gewicht gegen den Skrupel, "nichts anderes ist als das Gefühl der Menschenwürde; dieser edelste Stolz, dieses innerste Seelenbedürfnis: überall als ein mit Einsicht und Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht kommt" 107).
Die Welt weiss heute, dass das Drängen des General- stabschefs Moltke bei jener denkwürdigen Versammlung in Potsdam es war, das zur Auslösung des Weltkrieges führte. Noch Bismarck hatte die Kraft, dem Generalstab, vertreten durch jenen ersten Moltke, ein Paroli zu bieten 108). Heute gibt es keine Bismarcks mehr. 1914 erlag die Diplomatie der Militärgewalt. Der Generalstab, der den Krieg begonnen hat, sucht ihn seit vier Jahren vergebens auch zu gewinnen; weil er infolge seiner Kriegsschuld gehalten ist, lorbeerbekränzt zurückzukommen. Er braucht dazu Soldaten, immer mehr Soldaten, also annektiert er Gebiet. Das ist das Geheimnis preussischer Politik.
Seit Clausewitz wird auch die deutsche Moral vom Generalstab gemacht. Wird die Nation das noch lange mitansehen? Sind wir so tief gesunken, dass wir kein Gefühl mehr haben für dialektische Ungeheuer; dass es nicht Offiziere mehr gibt, deren Ehre hier schaudert? Der Staat ist ein praktisches, also inferiores Institut. Der General- stab aber ist eine unerbetene, nihilistische Philosophie.
Wird niemand mehr schamrot, wenn ich sage, dass diese Sätze im Ausland gelesen werden? Die Souveränität des Staates über den Menschen und Bürger ist soweit gediehen, dass heute ein Stand, dessen Vorname Rüpel gewesen, der Nation Gesittung dozieren darf 109)? Ist es dahin ge- kommen, dass Beamte, die ihre Pflicht tun, weil ihre untergeordneten Fähigkeiten darin ihre Rechtfertigung finden, sich anmassen, Religion und Philosophie zu traktieren? Ist es dahin gekommen, dass Priester, Künstler und Philosoph
gewicht gegen den Skrupel, „nichts anderes ist als das Gefühl der Menschenwürde; dieser edelste Stolz, dieses innerste Seelenbedürfnis: überall als ein mit Einsicht und Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht kommt“ 107).
Die Welt weiss heute, dass das Drängen des General- stabschefs Moltke bei jener denkwürdigen Versammlung in Potsdam es war, das zur Auslösung des Weltkrieges führte. Noch Bismarck hatte die Kraft, dem Generalstab, vertreten durch jenen ersten Moltke, ein Paroli zu bieten 108). Heute gibt es keine Bismarcks mehr. 1914 erlag die Diplomatie der Militärgewalt. Der Generalstab, der den Krieg begonnen hat, sucht ihn seit vier Jahren vergebens auch zu gewinnen; weil er infolge seiner Kriegsschuld gehalten ist, lorbeerbekränzt zurückzukommen. Er braucht dazu Soldaten, immer mehr Soldaten, also annektiert er Gebiet. Das ist das Geheimnis preussischer Politik.
Seit Clausewitz wird auch die deutsche Moral vom Generalstab gemacht. Wird die Nation das noch lange mitansehen? Sind wir so tief gesunken, dass wir kein Gefühl mehr haben für dialektische Ungeheuer; dass es nicht Offiziere mehr gibt, deren Ehre hier schaudert? Der Staat ist ein praktisches, also inferiores Institut. Der General- stab aber ist eine unerbetene, nihilistische Philosophie.
Wird niemand mehr schamrot, wenn ich sage, dass diese Sätze im Ausland gelesen werden? Die Souveränität des Staates über den Menschen und Bürger ist soweit gediehen, dass heute ein Stand, dessen Vorname Rüpel gewesen, der Nation Gesittung dozieren darf 109)? Ist es dahin ge- kommen, dass Beamte, die ihre Pflicht tun, weil ihre untergeordneten Fähigkeiten darin ihre Rechtfertigung finden, sich anmassen, Religion und Philosophie zu traktieren? Ist es dahin gekommen, dass Priester, Künstler und Philosoph
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0099"n="91"/>
gewicht gegen den Skrupel, „nichts anderes ist als das<lb/>
Gefühl der Menschenwürde; dieser edelste Stolz, dieses<lb/>
innerste Seelenbedürfnis: überall als ein mit Einsicht und<lb/>
Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum<lb/>
sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei<lb/>
den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht<lb/>
kommt“<notexml:id="id107b"next="id107b107b"place="end"n="107)"/>.</p><lb/><p>Die Welt weiss heute, dass das Drängen des General-<lb/>
stabschefs Moltke bei jener denkwürdigen Versammlung<lb/>
in Potsdam es war, das zur Auslösung des Weltkrieges<lb/>
führte. Noch Bismarck hatte die Kraft, dem Generalstab,<lb/>
vertreten durch jenen ersten Moltke, ein Paroli zu bieten <notexml:id="id108b"next="id108b108b"place="end"n="108)"/>.<lb/>
Heute gibt es keine Bismarcks mehr. 1914 erlag die<lb/>
Diplomatie der Militärgewalt. Der Generalstab, der den<lb/>
Krieg begonnen hat, sucht ihn seit vier Jahren vergebens<lb/>
auch zu gewinnen; weil er infolge seiner Kriegsschuld<lb/>
gehalten ist, lorbeerbekränzt zurückzukommen. Er braucht<lb/>
dazu Soldaten, immer mehr Soldaten, also annektiert er<lb/>
Gebiet. Das ist das Geheimnis preussischer Politik.</p><lb/><p>Seit Clausewitz wird auch die deutsche Moral vom<lb/>
Generalstab gemacht. Wird die Nation das noch lange<lb/>
mitansehen? Sind wir so tief gesunken, dass wir kein<lb/>
Gefühl mehr haben für dialektische Ungeheuer; dass es<lb/>
nicht Offiziere mehr gibt, deren Ehre hier schaudert? Der<lb/>
Staat ist ein praktisches, also inferiores Institut. Der General-<lb/>
stab aber ist eine unerbetene, nihilistische Philosophie.</p><lb/><p>Wird niemand mehr schamrot, wenn ich sage, dass<lb/>
diese Sätze im Ausland gelesen werden? Die Souveränität<lb/>
des Staates über den Menschen und Bürger ist soweit gediehen,<lb/>
dass heute ein Stand, dessen Vorname Rüpel gewesen,<lb/>
der Nation Gesittung dozieren darf <notexml:id="id109b"next="id109b109b"place="end"n="109)"/>? Ist es dahin ge-<lb/>
kommen, dass Beamte, die ihre Pflicht tun, weil ihre<lb/>
untergeordneten Fähigkeiten darin ihre Rechtfertigung finden,<lb/>
sich anmassen, Religion und Philosophie zu traktieren? Ist<lb/>
es dahin gekommen, dass Priester, Künstler und Philosoph<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[91/0099]
gewicht gegen den Skrupel, „nichts anderes ist als das
Gefühl der Menschenwürde; dieser edelste Stolz, dieses
innerste Seelenbedürfnis: überall als ein mit Einsicht und
Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum
sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei
den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht
kommt“
¹⁰⁷⁾
.
Die Welt weiss heute, dass das Drängen des General-
stabschefs Moltke bei jener denkwürdigen Versammlung
in Potsdam es war, das zur Auslösung des Weltkrieges
führte. Noch Bismarck hatte die Kraft, dem Generalstab,
vertreten durch jenen ersten Moltke, ein Paroli zu bieten
¹⁰⁸⁾
.
Heute gibt es keine Bismarcks mehr. 1914 erlag die
Diplomatie der Militärgewalt. Der Generalstab, der den
Krieg begonnen hat, sucht ihn seit vier Jahren vergebens
auch zu gewinnen; weil er infolge seiner Kriegsschuld
gehalten ist, lorbeerbekränzt zurückzukommen. Er braucht
dazu Soldaten, immer mehr Soldaten, also annektiert er
Gebiet. Das ist das Geheimnis preussischer Politik.
Seit Clausewitz wird auch die deutsche Moral vom
Generalstab gemacht. Wird die Nation das noch lange
mitansehen? Sind wir so tief gesunken, dass wir kein
Gefühl mehr haben für dialektische Ungeheuer; dass es
nicht Offiziere mehr gibt, deren Ehre hier schaudert? Der
Staat ist ein praktisches, also inferiores Institut. Der General-
stab aber ist eine unerbetene, nihilistische Philosophie.
Wird niemand mehr schamrot, wenn ich sage, dass
diese Sätze im Ausland gelesen werden? Die Souveränität
des Staates über den Menschen und Bürger ist soweit gediehen,
dass heute ein Stand, dessen Vorname Rüpel gewesen,
der Nation Gesittung dozieren darf
¹⁰⁹⁾
? Ist es dahin ge-
kommen, dass Beamte, die ihre Pflicht tun, weil ihre
untergeordneten Fähigkeiten darin ihre Rechtfertigung finden,
sich anmassen, Religion und Philosophie zu traktieren? Ist
es dahin gekommen, dass Priester, Künstler und Philosoph
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/99>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.