pba_082.001 das Mittelalter sie so massenhaft hervorgebracht hat, und welche Chaucerpba_082.002 in seinen Canterbury-Tales so geistreich verspottet;1 sie alle machen pba_082.003 das Mittel zum Zweck und verfehlen damit den Zweck der Nachahmung.
pba_082.004 Aber freilich, das technische Gesetz, dem alle poetische Darstellung pba_082.005 unterworfen ist, herrscht nun auch über die Anwendung dieses Mittels. pba_082.006 Dieses Gesetz besteht darin, daß nur die Aeußerung psychischen Lebens, pba_082.007 oder doch, was als solche dargestellt und aufgefaßt werden kann, imstande pba_082.008 ist wiederum psychische Bewegungen, welche der künstlerischen Nachahmung pba_082.009 würdig sind, zu erzeugen. Daß hierzu Berichte von Zuständen pba_082.010 und Begebnissen des bewegten Lebens, Erzählungen von Handlungen pba_082.011 und Situationen beseelter oder als beseelt vorgestellter Wesen technisch pba_082.012 am geeignetsten sind, ist schon oben hervorgehoben worden; ebenso aber pba_082.013 auch, daß die Poesie in diese Grenzen keineswegs mit Notwendigkeit pba_082.014 eingeschränkt ist. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch hier auf dem Gebiete pba_082.015 der Gedanken- oder Reflexionsdichtung, die am allerwenigsten mit pba_082.016 der Vorschrift, Handlungen sollen ihr Gegenstand sein, sich vertragen pba_082.017 kann. Man untersuche daraufhin Gedichte wie Schillers "Die Worte pba_082.018 des Glaubens," "Die Worte des Wahns," "Sprüche des Confucius," pba_082.019 "Der Genius," "Natur und Schule," "An die Freunde," ja selbst solche pba_082.020 wie "Das Jdeal und das Leben," "Das Glück" und viele ähnliche, in pba_082.021 denen auch nicht eine Spur von Handlung oder selbst zeitlicher Succession pba_082.022 des Objektes der Darstellung sich nachweisen läßt. Sie enthalten pba_082.023 vielfach den Ausdruck des Gedankens ganz geradehin und unmittelbar, pba_082.024 nur getragen durch das Ethos hocherhobener Begeisterung, welche er erweckt, pba_082.025 so daß er gleichsam aufgelöst ist in Stimmung und ganz übergegangen pba_082.026 in das lyrische Element. Gerade solche Strophen sind die populärsten pba_082.027 geworden, wie z. B. in den "Worten des Glaubens":
pba_082.028
Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,pba_082.029 Und wär' er in Ketten geboren,pba_082.030 Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,pba_082.031 Nicht den Mißbrauch rasender Thoren!pba_082.032 Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,pba_082.033 Vor dem freien Menschen erzittert nicht!
pba_082.034
Oder die Schlußstrophe des herrlichen Liedes: "An die Freunde":
pba_082.035
Größ'res mag sich anderswo begeben,pba_082.036 Als bei uns in unserm kleinen Leben;pba_082.037 Neues -- hat die Sonne nie gesehn.
1pba_082.038 Vgl. "Das Reimgedicht vom Herrn Thopas": Geoffrey Chaucerspba_082.039 Canterbury-Geschichten, übers. von W. Hertzberg. (Hildburghausen 1866.) S. 463 ff.
pba_082.001 das Mittelalter sie so massenhaft hervorgebracht hat, und welche Chaucerpba_082.002 in seinen Canterbury-Tales so geistreich verspottet;1 sie alle machen pba_082.003 das Mittel zum Zweck und verfehlen damit den Zweck der Nachahmung.
pba_082.004 Aber freilich, das technische Gesetz, dem alle poetische Darstellung pba_082.005 unterworfen ist, herrscht nun auch über die Anwendung dieses Mittels. pba_082.006 Dieses Gesetz besteht darin, daß nur die Aeußerung psychischen Lebens, pba_082.007 oder doch, was als solche dargestellt und aufgefaßt werden kann, imstande pba_082.008 ist wiederum psychische Bewegungen, welche der künstlerischen Nachahmung pba_082.009 würdig sind, zu erzeugen. Daß hierzu Berichte von Zuständen pba_082.010 und Begebnissen des bewegten Lebens, Erzählungen von Handlungen pba_082.011 und Situationen beseelter oder als beseelt vorgestellter Wesen technisch pba_082.012 am geeignetsten sind, ist schon oben hervorgehoben worden; ebenso aber pba_082.013 auch, daß die Poesie in diese Grenzen keineswegs mit Notwendigkeit pba_082.014 eingeschränkt ist. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch hier auf dem Gebiete pba_082.015 der Gedanken- oder Reflexionsdichtung, die am allerwenigsten mit pba_082.016 der Vorschrift, Handlungen sollen ihr Gegenstand sein, sich vertragen pba_082.017 kann. Man untersuche daraufhin Gedichte wie Schillers „Die Worte pba_082.018 des Glaubens,“ „Die Worte des Wahns,“ „Sprüche des Confucius,“ pba_082.019 „Der Genius,“ „Natur und Schule,“ „An die Freunde,“ ja selbst solche pba_082.020 wie „Das Jdeal und das Leben,“ „Das Glück“ und viele ähnliche, in pba_082.021 denen auch nicht eine Spur von Handlung oder selbst zeitlicher Succession pba_082.022 des Objektes der Darstellung sich nachweisen läßt. Sie enthalten pba_082.023 vielfach den Ausdruck des Gedankens ganz geradehin und unmittelbar, pba_082.024 nur getragen durch das Ethos hocherhobener Begeisterung, welche er erweckt, pba_082.025 so daß er gleichsam aufgelöst ist in Stimmung und ganz übergegangen pba_082.026 in das lyrische Element. Gerade solche Strophen sind die populärsten pba_082.027 geworden, wie z. B. in den „Worten des Glaubens“:
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Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,pba_082.029 Und wär' er in Ketten geboren,pba_082.030 Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,pba_082.031 Nicht den Mißbrauch rasender Thoren!pba_082.032 Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,pba_082.033 Vor dem freien Menschen erzittert nicht!
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Oder die Schlußstrophe des herrlichen Liedes: „An die Freunde“:
pba_082.035
Größ'res mag sich anderswo begeben,pba_082.036 Als bei uns in unserm kleinen Leben;pba_082.037 Neues — hat die Sonne nie gesehn.
1pba_082.038 Vgl. „Das Reimgedicht vom Herrn Thopas“: Geoffrey Chaucerspba_082.039 Canterbury-Geschichten, übers. von W. Hertzberg. (Hildburghausen 1866.) S. 463 ff.
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das Mittelalter sie so massenhaft hervorgebracht hat, und welche Chaucer pba_082.002
in seinen Canterbury-Tales so geistreich verspottet; 1 sie alle machen pba_082.003
das Mittel zum Zweck und verfehlen damit den Zweck der Nachahmung.
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Aber freilich, das technische Gesetz, dem alle poetische Darstellung pba_082.005
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pba_082.035
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1 pba_082.038
Vgl. „Das Reimgedicht vom Herrn Thopas“: Geoffrey Chaucers pba_082.039
Canterbury-Geschichten, übers. von W. Hertzberg. (Hildburghausen 1866.) S. 463 ff.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/100>, abgerufen am 09.11.2024.
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