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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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greifend, als die complicirten Ornamente der Cultur. Wäh-
rend jetzt die Lecture eine fast unmögliche scheint (und eben
auch nur für den speciellen Fachmann bestimmt sein kann,
der seine ganze Zeit darauf zu wenden beabsichtigt), wird
sie sich schliesslich zu einer der anziehendsten und mühe-
losesten gestalten, dann (wenn es sich um Ableitung oder
Erklärung socialer oder religiöser Institutionen handelt) wer-
den wir nicht länger dem Verfasser durch Folioseiten seiner
dicken Bände hindurch, in den Labyrinthen schwankender Ge-
dankenwanderungen zu folgen haben, wo wir jeden Augenblick
in Gefahr gerathen, durch absichtliche oder unabsichtliche Zu-
fügung subjectiver Färbung aus der Individualität irre ge-
führt zu werden, sondern dann werden die Facta realistischer
Bilder in ihrer Zusammenreihung selbst sprechen und alles
dem darlegen, der einige Worte zwischen den Zeilen zu lesen
gelernt hat. Freilich aber wird das bisher innerhalb eines eng
umschriebenen Horizonte's an ästhetischen Gestaltungen er-
zogene Auge, sich erst adoptiren müssen an solch neue Per-
spectiven, durch optische Reformen sich an ihre Auffassung
gewöhnen.

Vorläufig bei dem Drängenden der Zeit, -- ehe das letzte
verschwunden ist, aufzuraffen, was noch übrig, -- kann nicht
an Politur der Einzelnheiten gedacht werden, am Wenigsten
jetzt bereits, wo selbst nicht einmal die Oberfläche das Terrain,
auch nur in einfachster Pionier-Arbeit, überschaut ist, wo also
noch jeden Augenblick Thatsachen durchgreifendster Art her-
vortreten mögen, die uns zwingen, dass auch sie Beachtung
verlangen, auch sie ihre Werthaufnahme in die Rechnungen,
weil diese sonst im Voraus für ihre Consequenz-Ziehung in
den Resultaten als falsch erklärt werden müssten.

Zunächst kann es sich nur um die Materialsammlungen
selbst handeln, ähnlich denen bei Beginn der Seefahrten*) in

*) In den Kräuterbüchern mehrte sich mit den Geographischen Ent-
deckungen die Ansammlung der Beobachtungen und "die Thatsachen der
natürlichen Verwandtschaft drängten sich von selbst und ungesucht den

greifend, als die complicirten Ornamente der Cultur. Wäh-
rend jetzt die Lecture eine fast unmögliche scheint (und eben
auch nur für den speciellen Fachmann bestimmt sein kann,
der seine ganze Zeit darauf zu wenden beabsichtigt), wird
sie sich schliesslich zu einer der anziehendsten und mühe-
losesten gestalten, dann (wenn es sich um Ableitung oder
Erklärung socialer oder religiöser Institutionen handelt) wer-
den wir nicht länger dem Verfasser durch Folioseiten seiner
dicken Bände hindurch, in den Labyrinthen schwankender Ge-
dankenwanderungen zu folgen haben, wo wir jeden Augenblick
in Gefahr gerathen, durch absichtliche oder unabsichtliche Zu-
fügung subjectiver Färbung aus der Individualität irre ge-
führt zu werden, sondern dann werden die Facta realistischer
Bilder in ihrer Zusammenreihung selbst sprechen und alles
dem darlegen, der einige Worte zwischen den Zeilen zu lesen
gelernt hat. Freilich aber wird das bisher innerhalb eines eng
umschriebenen Horizonte’s an ästhetischen Gestaltungen er-
zogene Auge, sich erst adoptiren müssen an solch neue Per-
spectiven, durch optische Reformen sich an ihre Auffassung
gewöhnen.

Vorläufig bei dem Drängenden der Zeit, — ehe das letzte
verschwunden ist, aufzuraffen, was noch übrig, — kann nicht
an Politur der Einzelnheiten gedacht werden, am Wenigsten
jetzt bereits, wo selbst nicht einmal die Oberfläche das Terrain,
auch nur in einfachster Pionier-Arbeit, überschaut ist, wo also
noch jeden Augenblick Thatsachen durchgreifendster Art her-
vortreten mögen, die uns zwingen, dass auch sie Beachtung
verlangen, auch sie ihre Werthaufnahme in die Rechnungen,
weil diese sonst im Voraus für ihre Consequenz-Ziehung in
den Resultaten als falsch erklärt werden müssten.

Zunächst kann es sich nur um die Materialsammlungen
selbst handeln, ähnlich denen bei Beginn der Seefahrten*) in

*) In den Kräuterbüchern mehrte sich mit den Geographischen Ent-
deckungen die Ansammlung der Beobachtungen und „die Thatsachen der
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[86/0120] greifend, als die complicirten Ornamente der Cultur. Wäh- rend jetzt die Lecture eine fast unmögliche scheint (und eben auch nur für den speciellen Fachmann bestimmt sein kann, der seine ganze Zeit darauf zu wenden beabsichtigt), wird sie sich schliesslich zu einer der anziehendsten und mühe- losesten gestalten, dann (wenn es sich um Ableitung oder Erklärung socialer oder religiöser Institutionen handelt) wer- den wir nicht länger dem Verfasser durch Folioseiten seiner dicken Bände hindurch, in den Labyrinthen schwankender Ge- dankenwanderungen zu folgen haben, wo wir jeden Augenblick in Gefahr gerathen, durch absichtliche oder unabsichtliche Zu- fügung subjectiver Färbung aus der Individualität irre ge- führt zu werden, sondern dann werden die Facta realistischer Bilder in ihrer Zusammenreihung selbst sprechen und alles dem darlegen, der einige Worte zwischen den Zeilen zu lesen gelernt hat. Freilich aber wird das bisher innerhalb eines eng umschriebenen Horizonte’s an ästhetischen Gestaltungen er- zogene Auge, sich erst adoptiren müssen an solch neue Per- spectiven, durch optische Reformen sich an ihre Auffassung gewöhnen. Vorläufig bei dem Drängenden der Zeit, — ehe das letzte verschwunden ist, aufzuraffen, was noch übrig, — kann nicht an Politur der Einzelnheiten gedacht werden, am Wenigsten jetzt bereits, wo selbst nicht einmal die Oberfläche das Terrain, auch nur in einfachster Pionier-Arbeit, überschaut ist, wo also noch jeden Augenblick Thatsachen durchgreifendster Art her- vortreten mögen, die uns zwingen, dass auch sie Beachtung verlangen, auch sie ihre Werthaufnahme in die Rechnungen, weil diese sonst im Voraus für ihre Consequenz-Ziehung in den Resultaten als falsch erklärt werden müssten. Zunächst kann es sich nur um die Materialsammlungen selbst handeln, ähnlich denen bei Beginn der Seefahrten *) in *) In den Kräuterbüchern mehrte sich mit den Geographischen Ent- deckungen die Ansammlung der Beobachtungen und „die Thatsachen der natürlichen Verwandtschaft drängten sich von selbst und ungesucht den

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/120>, abgerufen am 18.05.2024.