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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, pba_085.002
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f.

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Aber bei weitem stärker tritt dieser Mangel in dem zweiten, viel pba_085.004
späteren Gedichte hervor, wenn es dort heißt:

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So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen, pba_085.006
Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos pba_085.007
Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle pba_085.008
Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung: pba_085.009
Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze, pba_085.010
Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.

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Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern pba_085.013
Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, pba_085.014
Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter pba_085.015
Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; pba_085.016
Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne pba_085.017
Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.

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Das ist metrische Prosa und es ist, immer nur die einzelne Stelle pba_085.019
angesehen und in allem Uebrigen ohne Vergleichung, kein Grund, warum pba_085.020
man derartige Verse nicht einem erneuerten Brockes zuschreiben sollte. pba_085.021
Aber nun der ungeheure Unterschied! Während jenes bänderreiche Reimereien pba_085.022
immer nur auf ein und denselben mattherzigen und gedankenarmen, pba_085.023
teleologischen Schluß hinauslaufen, dient bei Goethe die nüchterne Betrachtung pba_085.024
nur als Grundlage fürs erste einer tiefsinnigen Hypothese und pba_085.025
dann, indem vom Einzelnen immer ins Ganze und Allgemeine fortgeschritten pba_085.026
wird, eines Gesamtaufschwunges, bei welchem die ganze Macht pba_085.027
jenes universellen Gedankens über die ethischen Stimmungen der Seele pba_085.028
zur Entfaltung gelangt. Erst hierin liegt die künstlerische Berechtigung pba_085.029
jener Stoffe. Diese poetische Beseelung der Anschauungen und des pba_085.030
Denkens tritt mit erhöhter Wärme und Wirkungskraft in der "Metamorphose pba_085.031
der Pflanzen" auf, wo, nach echt Goethescher Weise, von Anfang pba_085.032
bis zu Ende eine innige persönliche Beziehung obwaltet, während pba_085.033
das Fehlen dieses wesentlichen Momentes in der "Metamorphose der pba_085.034
Tiere" die unleugbare Mattheit dieser Dichtung offenbar mit verschuldet. pba_085.035
Auch in der äußeren Form tritt dieser Unterschied der beiden Gedichte pba_085.036
hervor; es ist kein Zufall, daß jenes in dem belebteren elegischen pba_085.037
Maße sich bewegt, und dieses mit dem gleichförmigen Hexameter sich pba_085.038
begnügte.

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So möchte man sagen, daß auf diesem einen Gebiete der Reflexionsdichtung pba_085.040
Goethe bei weitem zurückstehen müsse, am meisten gegen Schiller,

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Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, pba_085.002
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f.

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Aber bei weitem stärker tritt dieser Mangel in dem zweiten, viel pba_085.004
späteren Gedichte hervor, wenn es dort heißt:

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So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen, pba_085.006
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Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.

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Oder weiter unten:

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Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern pba_085.013
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Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; pba_085.016
Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne pba_085.017
Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.

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Das ist metrische Prosa und es ist, immer nur die einzelne Stelle pba_085.019
angesehen und in allem Uebrigen ohne Vergleichung, kein Grund, warum pba_085.020
man derartige Verse nicht einem erneuerten Brockes zuschreiben sollte. pba_085.021
Aber nun der ungeheure Unterschied! Während jenes bänderreiche Reimereien pba_085.022
immer nur auf ein und denselben mattherzigen und gedankenarmen, pba_085.023
teleologischen Schluß hinauslaufen, dient bei Goethe die nüchterne Betrachtung pba_085.024
nur als Grundlage fürs erste einer tiefsinnigen Hypothese und pba_085.025
dann, indem vom Einzelnen immer ins Ganze und Allgemeine fortgeschritten pba_085.026
wird, eines Gesamtaufschwunges, bei welchem die ganze Macht pba_085.027
jenes universellen Gedankens über die ethischen Stimmungen der Seele pba_085.028
zur Entfaltung gelangt. Erst hierin liegt die künstlerische Berechtigung pba_085.029
jener Stoffe. Diese poetische Beseelung der Anschauungen und des pba_085.030
Denkens tritt mit erhöhter Wärme und Wirkungskraft in der „Metamorphose pba_085.031
der Pflanzen“ auf, wo, nach echt Goethescher Weise, von Anfang pba_085.032
bis zu Ende eine innige persönliche Beziehung obwaltet, während pba_085.033
das Fehlen dieses wesentlichen Momentes in der „Metamorphose der pba_085.034
Tiere“ die unleugbare Mattheit dieser Dichtung offenbar mit verschuldet. pba_085.035
Auch in der äußeren Form tritt dieser Unterschied der beiden Gedichte pba_085.036
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/103>, abgerufen am 23.11.2024.