Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_095.001 pba_095.003 pba_095.005 pba_095.012 pba_095.020 pba_095.023 1 pba_095.026 Als eine Sammlung von Musterbeispielen solcher gänzlich fehlerhaften Allegorie pba_095.027 kann z. B. der "Theuerdank" gelten; ebenso aber auch die Allegorieen, wie sie von pba_095.028 Boileau und Pope angewandt wurden und von ihren deutschen Nachahmern, z. B. pba_095.029 von Zachariä. 2 pba_095.030
Genau das hier Gesagte scheint mir Goethe in einem seiner Sprüche in Prosa pba_095.031 im Auge gehabt zu haben, nur daß er den Ausdruck Allegorie in jenem engeren pba_095.032 Sinne der fehlerhaften Allegorie versteht: "Es ist ein großer Unterschied," sagt pba_095.033 er, "ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das pba_095.034 Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, pba_095.035 als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der pba_095.036 Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf pba_095.037 hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine pba_095.038 mit, ohne es gewahr zu werden, oder spät." Vgl. hierzu meine parallelen Ausführungen pba_095.039 über diesen Gegenstand in der Schrift: "Goethes Märchen, ein politisch-nationales pba_095.040 Glaubensbekenntnis des Dichters" (Königsberg bei Hartung 1875), pba_095.041 S. 8 ff. pba_095.001 pba_095.003 pba_095.005 pba_095.012 pba_095.020 pba_095.023 1 pba_095.026 Als eine Sammlung von Musterbeispielen solcher gänzlich fehlerhaften Allegorie pba_095.027 kann z. B. der „Theuerdank“ gelten; ebenso aber auch die Allegorieen, wie sie von pba_095.028 Boileau und Pope angewandt wurden und von ihren deutschen Nachahmern, z. B. pba_095.029 von Zachariä. 2 pba_095.030
Genau das hier Gesagte scheint mir Goethe in einem seiner Sprüche in Prosa pba_095.031 im Auge gehabt zu haben, nur daß er den Ausdruck Allegorie in jenem engeren pba_095.032 Sinne der fehlerhaften Allegorie versteht: „Es ist ein großer Unterschied,“ sagt pba_095.033 er, „ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das pba_095.034 Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, pba_095.035 als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der pba_095.036 Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf pba_095.037 hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine pba_095.038 mit, ohne es gewahr zu werden, oder spät.“ Vgl. hierzu meine parallelen Ausführungen pba_095.039 über diesen Gegenstand in der Schrift: „Goethes Märchen, ein politisch-nationales pba_095.040 Glaubensbekenntnis des Dichters“ (Königsberg bei Hartung 1875), pba_095.041 S. 8 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0113" n="95"/><lb n="pba_095.001"/> halten soll; dann ist sie zugleich unzulänglich, überflüssig und unschön <lb n="pba_095.002"/> und aus jeder Kunst unbedingt zu verstoßen.<note xml:id="pba_095_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_095.026"/> Als eine Sammlung von Musterbeispielen solcher gänzlich fehlerhaften Allegorie <lb n="pba_095.027"/> kann z. B. der „<hi rendition="#g">Theuerdank</hi>“ gelten; ebenso aber auch die Allegorieen, wie sie von <lb n="pba_095.028"/> <hi rendition="#g">Boileau</hi> und <hi rendition="#g">Pope</hi> angewandt wurden und von ihren deutschen Nachahmern, z. B. <lb n="pba_095.029"/> von <hi rendition="#g">Zachariä</hi>.</note></p> <p><lb n="pba_095.003"/> Nach alledem muß die Definition der poetischen <hi rendition="#g">Allegorie</hi> folgendermaßen <lb n="pba_095.004"/> lauten:</p> <p><lb n="pba_095.005"/> Sie ist die <hi rendition="#g">Nachahmung eines Gedankenethos durch die <lb n="pba_095.006"/> Darstellung nicht der dasselbe hervorrufenden konkreten <lb n="pba_095.007"/> Realität, sondern eines andern Konkreten, welches dasselbe <lb n="pba_095.008"/> in gedrängterer und einheitlicherer Form enthält, <lb n="pba_095.009"/> und eben dadurch einen solchen Grad der Aehnlichkeit mit <lb n="pba_095.010"/> jener Realität erlangt, daß es sowohl im Ganzen als in <lb n="pba_095.011"/> seinen Teilen auf dieselbe hinzuweisen vermag.</hi></p> <p><lb n="pba_095.012"/> Eine solche allegorische Darstellung entspricht völlig der Natur der <lb n="pba_095.013"/> Poesie, da sie zunächst auch ohne den Gedanken an das Allgemeine durch <lb n="pba_095.014"/> die bloße Darstellung des Besonderen ihre Wirkung thut. Wer jedoch <lb n="pba_095.015"/> dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, sogar <lb n="pba_095.016"/> vielleicht ohne es zunächst gewahr zu werden. Erschließt sich nun <lb n="pba_095.017"/> rückwärts aus diesem Allgemeinen noch weiter die Aussicht auf ein verwandtes <lb n="pba_095.018"/> aber höher geartetes und reicheres Besonderes, so steigert sich <lb n="pba_095.019"/> damit die Wirkung ins Unendliche.<note xml:id="pba_095_2" place="foot" n="2"><lb n="pba_095.030"/> Genau das hier Gesagte scheint mir <hi rendition="#g">Goethe</hi> in einem seiner Sprüche in Prosa <lb n="pba_095.031"/> im Auge gehabt zu haben, nur daß er den Ausdruck Allegorie <hi rendition="#g">in jenem engeren <lb n="pba_095.032"/> Sinne der fehlerhaften Allegorie</hi> versteht: „Es ist ein großer Unterschied,“ sagt <lb n="pba_095.033"/> er, „ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das <lb n="pba_095.034"/> Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, <lb n="pba_095.035"/> als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der <lb n="pba_095.036"/> Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf <lb n="pba_095.037"/> hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine <lb n="pba_095.038"/> mit, ohne es gewahr zu werden, oder spät.“ Vgl. hierzu meine parallelen Ausführungen <lb n="pba_095.039"/> über diesen Gegenstand in der Schrift: „<hi rendition="#g">Goethes Märchen, ein politisch-nationales <lb n="pba_095.040"/> Glaubensbekenntnis des Dichters</hi>“ (Königsberg bei Hartung 1875), <lb n="pba_095.041"/> S. 8 ff.</note></p> <p><lb n="pba_095.020"/> Es bleibt noch übrig an den oben als hervorragende Beispiele für <lb n="pba_095.021"/> die allegorische Darstellung des Reflexions-Ethos citierten Gedichten die <lb n="pba_095.022"/> Probe zu machen.</p> <p><lb n="pba_095.023"/> Der Genius ist zum Vollgefühl seiner Kraft und zu der freudigstolzen <lb n="pba_095.024"/> Erkenntnis seines Wesens erwacht! Jn der Gewißheit des <lb n="pba_095.025"/> mächtigen Vermögens, das er in immer gesteigertem Gelingen erprobt </p> </div> </body> </text> </TEI> [95/0113]
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halten soll; dann ist sie zugleich unzulänglich, überflüssig und unschön pba_095.002
und aus jeder Kunst unbedingt zu verstoßen. 1
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Nach alledem muß die Definition der poetischen Allegorie folgendermaßen pba_095.004
lauten:
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Sie ist die Nachahmung eines Gedankenethos durch die pba_095.006
Darstellung nicht der dasselbe hervorrufenden konkreten pba_095.007
Realität, sondern eines andern Konkreten, welches dasselbe pba_095.008
in gedrängterer und einheitlicherer Form enthält, pba_095.009
und eben dadurch einen solchen Grad der Aehnlichkeit mit pba_095.010
jener Realität erlangt, daß es sowohl im Ganzen als in pba_095.011
seinen Teilen auf dieselbe hinzuweisen vermag.
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Eine solche allegorische Darstellung entspricht völlig der Natur der pba_095.013
Poesie, da sie zunächst auch ohne den Gedanken an das Allgemeine durch pba_095.014
die bloße Darstellung des Besonderen ihre Wirkung thut. Wer jedoch pba_095.015
dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, sogar pba_095.016
vielleicht ohne es zunächst gewahr zu werden. Erschließt sich nun pba_095.017
rückwärts aus diesem Allgemeinen noch weiter die Aussicht auf ein verwandtes pba_095.018
aber höher geartetes und reicheres Besonderes, so steigert sich pba_095.019
damit die Wirkung ins Unendliche. 2
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Es bleibt noch übrig an den oben als hervorragende Beispiele für pba_095.021
die allegorische Darstellung des Reflexions-Ethos citierten Gedichten die pba_095.022
Probe zu machen.
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Der Genius ist zum Vollgefühl seiner Kraft und zu der freudigstolzen pba_095.024
Erkenntnis seines Wesens erwacht! Jn der Gewißheit des pba_095.025
mächtigen Vermögens, das er in immer gesteigertem Gelingen erprobt
1 pba_095.026
Als eine Sammlung von Musterbeispielen solcher gänzlich fehlerhaften Allegorie pba_095.027
kann z. B. der „Theuerdank“ gelten; ebenso aber auch die Allegorieen, wie sie von pba_095.028
Boileau und Pope angewandt wurden und von ihren deutschen Nachahmern, z. B. pba_095.029
von Zachariä.
2 pba_095.030
Genau das hier Gesagte scheint mir Goethe in einem seiner Sprüche in Prosa pba_095.031
im Auge gehabt zu haben, nur daß er den Ausdruck Allegorie in jenem engeren pba_095.032
Sinne der fehlerhaften Allegorie versteht: „Es ist ein großer Unterschied,“ sagt pba_095.033
er, „ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das pba_095.034
Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, pba_095.035
als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der pba_095.036
Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf pba_095.037
hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine pba_095.038
mit, ohne es gewahr zu werden, oder spät.“ Vgl. hierzu meine parallelen Ausführungen pba_095.039
über diesen Gegenstand in der Schrift: „Goethes Märchen, ein politisch-nationales pba_095.040
Glaubensbekenntnis des Dichters“ (Königsberg bei Hartung 1875), pba_095.041
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