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Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871.

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lichsten Knoten im hohen weißen Halstuch, und die
Gräfin hatte zur Feier des Abends einige Dutzend Tüll¬
rüschen mehr um ihr altes Gesichtchen zittern.

Hinreißend las Tieck seinen Fortunat, Octavian, die
Genovefa, den gestiefelten Kater und vor allen den Blau¬
bart vor. Der war besonders der Liebling, das Ent¬
zücken der Gräfin Finkenstein, und wie ein Kind freute
sie sich immer auf den Hauptmoment -- den größten
Effekt, den wohl je ein einziges Wort erzielt hat. Es
ist die Szene, wo Agnes, des Blaubart's Frau, mit
Angst die Heimkehr des Tyrannen erwartet, denn sie
hat sein Gebot übertreten und einen Blutfleck am gol¬
denen Schlüssel. Die alte Magd Mechtilde erzählt
den Schwestern ein Märchen, ihre Unruhe einzulullen ...
"Es wohnte ein Förster in einem dicken, dicken Walde ...
Einen Tag in der Woche verbietet der Vater den Kindern
aus der Hütte zu gehen. Da der Vater weg ist, wagt
es dennoch das Mädchen. Nicht weit vom Hause lag
ein grauer, stillstehender See. Das Mädchen setzt sich
an den See und indem sie hinein sieht, ist es ihr, als
wenn ihr fremde bärtige Gesichter entgegenschauen; da
fangen die Bäume an zu rauschen, da ist es, als wenn
es in der Ferne gehe, da kocht das Wasser und wird
schwarz und immer schwärzer -- mit einem Mal, siehe,
springt es in der trüben Woge wie Fischlein oder Frösche,
und drei blutige, ganz blutige Hände tauchen hervor und
weisen mit dem rothen Zeigefinger nach dem Mädchen
hin ..."

Erinnerungen etc. 26

lichſten Knoten im hohen weißen Halstuch, und die
Gräfin hatte zur Feier des Abends einige Dutzend Tüll¬
rüſchen mehr um ihr altes Geſichtchen zittern.

Hinreißend las Tieck ſeinen Fortunat, Octavian, die
Genovefa, den geſtiefelten Kater und vor allen den Blau¬
bart vor. Der war beſonders der Liebling, das Ent¬
zücken der Gräfin Finkenſtein, und wie ein Kind freute
ſie ſich immer auf den Hauptmoment — den größten
Effekt, den wohl je ein einziges Wort erzielt hat. Es
iſt die Szene, wo Agnes, des Blaubart's Frau, mit
Angſt die Heimkehr des Tyrannen erwartet, denn ſie
hat ſein Gebot übertreten und einen Blutfleck am gol¬
denen Schlüſſel. Die alte Magd Mechtilde erzählt
den Schweſtern ein Märchen, ihre Unruhe einzulullen …
»Es wohnte ein Förſter in einem dicken, dicken Walde …
Einen Tag in der Woche verbietet der Vater den Kindern
aus der Hütte zu gehen. Da der Vater weg iſt, wagt
es dennoch das Mädchen. Nicht weit vom Hauſe lag
ein grauer, ſtillſtehender See. Das Mädchen ſetzt ſich
an den See und indem ſie hinein ſieht, iſt es ihr, als
wenn ihr fremde bärtige Geſichter entgegenſchauen; da
fangen die Bäume an zu rauſchen, da iſt es, als wenn
es in der Ferne gehe, da kocht das Waſſer und wird
ſchwarz und immer ſchwärzer — mit einem Mal, ſiehe,
ſpringt es in der trüben Woge wie Fiſchlein oder Fröſche,
und drei blutige, ganz blutige Hände tauchen hervor und
weiſen mit dem rothen Zeigefinger nach dem Mädchen
hin …«

Erinnerungen ꝛc. 26
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[401/0429] lichſten Knoten im hohen weißen Halstuch, und die Gräfin hatte zur Feier des Abends einige Dutzend Tüll¬ rüſchen mehr um ihr altes Geſichtchen zittern. Hinreißend las Tieck ſeinen Fortunat, Octavian, die Genovefa, den geſtiefelten Kater und vor allen den Blau¬ bart vor. Der war beſonders der Liebling, das Ent¬ zücken der Gräfin Finkenſtein, und wie ein Kind freute ſie ſich immer auf den Hauptmoment — den größten Effekt, den wohl je ein einziges Wort erzielt hat. Es iſt die Szene, wo Agnes, des Blaubart's Frau, mit Angſt die Heimkehr des Tyrannen erwartet, denn ſie hat ſein Gebot übertreten und einen Blutfleck am gol¬ denen Schlüſſel. Die alte Magd Mechtilde erzählt den Schweſtern ein Märchen, ihre Unruhe einzulullen … »Es wohnte ein Förſter in einem dicken, dicken Walde … Einen Tag in der Woche verbietet der Vater den Kindern aus der Hütte zu gehen. Da der Vater weg iſt, wagt es dennoch das Mädchen. Nicht weit vom Hauſe lag ein grauer, ſtillſtehender See. Das Mädchen ſetzt ſich an den See und indem ſie hinein ſieht, iſt es ihr, als wenn ihr fremde bärtige Geſichter entgegenſchauen; da fangen die Bäume an zu rauſchen, da iſt es, als wenn es in der Ferne gehe, da kocht das Waſſer und wird ſchwarz und immer ſchwärzer — mit einem Mal, ſiehe, ſpringt es in der trüben Woge wie Fiſchlein oder Fröſche, und drei blutige, ganz blutige Hände tauchen hervor und weiſen mit dem rothen Zeigefinger nach dem Mädchen hin …« Erinnerungen ꝛc. 26

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Zitationshilfe: Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871/429>, abgerufen am 22.11.2024.