Material zu liefern. Ich würde mich vielmehr glücklich schätzen, der sozialen, jüdischen und deutschen Emanzipation gleicherweise einen Dienst zu leisten.
Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie muss in erster Linie als eine Etappe im jüdischen Emanzipations- kampf betrachtet werden. Hermann Cohen, der jüngst verstorbene Vorkämpfer des deutschen Judentums, hat die Bezüge nachgewiesen, die seit Luthers Uebersetzung des alten Testaments und Moses Mendelsohns Ritualreform den jüdischen mit dem deutschen Geiste verbinden. Seine auf- schlussreiche Broschüre "Deutschtum und Judentum" stellt zwischen der jüdischen Messiasidee und dem protestantischen Staatsgedanken eine Allianz fest, deren Tiefe und Bedeutung gerade Cohen nachdrücklichst betont 100). Ich bin ganz seiner Meinung, dass diese Allianz besteht, und ich stimme ihm zu, wenn er die Gründung der deutschen Sozialdemo- kratie vorzüglich innerhalb dieser Allianz beurteilt wissen will, aber ich bin nicht der Ansicht, dass die Herrschaft dieser Art jüdisch-deutschen Geistes der Welt und Deutsch- land selbst zum Heile gereicht, und ich möchte sagen, weshalb ich nicht dieser Ansicht bin.
Zunächst scheint mir der deutsche Anteil an diesem Bündnis nicht spezifisch und stark genug. Jener quasideutsche Staatsgedanke ist ein Produkt der lutheranischen Entwick- lung viel mehr als des deutschen Volkes und setzt die jüdische Theologie voraus. Der autoritäre Obrigkeitsstaat, den Cohen von der Reformation herdatiert, ist eher alt- testamentarisch, paulinisch und römisch, als deutsch; er steht im Gegensatz zum Sinn, wenn auch nicht durchaus zum Wortlaut des neuen Testaments, und nur Luthers Buchstabenglaube, der die jüdische Theologie zur deutschen, machte und den jüdischen Messianismus zum deutschen, gab ihm seine Sanktion. In dem Augenblick, wo der Nach- weis erbracht werden kann, dass die "protestantische Staats- idee" von der jüdischen Theologie ihre Macht bezieht, fällt
Material zu liefern. Ich würde mich vielmehr glücklich schätzen, der sozialen, jüdischen und deutschen Emanzipation gleicherweise einen Dienst zu leisten.
Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie muss in erster Linie als eine Etappe im jüdischen Emanzipations- kampf betrachtet werden. Hermann Cohen, der jüngst verstorbene Vorkämpfer des deutschen Judentums, hat die Bezüge nachgewiesen, die seit Luthers Uebersetzung des alten Testaments und Moses Mendelsohns Ritualreform den jüdischen mit dem deutschen Geiste verbinden. Seine auf- schlussreiche Broschüre „Deutschtum und Judentum“ stellt zwischen der jüdischen Messiasidee und dem protestantischen Staatsgedanken eine Allianz fest, deren Tiefe und Bedeutung gerade Cohen nachdrücklichst betont 100). Ich bin ganz seiner Meinung, dass diese Allianz besteht, und ich stimme ihm zu, wenn er die Gründung der deutschen Sozialdemo- kratie vorzüglich innerhalb dieser Allianz beurteilt wissen will, aber ich bin nicht der Ansicht, dass die Herrschaft dieser Art jüdisch-deutschen Geistes der Welt und Deutsch- land selbst zum Heile gereicht, und ich möchte sagen, weshalb ich nicht dieser Ansicht bin.
Zunächst scheint mir der deutsche Anteil an diesem Bündnis nicht spezifisch und stark genug. Jener quasideutsche Staatsgedanke ist ein Produkt der lutheranischen Entwick- lung viel mehr als des deutschen Volkes und setzt die jüdische Theologie voraus. Der autoritäre Obrigkeitsstaat, den Cohen von der Reformation herdatiert, ist eher alt- testamentarisch, paulinisch und römisch, als deutsch; er steht im Gegensatz zum Sinn, wenn auch nicht durchaus zum Wortlaut des neuen Testaments, und nur Luthers Buchstabenglaube, der die jüdische Theologie zur deutschen, machte und den jüdischen Messianismus zum deutschen, gab ihm seine Sanktion. In dem Augenblick, wo der Nach- weis erbracht werden kann, dass die „protestantische Staats- idee“ von der jüdischen Theologie ihre Macht bezieht, fällt
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Material zu liefern. Ich würde mich vielmehr glücklich
schätzen, der sozialen, jüdischen und deutschen Emanzipation
gleicherweise einen Dienst zu leisten.
Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie muss
in erster Linie als eine Etappe im jüdischen Emanzipations-
kampf betrachtet werden. Hermann Cohen, der jüngst
verstorbene Vorkämpfer des deutschen Judentums, hat die
Bezüge nachgewiesen, die seit Luthers Uebersetzung des
alten Testaments und Moses Mendelsohns Ritualreform den
jüdischen mit dem deutschen Geiste verbinden. Seine auf-
schlussreiche Broschüre „Deutschtum und Judentum“ stellt
zwischen der jüdischen Messiasidee und dem protestantischen
Staatsgedanken eine Allianz fest, deren Tiefe und Bedeutung
gerade Cohen nachdrücklichst betont
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. Ich bin ganz
seiner Meinung, dass diese Allianz besteht, und ich stimme
ihm zu, wenn er die Gründung der deutschen Sozialdemo-
kratie vorzüglich innerhalb dieser Allianz beurteilt wissen
will, aber ich bin nicht der Ansicht, dass die Herrschaft
dieser Art jüdisch-deutschen Geistes der Welt und Deutsch-
land selbst zum Heile gereicht, und ich möchte sagen,
weshalb ich nicht dieser Ansicht bin.
Zunächst scheint mir der deutsche Anteil an diesem
Bündnis nicht spezifisch und stark genug. Jener quasideutsche
Staatsgedanke ist ein Produkt der lutheranischen Entwick-
lung viel mehr als des deutschen Volkes und setzt die
jüdische Theologie voraus. Der autoritäre Obrigkeitsstaat,
den Cohen von der Reformation herdatiert, ist eher alt-
testamentarisch, paulinisch und römisch, als deutsch; er
steht im Gegensatz zum Sinn, wenn auch nicht durchaus
zum Wortlaut des neuen Testaments, und nur Luthers
Buchstabenglaube, der die jüdische Theologie zur deutschen,
machte und den jüdischen Messianismus zum deutschen,
gab ihm seine Sanktion. In dem Augenblick, wo der Nach-
weis erbracht werden kann, dass die „protestantische Staats-
idee“ von der jüdischen Theologie ihre Macht bezieht, fällt
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/174>, abgerufen am 21.11.2024.
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