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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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entgegen der bekannten Rousseauschen Behauptung, die Civilisation kein pba_087.002
Uebel sei, sondern ihre Jrrgänge nur unvermeidliche Etappen eines Entwickelungsganges pba_087.003
zur Einheit von Kultur und Natur, der würde das pba_087.004
Gedicht doch nur halb verstanden und noch weniger empfunden haben. pba_087.005
Was das Gedicht nachahmt, oder, um in der gewöhnlichen Ausdrucksweise pba_087.006
zu sprechen, was es verkündet und wodurch es ergreift und entzückt, pba_087.007
ist vor allem die Begeisterung eines rein und natürlich gestimmten pba_087.008
Gemütes für die reinsten und unmittelbarsten Aeußerungen der pba_087.009
Natur, es ist ferner die jubelnde Freude einer thatkräftig strebenden pba_087.010
Seele an der hellen Erkenntnis des sichern Fortschreitens, in welchem pba_087.011
der große Gang der Geschichte dem gesunden Auge alle die reichen von pba_087.012
der Natur dem Menschen verliehenen Kräfte in ihrem Streite und in pba_087.013
ihrem Bunde zeigt, es ist die schwere Beängstigung, daß eine wild pba_087.014
und drangvoll bewegte Gegenwart die Sicherheit jener Erkenntnis zu pba_087.015
erschüttern droht, es ist endlich die hochgemute Tröstung und die pba_087.016
unerschütterliche Zuversicht, welche der edle Sinn in der Gewißheit pba_087.017
seiner selbst und in dem treuen Festhalten an der Natur, dem liebevollen pba_087.018
Anschluß an sie, für den Glauben an den Wert und den Erfolg pba_087.019
des Strebens der menschlichen Gattung zurückgewinnt. Alles das aber pba_087.020
sind keine "Sätze" oder "Jdeen", es sind Zustände des Gemütes, pba_087.021
wie sie durch jene erst entwickelt werden -- Ethe!

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Je mehr es dem Dichter gelingt selbst solches durch Jdeen erzeugte pba_087.023
Ethos vermittelst der Darstellung bewegten Lebens nachzuahmen, pba_087.024
desto gewisser erreicht er seinen Zweck und in um so schönerer Art löst pba_087.025
er seine Aufgabe. Hierin ist nun aber Goethe der unerreichte und pba_087.026
ganz unerreichbare Meister. Sieht man hierauf hin nun noch einmal pba_087.027
seine Gedichte durch, so erscheint, während jene direkte Reflexionsdichtung pba_087.028
sich nur in seinem späteren Alter und auch da nur spärlich zeigte, pba_087.029
auf einmal eine gedrängte Fülle der herrlichsten Schöpfungen, welche pba_087.030
durchaus dieser Gattung zuzurechnen sind. Und zwar von seiner frühen pba_087.031
Jugend an erweist sich diese echte Reflexions-Poesie als eine von ihm pba_087.032
ganz besonders bevorzugte Lieblingsgattung, von jenem "Sturmlied" pba_087.033
des seine Schwingen in ungestümem Flügelschlag entfaltenden Genius pba_087.034
an bis zu seinen reifsten Kundgebungen, der "Zueignung", den "Geheimnissen" pba_087.035
oder dem "deutschen Parnaß". Das Gemeinsame bei pba_087.036
ihnen allen ist, daß nicht der Gedanke selbst, sondern das von ihm getragene pba_087.037
Ethos zum Ausdruck gelangt und zwar überall durch das Mittel pba_087.038
lebensvoll dargestellter Bilder, wenn nicht, wie meistens, durch einen pba_087.039
einzelnen, in sich zusammenhängenden Vorgang.

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Wenn es ihn drängt seine Vorstellung des "Göttlichen" aus-

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entgegen der bekannten Rousseauschen Behauptung, die Civilisation kein pba_087.002
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wie sie durch jene erst entwickelt werden — Ethe!

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Je mehr es dem Dichter gelingt selbst solches durch Jdeen erzeugte pba_087.023
Ethos vermittelst der Darstellung bewegten Lebens nachzuahmen, pba_087.024
desto gewisser erreicht er seinen Zweck und in um so schönerer Art löst pba_087.025
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/105>, abgerufen am 23.11.2024.