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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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den Vorzug, sich frei halten zu können von den Gefahren
nebliger Umstrickung, die bei Speculationen über den ma-
terialistischen Ursprung auch den Nüchternsten bedrohen
müssen. Sie beginnt mit dem Menschen als deutlich um-
schriebenes Object im Gesellschaftszustand, für den ersten
Ansatz bereits im vollen Tageslicht, und dieses klärt sich
dann lichter und glänzender, beim Aufsteigen zu den freieren
Aether-Regionen des Denkens, von dem primitiven Anfange
der Naturstämme bis zu den höchsten Idealen der Cultur.

In der Scholastik (auch der botanischen künstlicher
Systeme) besteht die geistige Arbeit "ganz wesentlich in dem
Drehen und Wenden der Thatsachen", um sich dem "fertigen
Gedankensystem" zu fügen, so dass "Erfahrung im Sinn der
Naturforschung" dadurch unmöglich gemacht wird, und statt
im scholastischen "Spiel mit abstracten Begriffen" vorhandene
Widersprüche zu verdecken, "geht die echte Forschung gerade
darauf aus, etwa vorhandene Widersprüche schonungslos
aufzudecken und die Thatsachen so lange zu befragen5), bis
die Begriffe sich berichtigen" (s. Sachs). So also auch, wie
oft erwähnt, in der Ethnologie als Naturwissenschaft.

Thatsachen sind zu sammeln6), nicht durch Speculation
zu schaffen (nach Baco), denn der Mensch, als "Dolmetscher"
und Diener der Natur kann nur durch Beobachtung in der
Induction die Wahrheit erlangen. "Wir haben die Seelen-
lehre vor Allem zu betrachten, als eine Wissenschaft der
Erfahrung" (Wundt), und um inductiv vom Einzelnen zum
Allgemeinen aufbauen zu können, muss vorher das Bau-
material selbst beschafft sein. Unter Theilung der Arbeit,
und Ausverfolgung des genetischen Prinzip's (im Aufsteigen
von Niederen und Einfachen zum höher Zusammengesetzten),
wird es der Völkerkunde aufliegen, ihr massenhaftes Material
zu bewältigen.

Nägeli (s. Sachs) knüpfte die morphologischen Unter-
suchungen möglichst an die niederen Kryptogamen an, um
sie an den höheren und an den Phanerogamen weiter zu

den Vorzug, sich frei halten zu können von den Gefahren
nebliger Umstrickung, die bei Speculationen über den ma-
terialistischen Ursprung auch den Nüchternsten bedrohen
müssen. Sie beginnt mit dem Menschen als deutlich um-
schriebenes Object im Gesellschaftszustand, für den ersten
Ansatz bereits im vollen Tageslicht, und dieses klärt sich
dann lichter und glänzender, beim Aufsteigen zu den freieren
Aether-Regionen des Denkens, von dem primitiven Anfange
der Naturstämme bis zu den höchsten Idealen der Cultur.

In der Scholastik (auch der botanischen künstlicher
Systeme) besteht die geistige Arbeit „ganz wesentlich in dem
Drehen und Wenden der Thatsachen“, um sich dem „fertigen
Gedankensystem“ zu fügen, so dass „Erfahrung im Sinn der
Naturforschung“ dadurch unmöglich gemacht wird, und statt
im scholastischen „Spiel mit abstracten Begriffen“ vorhandene
Widersprüche zu verdecken, „geht die echte Forschung gerade
darauf aus, etwa vorhandene Widersprüche schonungslos
aufzudecken und die Thatsachen so lange zu befragen5), bis
die Begriffe sich berichtigen“ (s. Sachs). So also auch, wie
oft erwähnt, in der Ethnologie als Naturwissenschaft.

Thatsachen sind zu sammeln6), nicht durch Speculation
zu schaffen (nach Baco), denn der Mensch, als „Dolmetscher“
und Diener der Natur kann nur durch Beobachtung in der
Induction die Wahrheit erlangen. „Wir haben die Seelen-
lehre vor Allem zu betrachten, als eine Wissenschaft der
Erfahrung“ (Wundt), und um inductiv vom Einzelnen zum
Allgemeinen aufbauen zu können, muss vorher das Bau-
material selbst beschafft sein. Unter Theilung der Arbeit,
und Ausverfolgung des genetischen Prinzip’s (im Aufsteigen
von Niederen und Einfachen zum höher Zusammengesetzten),
wird es der Völkerkunde aufliegen, ihr massenhaftes Material
zu bewältigen.

Nägeli (s. Sachs) knüpfte die morphologischen Unter-
suchungen möglichst an die niederen Kryptogamen an, um
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[VI/0012] den Vorzug, sich frei halten zu können von den Gefahren nebliger Umstrickung, die bei Speculationen über den ma- terialistischen Ursprung auch den Nüchternsten bedrohen müssen. Sie beginnt mit dem Menschen als deutlich um- schriebenes Object im Gesellschaftszustand, für den ersten Ansatz bereits im vollen Tageslicht, und dieses klärt sich dann lichter und glänzender, beim Aufsteigen zu den freieren Aether-Regionen des Denkens, von dem primitiven Anfange der Naturstämme bis zu den höchsten Idealen der Cultur. In der Scholastik (auch der botanischen künstlicher Systeme) besteht die geistige Arbeit „ganz wesentlich in dem Drehen und Wenden der Thatsachen“, um sich dem „fertigen Gedankensystem“ zu fügen, so dass „Erfahrung im Sinn der Naturforschung“ dadurch unmöglich gemacht wird, und statt im scholastischen „Spiel mit abstracten Begriffen“ vorhandene Widersprüche zu verdecken, „geht die echte Forschung gerade darauf aus, etwa vorhandene Widersprüche schonungslos aufzudecken und die Thatsachen so lange zu befragen ⁵⁾ , bis die Begriffe sich berichtigen“ (s. Sachs). So also auch, wie oft erwähnt, in der Ethnologie als Naturwissenschaft. Thatsachen sind zu sammeln ⁶⁾ , nicht durch Speculation zu schaffen (nach Baco), denn der Mensch, als „Dolmetscher“ und Diener der Natur kann nur durch Beobachtung in der Induction die Wahrheit erlangen. „Wir haben die Seelen- lehre vor Allem zu betrachten, als eine Wissenschaft der Erfahrung“ (Wundt), und um inductiv vom Einzelnen zum Allgemeinen aufbauen zu können, muss vorher das Bau- material selbst beschafft sein. Unter Theilung der Arbeit, und Ausverfolgung des genetischen Prinzip’s (im Aufsteigen von Niederen und Einfachen zum höher Zusammengesetzten), wird es der Völkerkunde aufliegen, ihr massenhaftes Material zu bewältigen. Nägeli (s. Sachs) knüpfte die morphologischen Unter- suchungen möglichst an die niederen Kryptogamen an, um sie an den höheren und an den Phanerogamen weiter zu

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/12>, abgerufen am 21.11.2024.