bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Ent- scheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, dass wir in diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.
Das Religionssystem, das Luther durchbrach, war der Kollektivbegriff in Glaubensdingen, war die Zentralverwaltung der Gewissensfragen, nicht nur der Heiligtümer; war der religiöse Militarismus, der Disziplinarkomplex. Der Einzelne wagte es, den Gehorsam zu verweigern aus Gründen seines persönlichen Seelenheils. Davon allerdings ist in Naumanns sanftmütiger Schrift nicht die Rede. Die demokratische Gewissheit, mit der Luther auftrat, tritt klar zutage, wenn man das tolle Selbstgefühl achtet, mit dem er zunächst alle Seelenkämpfe, alle metaphysische Sorge um Gedeih und Verderb, und die ganze Last der vielfältigen, haarspalte- rischen religiösen Probleme seiner Zeit auf die Schultern des Einzelnen legte. Die ganze Sündenlast des Jahrhunderts trug nun das Individuum, aber auch aller Seelen Seligkeit leuchtete aus seinen verzückten Augen. "Der Papst", sagte Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, "will nicht lassen glauben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein; das wollen wir aber nicht tun oder darüber sterben in Gottes Namen". Wo hat gegen die Zensur und den Belagerungs- zustand des heutigen Diziplinarsystems jemand solche Worte gewagt? Ist die Propaganda für die Kriegsanleihe so sehr verschieden vom mittelalterlichen Ablasshandel? Ist ein so grosser Unterschied zwischen den Pfaffen des alten und den Professoren des neuen Systems, zwischen den Tetzel und Sombart? Herr Naumann mag antworten darauf. Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio, zwischen der äusseren und der inneren Autorität, den der Luther von 1517 aufstellte -- wo ist er geblieben? In Russland wurde er wiedergeboren, in Deutschland aber ist er nicht mehr zu finden.
Den nötigen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio
bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Ent- scheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, dass wir in diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.
Das Religionssystem, das Luther durchbrach, war der Kollektivbegriff in Glaubensdingen, war die Zentralverwaltung der Gewissensfragen, nicht nur der Heiligtümer; war der religiöse Militarismus, der Disziplinarkomplex. Der Einzelne wagte es, den Gehorsam zu verweigern aus Gründen seines persönlichen Seelenheils. Davon allerdings ist in Naumanns sanftmütiger Schrift nicht die Rede. Die demokratische Gewissheit, mit der Luther auftrat, tritt klar zutage, wenn man das tolle Selbstgefühl achtet, mit dem er zunächst alle Seelenkämpfe, alle metaphysische Sorge um Gedeih und Verderb, und die ganze Last der vielfältigen, haarspalte- rischen religiösen Probleme seiner Zeit auf die Schultern des Einzelnen legte. Die ganze Sündenlast des Jahrhunderts trug nun das Individuum, aber auch aller Seelen Seligkeit leuchtete aus seinen verzückten Augen. „Der Papst“, sagte Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, „will nicht lassen glauben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein; das wollen wir aber nicht tun oder darüber sterben in Gottes Namen“. Wo hat gegen die Zensur und den Belagerungs- zustand des heutigen Diziplinarsystems jemand solche Worte gewagt? Ist die Propaganda für die Kriegsanleihe so sehr verschieden vom mittelalterlichen Ablasshandel? Ist ein so grosser Unterschied zwischen den Pfaffen des alten und den Professoren des neuen Systems, zwischen den Tetzel und Sombart? Herr Naumann mag antworten darauf. Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio, zwischen der äusseren und der inneren Autorität, den der Luther von 1517 aufstellte — wo ist er geblieben? In Russland wurde er wiedergeboren, in Deutschland aber ist er nicht mehr zu finden.
Den nötigen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio
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bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Ent-
scheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes
Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, dass wir in
diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.
Das Religionssystem, das Luther durchbrach, war der
Kollektivbegriff in Glaubensdingen, war die Zentralverwaltung
der Gewissensfragen, nicht nur der Heiligtümer; war der
religiöse Militarismus, der Disziplinarkomplex. Der Einzelne
wagte es, den Gehorsam zu verweigern aus Gründen seines
persönlichen Seelenheils. Davon allerdings ist in Naumanns
sanftmütiger Schrift nicht die Rede. Die demokratische
Gewissheit, mit der Luther auftrat, tritt klar zutage, wenn
man das tolle Selbstgefühl achtet, mit dem er zunächst
alle Seelenkämpfe, alle metaphysische Sorge um Gedeih und
Verderb, und die ganze Last der vielfältigen, haarspalte-
rischen religiösen Probleme seiner Zeit auf die Schultern
des Einzelnen legte. Die ganze Sündenlast des Jahrhunderts
trug nun das Individuum, aber auch aller Seelen Seligkeit
leuchtete aus seinen verzückten Augen. „Der Papst“, sagte
Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, „will nicht lassen
glauben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein; das
wollen wir aber nicht tun oder darüber sterben in Gottes
Namen“. Wo hat gegen die Zensur und den Belagerungs-
zustand des heutigen Diziplinarsystems jemand solche Worte
gewagt? Ist die Propaganda für die Kriegsanleihe so sehr
verschieden vom mittelalterlichen Ablasshandel? Ist ein so
grosser Unterschied zwischen den Pfaffen des alten und
den Professoren des neuen Systems, zwischen den Tetzel
und Sombart? Herr Naumann mag antworten darauf. Der
Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio, zwischen der
äusseren und der inneren Autorität, den der Luther von
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/30>, abgerufen am 21.11.2024.
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