Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

sondern Pflichten, keine Strafen, sondern Heilmittel. Hier
gibt es weder Ehrenbezeugungen noch Unterwürfigkeits-
formeln, weder Zeichen des Ruhmes, noch der Verachtung;
hier ist nichts zu befehlen und zu gehorchen, sondern zu
regeln, anzuordnen und zu vollenden. Da gibt es weder
Verbrechen noch Strafen, sondern nur noch einen Rest
menschlicher Krankheiten und Schwächen, welche die Natur
uns in den Weg legte, um durch ihre Beseitigung unsere
physischen und geistigen Fähigkeiten anzufeuern" 90). Er
will die bestehende Unordnung auf den höchsten Gipfel
treiben, die leidenden Klassen im grenzenlosesten Elend
sehen. In der Verzweiflung erblickt er den wirksamsten
Hebel der Revolution, und er nennt den Diebstahl die "letzte
Waffe der Armen gegen die Reichen". Seine Religion ist
die des Leidens und Mitleidens, der Armen und der Lieder-
lichen, Verachteten und Verworfenen, die einzige Religion
und Philosophie, die es gibt. Er liebt den Verbrecher wie
die Dirne, liebt sie, wie Jesus Christus sie liebte. Und dass
er behauptete, der HERR habe von liebenden Frauen sich
aushalten lassen, warf ihn für 10 Monate ins Gefängnis 91).
Aber "ein neuer Messias wird kommen", prophezeite er,
"um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den
morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zer-
trümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit
leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln. Er wird
niedersteigen von den Höhen des Reichtums in den Ab-
grund des Elends, unter das Gewühl der Elenden und Ver-
achteten und seine Tränen mit den ihrigen vermischen. Die
Gewalt aber, die ihm verliehen, wird er nicht eher aus der
Hand lassen, bis das kühne Werk vollendet ist" 92).

Nein, der Weitling'sche Kommunismus war keine
Interessenpolitik, zu der Marx und Lassalle ihn umgestal-
teten; er war eine Philosophie des Elends wie die des
grossen Proudhon, eine Philosophie der sozialen Schuld,
und es ist wichtig, dies zu unterstreichen in einer Zeit, in

sondern Pflichten, keine Strafen, sondern Heilmittel. Hier
gibt es weder Ehrenbezeugungen noch Unterwürfigkeits-
formeln, weder Zeichen des Ruhmes, noch der Verachtung;
hier ist nichts zu befehlen und zu gehorchen, sondern zu
regeln, anzuordnen und zu vollenden. Da gibt es weder
Verbrechen noch Strafen, sondern nur noch einen Rest
menschlicher Krankheiten und Schwächen, welche die Natur
uns in den Weg legte, um durch ihre Beseitigung unsere
physischen und geistigen Fähigkeiten anzufeuern“ 90). Er
will die bestehende Unordnung auf den höchsten Gipfel
treiben, die leidenden Klassen im grenzenlosesten Elend
sehen. In der Verzweiflung erblickt er den wirksamsten
Hebel der Revolution, und er nennt den Diebstahl die „letzte
Waffe der Armen gegen die Reichen“. Seine Religion ist
die des Leidens und Mitleidens, der Armen und der Lieder-
lichen, Verachteten und Verworfenen, die einzige Religion
und Philosophie, die es gibt. Er liebt den Verbrecher wie
die Dirne, liebt sie, wie Jesus Christus sie liebte. Und dass
er behauptete, der HERR habe von liebenden Frauen sich
aushalten lassen, warf ihn für 10 Monate ins Gefängnis 91).
Aber „ein neuer Messias wird kommen“, prophezeite er,
„um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den
morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zer-
trümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit
leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln. Er wird
niedersteigen von den Höhen des Reichtums in den Ab-
grund des Elends, unter das Gewühl der Elenden und Ver-
achteten und seine Tränen mit den ihrigen vermischen. Die
Gewalt aber, die ihm verliehen, wird er nicht eher aus der
Hand lassen, bis das kühne Werk vollendet ist“ 92).

Nein, der Weitling'sche Kommunismus war keine
Interessenpolitik, zu der Marx und Lassalle ihn umgestal-
teten; er war eine Philosophie des Elends wie die des
grossen Proudhon, eine Philosophie der sozialen Schuld,
und es ist wichtig, dies zu unterstreichen in einer Zeit, in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0170" n="162"/>
sondern Pflichten, keine Strafen, sondern Heilmittel. Hier<lb/>
gibt es weder Ehrenbezeugungen noch Unterwürfigkeits-<lb/>
formeln, weder Zeichen des Ruhmes, noch der Verachtung;<lb/>
hier ist nichts zu befehlen und zu gehorchen, sondern zu<lb/>
regeln, anzuordnen und zu vollenden. Da gibt es weder<lb/>
Verbrechen noch Strafen, sondern nur noch einen Rest<lb/>
menschlicher Krankheiten und Schwächen, welche die Natur<lb/>
uns in den Weg legte, um durch ihre Beseitigung unsere<lb/>
physischen und geistigen Fähigkeiten anzufeuern&#x201C; <note xml:id="id90c" next="id90c90c" place="end" n="90)"/>. Er<lb/>
will die bestehende Unordnung auf den höchsten Gipfel<lb/>
treiben, die leidenden Klassen im grenzenlosesten Elend<lb/>
sehen. In der Verzweiflung erblickt er den wirksamsten<lb/>
Hebel der Revolution, und er nennt den Diebstahl die &#x201E;letzte<lb/>
Waffe der Armen gegen die Reichen&#x201C;. Seine Religion ist<lb/>
die des Leidens und Mitleidens, der Armen und der Lieder-<lb/>
lichen, Verachteten und Verworfenen, die einzige Religion<lb/>
und Philosophie, die es gibt. Er liebt den Verbrecher wie<lb/>
die Dirne, liebt sie, wie Jesus Christus sie liebte. Und dass<lb/>
er behauptete, der HERR habe von liebenden Frauen sich<lb/>
aushalten lassen, warf ihn für 10 Monate ins Gefängnis <note xml:id="id91c" next="id91c91c" place="end" n="91)"/>.<lb/>
Aber &#x201E;ein neuer Messias wird kommen&#x201C;, prophezeite er,<lb/>
&#x201E;um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den<lb/>
morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zer-<lb/>
trümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit<lb/>
leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln. Er wird<lb/>
niedersteigen von den Höhen des Reichtums in den Ab-<lb/>
grund des Elends, unter das Gewühl der Elenden und Ver-<lb/>
achteten und seine Tränen mit den ihrigen vermischen. Die<lb/>
Gewalt aber, die ihm verliehen, wird er nicht eher aus der<lb/>
Hand lassen, bis das kühne Werk vollendet ist&#x201C; <note xml:id="id92c" next="id92c92c" place="end" n="92)"/>.</p><lb/>
          <p>Nein, der Weitling'sche Kommunismus war keine<lb/>
Interessenpolitik, zu der Marx und Lassalle ihn umgestal-<lb/>
teten; er war eine Philosophie des Elends wie die des<lb/>
grossen Proudhon, eine Philosophie der sozialen Schuld,<lb/>
und es ist wichtig, dies zu unterstreichen in einer Zeit, in<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0170] sondern Pflichten, keine Strafen, sondern Heilmittel. Hier gibt es weder Ehrenbezeugungen noch Unterwürfigkeits- formeln, weder Zeichen des Ruhmes, noch der Verachtung; hier ist nichts zu befehlen und zu gehorchen, sondern zu regeln, anzuordnen und zu vollenden. Da gibt es weder Verbrechen noch Strafen, sondern nur noch einen Rest menschlicher Krankheiten und Schwächen, welche die Natur uns in den Weg legte, um durch ihre Beseitigung unsere physischen und geistigen Fähigkeiten anzufeuern“ ⁹⁰⁾ . Er will die bestehende Unordnung auf den höchsten Gipfel treiben, die leidenden Klassen im grenzenlosesten Elend sehen. In der Verzweiflung erblickt er den wirksamsten Hebel der Revolution, und er nennt den Diebstahl die „letzte Waffe der Armen gegen die Reichen“. Seine Religion ist die des Leidens und Mitleidens, der Armen und der Lieder- lichen, Verachteten und Verworfenen, die einzige Religion und Philosophie, die es gibt. Er liebt den Verbrecher wie die Dirne, liebt sie, wie Jesus Christus sie liebte. Und dass er behauptete, der HERR habe von liebenden Frauen sich aushalten lassen, warf ihn für 10 Monate ins Gefängnis ⁹¹⁾ . Aber „ein neuer Messias wird kommen“, prophezeite er, „um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zer- trümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln. Er wird niedersteigen von den Höhen des Reichtums in den Ab- grund des Elends, unter das Gewühl der Elenden und Ver- achteten und seine Tränen mit den ihrigen vermischen. Die Gewalt aber, die ihm verliehen, wird er nicht eher aus der Hand lassen, bis das kühne Werk vollendet ist“ ⁹²⁾ . Nein, der Weitling'sche Kommunismus war keine Interessenpolitik, zu der Marx und Lassalle ihn umgestal- teten; er war eine Philosophie des Elends wie die des grossen Proudhon, eine Philosophie der sozialen Schuld, und es ist wichtig, dies zu unterstreichen in einer Zeit, in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/170
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/170>, abgerufen am 18.12.2024.