bräuche in der Kirche: die Simonie, den Ablassverkauf. Das gibt es aber in der Laienregierung auch: Panamaskandale, Ordensschacher. Ein tüchtiger Papst hätte genügt, diese bedauerlichen Inkorrektheiten abzuschaffen. Luther und Calvin, ein Mönch und ein Pfarrer, entsetzliche Menschen, haben mit ihrem Protest nicht gegen die Missbräuche, sondern gegen die Kirche selbst, die Reformation gebracht, und das bedeutete: die Jesuiten, eine Verschärfung des Dogmas und für lange Zeit eine katholische Intoleranz, die derjenigen der Reformierten nichts nachgab."
Führte aber Calvin die Reform in den Staat, so spielte Luther der Despotie ein Volk in die Hände, das keineswegs aller Segnungen und Weihen, die die Kirche zu vergeben hatte, bereits teilhaftig geworden war 67). Zu spät erriet das übrige Europa, was Luthers Stellungnahme im Kampf zwischen Papst und Kaiser bedeutete. Luther kon- servierte die Feudalität, indem er geistige Waffen an sie verriet, mit denen sie heute einen der zynischsten Kämpfe führt, die je eine Welt sah. Luther verhinderte ein grosses reales Freiheitserlebnis von der Art der englischen und französischen Revolution und trägt so die Schuld, dass es in Deutschland noch heute nicht ein nach aussen wirkendes poli- tisches Gewissen gibt. Luthers eigentliche Schöpfung ist "der Gott der Ordnung, der die Obrigkeit eingesetzt hat"; ist die Heiligung des Staates durch die Christlichkeit der Knecht- schaft. Damit verlieh er Regenten und Oberfeuerwerkern das gute Gewissen, machte er die Deutschen zum geflissent- lich reaktionären Volk, zu Hütern der "sittlichen Welt- ordnung" aus Gründen der Theokratie, zu Bekämpfern jeglicher Freiheitsregung aus Gründen eines verruchten, scheelsüchtigen "Gottesbefehls". Res publica wurde Polizei- staat, Aufsichtsstaat, dessen Sendung es ist, vom Nordkap bis Bagdad, von Finnland bis Spanien unter Berufung auf Bibel, Jehova und Jesus zu strafen, zu richten und aufzu- henken. Der moralische Liberalismus, den Luther schuf,
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bräuche in der Kirche: die Simonie, den Ablassverkauf. Das gibt es aber in der Laienregierung auch: Panamaskandale, Ordensschacher. Ein tüchtiger Papst hätte genügt, diese bedauerlichen Inkorrektheiten abzuschaffen. Luther und Calvin, ein Mönch und ein Pfarrer, entsetzliche Menschen, haben mit ihrem Protest nicht gegen die Missbräuche, sondern gegen die Kirche selbst, die Reformation gebracht, und das bedeutete: die Jesuiten, eine Verschärfung des Dogmas und für lange Zeit eine katholische Intoleranz, die derjenigen der Reformierten nichts nachgab.“
Führte aber Calvin die Reform in den Staat, so spielte Luther der Despotie ein Volk in die Hände, das keineswegs aller Segnungen und Weihen, die die Kirche zu vergeben hatte, bereits teilhaftig geworden war 67). Zu spät erriet das übrige Europa, was Luthers Stellungnahme im Kampf zwischen Papst und Kaiser bedeutete. Luther kon- servierte die Feudalität, indem er geistige Waffen an sie verriet, mit denen sie heute einen der zynischsten Kämpfe führt, die je eine Welt sah. Luther verhinderte ein grosses reales Freiheitserlebnis von der Art der englischen und französischen Revolution und trägt so die Schuld, dass es in Deutschland noch heute nicht ein nach aussen wirkendes poli- tisches Gewissen gibt. Luthers eigentliche Schöpfung ist „der Gott der Ordnung, der die Obrigkeit eingesetzt hat“; ist die Heiligung des Staates durch die Christlichkeit der Knecht- schaft. Damit verlieh er Regenten und Oberfeuerwerkern das gute Gewissen, machte er die Deutschen zum geflissent- lich reaktionären Volk, zu Hütern der „sittlichen Welt- ordnung“ aus Gründen der Theokratie, zu Bekämpfern jeglicher Freiheitsregung aus Gründen eines verruchten, scheelsüchtigen „Gottesbefehls“. Res publica wurde Polizei- staat, Aufsichtsstaat, dessen Sendung es ist, vom Nordkap bis Bagdad, von Finnland bis Spanien unter Berufung auf Bibel, Jehova und Jesus zu strafen, zu richten und aufzu- henken. Der moralische Liberalismus, den Luther schuf,
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bräuche in der Kirche: die Simonie, den Ablassverkauf. Das
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Ordensschacher. Ein tüchtiger Papst hätte genügt, diese
bedauerlichen Inkorrektheiten abzuschaffen. Luther und
Calvin, ein Mönch und ein Pfarrer, entsetzliche Menschen,
haben mit ihrem Protest nicht gegen die Missbräuche,
sondern gegen die Kirche selbst, die Reformation gebracht,
und das bedeutete: die Jesuiten, eine Verschärfung des
Dogmas und für lange Zeit eine katholische Intoleranz,
die derjenigen der Reformierten nichts nachgab.“
Führte aber Calvin die Reform in den Staat, so
spielte Luther der Despotie ein Volk in die Hände, das
keineswegs aller Segnungen und Weihen, die die Kirche zu
vergeben hatte, bereits teilhaftig geworden war
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erriet das übrige Europa, was Luthers Stellungnahme im
Kampf zwischen Papst und Kaiser bedeutete. Luther kon-
servierte die Feudalität, indem er geistige Waffen an sie
verriet, mit denen sie heute einen der zynischsten Kämpfe
führt, die je eine Welt sah. Luther verhinderte ein grosses
reales Freiheitserlebnis von der Art der englischen und
französischen Revolution und trägt so die Schuld, dass es in
Deutschland noch heute nicht ein nach aussen wirkendes poli-
tisches Gewissen gibt. Luthers eigentliche Schöpfung ist „der
Gott der Ordnung, der die Obrigkeit eingesetzt hat“; ist die
Heiligung des Staates durch die Christlichkeit der Knecht-
schaft. Damit verlieh er Regenten und Oberfeuerwerkern
das gute Gewissen, machte er die Deutschen zum geflissent-
lich reaktionären Volk, zu Hütern der „sittlichen Welt-
ordnung“ aus Gründen der Theokratie, zu Bekämpfern
jeglicher Freiheitsregung aus Gründen eines verruchten,
scheelsüchtigen „Gottesbefehls“. Res publica wurde Polizei-
staat, Aufsichtsstaat, dessen Sendung es ist, vom Nordkap
bis Bagdad, von Finnland bis Spanien unter Berufung auf
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/57>, abgerufen am 21.11.2024.
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