Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_085.001 Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, pba_085.002 Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f. pba_085.003 So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen, pba_085.006 Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos pba_085.007 Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle pba_085.008 Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung: pba_085.009 Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze, pba_085.010 Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis. pba_085.011 Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern pba_085.013 Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, pba_085.014 Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter pba_085.015 Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; pba_085.016 Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne pba_085.017 Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben. pba_085.018 pba_085.039 pba_085.001 Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, pba_085.002 Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f. pba_085.003 So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen, pba_085.006 Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos pba_085.007 Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle pba_085.008 Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung: pba_085.009 Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze, pba_085.010 Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis. pba_085.011 Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern pba_085.013 Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, pba_085.014 Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter pba_085.015 Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; pba_085.016 Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne pba_085.017 Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben. pba_085.018 pba_085.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0103" n="85"/> <lb n="pba_085.001"/> <lg> <l>Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,</l> <lb n="pba_085.002"/> <l> Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f.</l> </lg> <p><lb n="pba_085.003"/> Aber bei weitem stärker tritt dieser Mangel in dem zweiten, viel <lb n="pba_085.004"/> späteren Gedichte hervor, wenn es dort heißt:</p> <lb n="pba_085.005"/> <lg> <l>So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen,</l> <lb n="pba_085.006"/> <l> Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos</l> <lb n="pba_085.007"/> <l>Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle</l> <lb n="pba_085.008"/> <l> Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung:</l> <lb n="pba_085.009"/> <l>Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze,</l> <lb n="pba_085.010"/> <l> Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.</l> </lg> <p><lb n="pba_085.011"/> Oder weiter unten:</p> <lb n="pba_085.012"/> <lg> <l>Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern</l> <lb n="pba_085.013"/> <l> Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,</l> <lb n="pba_085.014"/> <l>Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter</l> <lb n="pba_085.015"/> <l> Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf;</l> <lb n="pba_085.016"/> <l>Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne</l> <lb n="pba_085.017"/> <l> Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.</l> </lg> <p><lb n="pba_085.018"/> Das ist metrische Prosa und es ist, immer nur die einzelne Stelle <lb n="pba_085.019"/> angesehen und in allem Uebrigen ohne Vergleichung, kein Grund, warum <lb n="pba_085.020"/> man derartige Verse nicht einem erneuerten <hi rendition="#g">Brockes</hi> zuschreiben sollte. <lb n="pba_085.021"/> Aber nun der ungeheure Unterschied! Während jenes bänderreiche Reimereien <lb n="pba_085.022"/> immer nur auf ein und denselben mattherzigen und gedankenarmen, <lb n="pba_085.023"/> teleologischen Schluß hinauslaufen, dient bei Goethe die nüchterne Betrachtung <lb n="pba_085.024"/> nur als Grundlage fürs erste einer tiefsinnigen Hypothese und <lb n="pba_085.025"/> dann, indem vom Einzelnen immer ins Ganze und Allgemeine fortgeschritten <lb n="pba_085.026"/> wird, eines Gesamtaufschwunges, bei welchem die ganze Macht <lb n="pba_085.027"/> jenes universellen Gedankens über die ethischen Stimmungen der Seele <lb n="pba_085.028"/> zur Entfaltung gelangt. <hi rendition="#g">Erst hierin</hi> liegt die künstlerische Berechtigung <lb n="pba_085.029"/> jener Stoffe. Diese poetische Beseelung der Anschauungen und des <lb n="pba_085.030"/> Denkens tritt mit erhöhter Wärme und Wirkungskraft in der „Metamorphose <lb n="pba_085.031"/> der Pflanzen“ auf, wo, nach echt Goethescher Weise, von Anfang <lb n="pba_085.032"/> bis zu Ende eine innige <hi rendition="#g">persönliche</hi> Beziehung obwaltet, während <lb n="pba_085.033"/> das Fehlen dieses wesentlichen Momentes in der „Metamorphose der <lb n="pba_085.034"/> Tiere“ die unleugbare Mattheit dieser Dichtung offenbar mit verschuldet. <lb n="pba_085.035"/> Auch in der äußeren Form tritt dieser Unterschied der beiden Gedichte <lb n="pba_085.036"/> hervor; es ist kein Zufall, daß jenes in dem belebteren elegischen <lb n="pba_085.037"/> Maße sich bewegt, und dieses mit dem gleichförmigen Hexameter sich <lb n="pba_085.038"/> begnügte.</p> <p><lb n="pba_085.039"/> So möchte man sagen, daß auf diesem einen Gebiete der Reflexionsdichtung <lb n="pba_085.040"/> Goethe bei weitem zurückstehen müsse, am meisten gegen Schiller, </p> </div> </body> </text> </TEI> [85/0103]
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Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, pba_085.002
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f.
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Aber bei weitem stärker tritt dieser Mangel in dem zweiten, viel pba_085.004
späteren Gedichte hervor, wenn es dort heißt:
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So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen, pba_085.006
Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos pba_085.007
Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle pba_085.008
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung: pba_085.009
Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze, pba_085.010
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.
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Oder weiter unten:
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Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern pba_085.013
Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, pba_085.014
Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter pba_085.015
Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; pba_085.016
Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne pba_085.017
Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.
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Das ist metrische Prosa und es ist, immer nur die einzelne Stelle pba_085.019
angesehen und in allem Uebrigen ohne Vergleichung, kein Grund, warum pba_085.020
man derartige Verse nicht einem erneuerten Brockes zuschreiben sollte. pba_085.021
Aber nun der ungeheure Unterschied! Während jenes bänderreiche Reimereien pba_085.022
immer nur auf ein und denselben mattherzigen und gedankenarmen, pba_085.023
teleologischen Schluß hinauslaufen, dient bei Goethe die nüchterne Betrachtung pba_085.024
nur als Grundlage fürs erste einer tiefsinnigen Hypothese und pba_085.025
dann, indem vom Einzelnen immer ins Ganze und Allgemeine fortgeschritten pba_085.026
wird, eines Gesamtaufschwunges, bei welchem die ganze Macht pba_085.027
jenes universellen Gedankens über die ethischen Stimmungen der Seele pba_085.028
zur Entfaltung gelangt. Erst hierin liegt die künstlerische Berechtigung pba_085.029
jener Stoffe. Diese poetische Beseelung der Anschauungen und des pba_085.030
Denkens tritt mit erhöhter Wärme und Wirkungskraft in der „Metamorphose pba_085.031
der Pflanzen“ auf, wo, nach echt Goethescher Weise, von Anfang pba_085.032
bis zu Ende eine innige persönliche Beziehung obwaltet, während pba_085.033
das Fehlen dieses wesentlichen Momentes in der „Metamorphose der pba_085.034
Tiere“ die unleugbare Mattheit dieser Dichtung offenbar mit verschuldet. pba_085.035
Auch in der äußeren Form tritt dieser Unterschied der beiden Gedichte pba_085.036
hervor; es ist kein Zufall, daß jenes in dem belebteren elegischen pba_085.037
Maße sich bewegt, und dieses mit dem gleichförmigen Hexameter sich pba_085.038
begnügte.
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So möchte man sagen, daß auf diesem einen Gebiete der Reflexionsdichtung pba_085.040
Goethe bei weitem zurückstehen müsse, am meisten gegen Schiller,
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