummbeinigen anrät, seine Füße in einem Trinkhorn zu pba_136.023
waschen; oder sie wird durch das obscöne Element gegeben, wie in dem pba_136.024
widerwärtigen 36. des VI. Buches, nach dem von ihm selbst aufgestellten pba_136.025
und so emsig befolgten Gesetze (vgl. I, 35):

pba_136.026
Lex haec carminibus data est jocosis, pba_136.027
Ne possint, nisi pruriant, juvare.

pba_136.028
Was freilich das eben citierte Nasenepigramm auf den Tongilianus pba_136.029
angeht, so möchte den Martial hier der Vorwurf mit Unrecht treffen; pba_136.030
warum sollte es nicht über das bloße Spiel des Witzes hinaus den pba_136.031
tieferen, allegorischen Sinn haben, daß, wie auch wir metaphorisch von pba_136.032
einer „feinen Nase“ sprechen, das Geruchsorgan hier für die kritische pba_136.033
Befähigung
steht, und das Epigramm also sagen würde: „Ja, er pba_136.034
mag sie haben, ich weiß es und will es nicht leugnen; aber bei ihm ist pba_136.035
es so weit, daß er aus gar nichts anderm besteht, als aus Kritik.“ Die pba_136.036
Adresse des „Tongilianus“ mag, wenn auch der Name fingiert ist, durch pba_136.037
irgend eine notorische Beziehung den Lesern des Martial diesen Sinn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0154" n="136"/><lb n="pba_136.001"/>
Augenbrauen in dem Netze einer Spinne hängen. Eines der in breiterer <lb n="pba_136.002"/>
Weise und zwar sehr geschickt und witzig durchgeführten Epigramme des <lb n="pba_136.003"/>
Martial (XII, 29) enthält als ganze Exposition im ersten Verse die <lb n="pba_136.004"/>
Bezeichnung des Hermogenes als des ärgsten Serviettendiebes, und der <lb n="pba_136.005"/>
&#x201E;Aufschluß&#x201C; besteht in den durch zehn Distichen sich häufenden Hyperbeln <lb n="pba_136.006"/>
über die Ausübung der Manie, die alle nur die Schlußpointe vorbereiten:</p>
        <lb n="pba_136.007"/>
        <lg>
          <l> <hi rendition="#aq">At cenam Hermogenes mappam non attulit unquam,</hi> </l>
          <lb n="pba_136.008"/>
          <l><hi rendition="#aq">  A cena semper rettulit Hermogenes</hi>.</l>
        </lg>
        <lb n="pba_136.009"/>
        <p>Zwischen diesem aber und dem folgenden des Martial (XII, 88) scheint <lb n="pba_136.010"/>
kein anderer Unterschied zu sein, als daß das letztere statt einer ganzen <lb n="pba_136.011"/>
Reihe von Hyperbeln nur eine einzige enthält:</p>
        <lb n="pba_136.012"/>
        <lg>
          <l> <hi rendition="#aq">Tongilianus habet nasum: scio, non nego Sed jam</hi> </l>
          <lb n="pba_136.013"/>
          <l><hi rendition="#aq">  Nil praeter nasum Tongilianus habet</hi>.</l>
        </lg>
        <lb n="pba_136.014"/>
        <p>Gegen Epigramme wie dieses ist der Form nach nichts einzuwenden &#x2014; <lb n="pba_136.015"/>
und sie sind zahlreich genug &#x2014; doch läßt sich nicht leugnen, daß sie <lb n="pba_136.016"/>
recht kahl sind und ungesalzen, wenn nicht eine Würze hinzugethan wird; <lb n="pba_136.017"/>
eine solche aber kann schon in der Drastik des angewendeten Vergleichs <lb n="pba_136.018"/>
liegen, wenn z. B. <hi rendition="#g">Logau</hi> dasselbe Thema folgendermaßen variiert:</p>
        <lb n="pba_136.019"/>
        <lg>
          <l>Nasalus ist ein großer Herr, schickt ins Quartier und meldt sich an!</l>
          <lb n="pba_136.020"/>
          <l>Lakay, Trompeter ist es nicht; wer denn? Die Nase kömmt voran.</l>
        </lg>
        <lb n="pba_136.021"/>
        <p>Mitunter fehlt solche Würze bei Martial ganz, wie z. B. II, 35, wo <lb n="pba_136.022"/>
er einem Krummbeinigen anrät, seine Füße in einem Trinkhorn zu <lb n="pba_136.023"/>
waschen; oder sie wird durch das obscöne Element gegeben, wie in dem <lb n="pba_136.024"/>
widerwärtigen 36. des VI. Buches, nach dem von ihm selbst aufgestellten <lb n="pba_136.025"/>
und so emsig befolgten Gesetze (vgl. I, 35):</p>
        <lb n="pba_136.026"/>
        <lg>
          <l> <hi rendition="#aq">Lex haec carminibus data est jocosis,</hi> </l>
          <lb n="pba_136.027"/>
          <l><hi rendition="#aq">Ne possint, nisi pruriant, juvare</hi>.</l>
        </lg>
        <p><lb n="pba_136.028"/>
Was freilich das eben citierte Nasenepigramm auf den Tongilianus <lb n="pba_136.029"/>
angeht, so möchte den Martial hier der Vorwurf mit Unrecht treffen; <lb n="pba_136.030"/>
warum sollte es nicht über das bloße Spiel des Witzes hinaus den <lb n="pba_136.031"/>
tieferen, allegorischen Sinn haben, daß, wie auch wir metaphorisch von <lb n="pba_136.032"/>
einer &#x201E;feinen Nase&#x201C; sprechen, das Geruchsorgan hier für die <hi rendition="#g">kritische <lb n="pba_136.033"/>
Befähigung</hi> steht, und das Epigramm also sagen würde: &#x201E;Ja, er <lb n="pba_136.034"/>
mag sie haben, ich weiß es und will es nicht leugnen; aber bei ihm ist <lb n="pba_136.035"/>
es so weit, daß er aus gar nichts anderm besteht, als aus Kritik.&#x201C; Die <lb n="pba_136.036"/>
Adresse des &#x201E;Tongilianus&#x201C; mag, wenn auch der Name fingiert ist, durch <lb n="pba_136.037"/>
irgend eine notorische Beziehung den Lesern des Martial diesen Sinn
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0154] pba_136.001 Augenbrauen in dem Netze einer Spinne hängen. Eines der in breiterer pba_136.002 Weise und zwar sehr geschickt und witzig durchgeführten Epigramme des pba_136.003 Martial (XII, 29) enthält als ganze Exposition im ersten Verse die pba_136.004 Bezeichnung des Hermogenes als des ärgsten Serviettendiebes, und der pba_136.005 „Aufschluß“ besteht in den durch zehn Distichen sich häufenden Hyperbeln pba_136.006 über die Ausübung der Manie, die alle nur die Schlußpointe vorbereiten: pba_136.007 At cenam Hermogenes mappam non attulit unquam, pba_136.008 A cena semper rettulit Hermogenes. pba_136.009 Zwischen diesem aber und dem folgenden des Martial (XII, 88) scheint pba_136.010 kein anderer Unterschied zu sein, als daß das letztere statt einer ganzen pba_136.011 Reihe von Hyperbeln nur eine einzige enthält: pba_136.012 Tongilianus habet nasum: scio, non nego Sed jam pba_136.013 Nil praeter nasum Tongilianus habet. pba_136.014 Gegen Epigramme wie dieses ist der Form nach nichts einzuwenden — pba_136.015 und sie sind zahlreich genug — doch läßt sich nicht leugnen, daß sie pba_136.016 recht kahl sind und ungesalzen, wenn nicht eine Würze hinzugethan wird; pba_136.017 eine solche aber kann schon in der Drastik des angewendeten Vergleichs pba_136.018 liegen, wenn z. B. Logau dasselbe Thema folgendermaßen variiert: pba_136.019 Nasalus ist ein großer Herr, schickt ins Quartier und meldt sich an! pba_136.020 Lakay, Trompeter ist es nicht; wer denn? Die Nase kömmt voran. pba_136.021 Mitunter fehlt solche Würze bei Martial ganz, wie z. B. II, 35, wo pba_136.022 er einem Krummbeinigen anrät, seine Füße in einem Trinkhorn zu pba_136.023 waschen; oder sie wird durch das obscöne Element gegeben, wie in dem pba_136.024 widerwärtigen 36. des VI. Buches, nach dem von ihm selbst aufgestellten pba_136.025 und so emsig befolgten Gesetze (vgl. I, 35): pba_136.026 Lex haec carminibus data est jocosis, pba_136.027 Ne possint, nisi pruriant, juvare. pba_136.028 Was freilich das eben citierte Nasenepigramm auf den Tongilianus pba_136.029 angeht, so möchte den Martial hier der Vorwurf mit Unrecht treffen; pba_136.030 warum sollte es nicht über das bloße Spiel des Witzes hinaus den pba_136.031 tieferen, allegorischen Sinn haben, daß, wie auch wir metaphorisch von pba_136.032 einer „feinen Nase“ sprechen, das Geruchsorgan hier für die kritische pba_136.033 Befähigung steht, und das Epigramm also sagen würde: „Ja, er pba_136.034 mag sie haben, ich weiß es und will es nicht leugnen; aber bei ihm ist pba_136.035 es so weit, daß er aus gar nichts anderm besteht, als aus Kritik.“ Die pba_136.036 Adresse des „Tongilianus“ mag, wenn auch der Name fingiert ist, durch pba_136.037 irgend eine notorische Beziehung den Lesern des Martial diesen Sinn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/154
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/154>, abgerufen am 09.11.2024.