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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der
letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde
ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire,
Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Leon Bloy, Charles
Peguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver-
worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der
den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet
und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour-
nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen-
väter des kommenden Europa zogen sie die letzten,
sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und
Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen
Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren
Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas
sind: Pietas et paupertas sancta. "Unsere Gegner von
damals", schrieb Charles Peguy, "führten die Sprache der
Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes
und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief
christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in
seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver-
christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge
um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass
Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe". Und Romain
Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte
bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem
infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs-
versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu:
"Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens,
Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu
wachen habt 14)".

Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit,
der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef-
tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein
künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein
durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro-

solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der
letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde
ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire,
Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles
Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver-
worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der
den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet
und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour-
nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen-
väter des kommenden Europa zogen sie die letzten,
sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und
Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen
Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren
Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas
sind: Pietas et paupertas sancta. „Unsere Gegner von
damals“, schrieb Charles Péguy, „führten die Sprache der
Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes
und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief
christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in
seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver-
christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge
um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass
Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe“. Und Romain
Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte
bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem
infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs-
versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu:
„Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens,
Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu
wachen habt 14)“.

Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit,
der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef-
tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein
künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein
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[11/0019] solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire, Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver- worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour- nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen- väter des kommenden Europa zogen sie die letzten, sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas sind: Pietas et paupertas sancta. „Unsere Gegner von damals“, schrieb Charles Péguy, „führten die Sprache der Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver- christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe“. Und Romain Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs- versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu: „Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens, Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu wachen habt ¹⁴⁾ “. Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit, der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef- tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro-

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/19>, abgerufen am 20.04.2024.