mitteilt und aus denen die tiefste Verzweiflung eines preus- sischen Untertanen Friedrich II. spricht.
Nach der Niederlage von Jena und Auerstädt (1806) ist das preussische Junkertum gezwungen, sich bürgerliche Heeresreformen gefallen zu lassen. Scharnhorst und Gnei- senau als Revolutionäre, weil sie die "Junkerstellen" im preussischen Heer abschaffen und die "Freiheit des Rückens", das heisst die Abschaffung der Prügelstrafen, erwirken! Im Handumdrehen aber erzwingt die junkerliche Fronde die Entlassung zweier reformlerischer Freiherren, des von Stein und des von Hardenberg, dieweil der eine eine Art "preus- sischen Volksstaats", der andere versöhnlicher, eine "Revolu- tion im guten Sinne" verlangte. Die Reformen ermöglichen es gerade, dass unter Preussens Führung die "Befreiungs- kriege" unternommen werden können, und diese verhelfen der Reaktion wieder zur Herrschaft 88).
Die Philosophie aber, die grosse Führer- und Verführerin zu Freiheit und Volkswohl, die Schutzheilige und Madonna der Menschheit gegen die Attentate der Usurpatoren, diese unsere Jeanne d'Arc der Erlösung vom Dunkel und allen Verbrechen wider die Sozietät -- wo blieb sie? "In einer weltgeschichtlichen Komödie", schreibt Mehring, "hatte der preussische Korporalstock die deutsche Philosophie in immer höhere Höhen getrieben, bis er, was eine ge- witterschwangere Wolke war, für ein harmloses Kamel oder Wiesel ansah" 89).
Die romantisch-teutschen Ideen verbanden sich mit dem Protestantismus, die Reichsherrlichkeit des feudalen Mittel- alters mit der protestantischen Prätention einer Ablösung der päpstlichen Autokratie durch das preussische Summe- piskopat. In Hegels Philosophie wurde System, was unter Friedrich Wilhelm IV. Philisterideal war: der exaltierte, vertiefte, der kirchlich begründete Absolutismus. "Es drängt mich", erklärte der König im April 1847 bei Eröffnung des vereinigten Landtags, "zu der feierlichen Erklärung: Dass
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mitteilt und aus denen die tiefste Verzweiflung eines preus- sischen Untertanen Friedrich II. spricht.
Nach der Niederlage von Jena und Auerstädt (1806) ist das preussische Junkertum gezwungen, sich bürgerliche Heeresreformen gefallen zu lassen. Scharnhorst und Gnei- senau als Revolutionäre, weil sie die „Junkerstellen“ im preussischen Heer abschaffen und die „Freiheit des Rückens“, das heisst die Abschaffung der Prügelstrafen, erwirken! Im Handumdrehen aber erzwingt die junkerliche Fronde die Entlassung zweier reformlerischer Freiherren, des von Stein und des von Hardenberg, dieweil der eine eine Art „preus- sischen Volksstaats“, der andere versöhnlicher, eine „Revolu- tion im guten Sinne“ verlangte. Die Reformen ermöglichen es gerade, dass unter Preussens Führung die „Befreiungs- kriege“ unternommen werden können, und diese verhelfen der Reaktion wieder zur Herrschaft 88).
Die Philosophie aber, die grosse Führer- und Verführerin zu Freiheit und Volkswohl, die Schutzheilige und Madonna der Menschheit gegen die Attentate der Usurpatoren, diese unsere Jeanne d'Arc der Erlösung vom Dunkel und allen Verbrechen wider die Sozietät — wo blieb sie? „In einer weltgeschichtlichen Komödie“, schreibt Mehring, „hatte der preussische Korporalstock die deutsche Philosophie in immer höhere Höhen getrieben, bis er, was eine ge- witterschwangere Wolke war, für ein harmloses Kamel oder Wiesel ansah“ 89).
Die romantisch-teutschen Ideen verbanden sich mit dem Protestantismus, die Reichsherrlichkeit des feudalen Mittel- alters mit der protestantischen Prätention einer Ablösung der päpstlichen Autokratie durch das preussische Summe- piskopat. In Hegels Philosophie wurde System, was unter Friedrich Wilhelm IV. Philisterideal war: der exaltierte, vertiefte, der kirchlich begründete Absolutismus. „Es drängt mich“, erklärte der König im April 1847 bei Eröffnung des vereinigten Landtags, „zu der feierlichen Erklärung: Dass
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mitteilt und aus denen die tiefste Verzweiflung eines preus-
sischen Untertanen Friedrich II. spricht.
Nach der Niederlage von Jena und Auerstädt (1806)
ist das preussische Junkertum gezwungen, sich bürgerliche
Heeresreformen gefallen zu lassen. Scharnhorst und Gnei-
senau als Revolutionäre, weil sie die „Junkerstellen“ im
preussischen Heer abschaffen und die „Freiheit des Rückens“,
das heisst die Abschaffung der Prügelstrafen, erwirken! Im
Handumdrehen aber erzwingt die junkerliche Fronde die
Entlassung zweier reformlerischer Freiherren, des von Stein
und des von Hardenberg, dieweil der eine eine Art „preus-
sischen Volksstaats“, der andere versöhnlicher, eine „Revolu-
tion im guten Sinne“ verlangte. Die Reformen ermöglichen
es gerade, dass unter Preussens Führung die „Befreiungs-
kriege“ unternommen werden können, und diese verhelfen
der Reaktion wieder zur Herrschaft
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Die Philosophie aber, die grosse Führer- und Verführerin
zu Freiheit und Volkswohl, die Schutzheilige und Madonna
der Menschheit gegen die Attentate der Usurpatoren, diese
unsere Jeanne d'Arc der Erlösung vom Dunkel und allen
Verbrechen wider die Sozietät — wo blieb sie? „In einer
weltgeschichtlichen Komödie“, schreibt Mehring, „hatte
der preussische Korporalstock die deutsche Philosophie
in immer höhere Höhen getrieben, bis er, was eine ge-
witterschwangere Wolke war, für ein harmloses Kamel oder
Wiesel ansah“
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Die romantisch-teutschen Ideen verbanden sich mit dem
Protestantismus, die Reichsherrlichkeit des feudalen Mittel-
alters mit der protestantischen Prätention einer Ablösung
der päpstlichen Autokratie durch das preussische Summe-
piskopat. In Hegels Philosophie wurde System, was unter
Friedrich Wilhelm IV. Philisterideal war: der exaltierte,
vertiefte, der kirchlich begründete Absolutismus. „Es drängt
mich“, erklärte der König im April 1847 bei Eröffnung des
vereinigten Landtags, „zu der feierlichen Erklärung: Dass
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/217>, abgerufen am 23.07.2024.
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