dadurch die Weltgeschichte und alles individuelle Streben zum Stillstand bringt? Hegel wusste: "Die Idee der Freiheit ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat"; wusste, "dass der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist" 194). Was machte er daraus? Er fand, die Freiheit sei "zunächst nur ein Begriff, Prinzip des Geistes und Herzens", der "sich zur Gegenständlichkeit zu ent- wickeln bestimmt" sei, "zur rechtlichen, sittlichen und religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit". Auf diesem Wege kam er zu seiner positiven Rechtsphilosophie und endete mit dem schönen Satze: "Die Strafgerechtigkeit der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usw. sind zu- gleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usw., wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben, Kriegsdiensten usw. Pflichten sind. Wesentlich gilt es, dass, wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt" 195). Hegels philosophische Methode bestand eben nur darin, die theologischen und staatlichen Grundbegriffe in ihrem beim bestehenden Regime beliebten Werte anzuerkennen und sie durch entsprechende Paraphrasierung systematisch miteinander in Beziehung zu setzen.
Jede wahrhaft selbstbewusste Stellungnahme zur be- stehenden Welt ist aber notwendig eine Revolte und nur die Rebellion gegen das Bestehende, die Revolte der Ver- nunft gegen das Erreichte, das immer unzulänglich ist und sein muss, weil das Ideal nicht realisierbar ist, darf sich das Recht zumessen, Vernunft in die Geschichte zu tragen. Das aber heisst die Geschichte revidieren, denn eine Ver- nunft der Geschichte oder des Weltprozesses an sich gibt es nicht. Wir, die wir heute leben und zu sagen haben, wie wir leben wollen, existieren nur, indem wir uns zur Geltung bringen, indem wir Rebellen sind gegen die Un- vernunft, die die Geschichte uns überliefert hat, und Be- fürworter jener wenigen Momente von Vernunft, die wir
dadurch die Weltgeschichte und alles individuelle Streben zum Stillstand bringt? Hegel wusste: „Die Idee der Freiheit ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat“; wusste, „dass der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist“ 194). Was machte er daraus? Er fand, die Freiheit sei „zunächst nur ein Begriff, Prinzip des Geistes und Herzens“, der „sich zur Gegenständlichkeit zu ent- wickeln bestimmt“ sei, „zur rechtlichen, sittlichen und religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit“. Auf diesem Wege kam er zu seiner positiven Rechtsphilosophie und endete mit dem schönen Satze: „Die Strafgerechtigkeit der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usw. sind zu- gleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usw., wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben, Kriegsdiensten usw. Pflichten sind. Wesentlich gilt es, dass, wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt“ 195). Hegels philosophische Methode bestand eben nur darin, die theologischen und staatlichen Grundbegriffe in ihrem beim bestehenden Regime beliebten Werte anzuerkennen und sie durch entsprechende Paraphrasierung systematisch miteinander in Beziehung zu setzen.
Jede wahrhaft selbstbewusste Stellungnahme zur be- stehenden Welt ist aber notwendig eine Revolte und nur die Rebellion gegen das Bestehende, die Revolte der Ver- nunft gegen das Erreichte, das immer unzulänglich ist und sein muss, weil das Ideal nicht realisierbar ist, darf sich das Recht zumessen, Vernunft in die Geschichte zu tragen. Das aber heisst die Geschichte revidieren, denn eine Ver- nunft der Geschichte oder des Weltprozesses an sich gibt es nicht. Wir, die wir heute leben und zu sagen haben, wie wir leben wollen, existieren nur, indem wir uns zur Geltung bringen, indem wir Rebellen sind gegen die Un- vernunft, die die Geschichte uns überliefert hat, und Be- fürworter jener wenigen Momente von Vernunft, die wir
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dadurch die Weltgeschichte und alles individuelle Streben
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ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach
welchem das Individuum als solches einen unendlichen
Wert hat“; wusste, „dass der Mensch an sich zur höchsten
Freiheit bestimmt ist“
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. Was machte er daraus? Er fand,
die Freiheit sei „zunächst nur ein Begriff, Prinzip des Geistes
und Herzens“, der „sich zur Gegenständlichkeit zu ent-
wickeln bestimmt“ sei, „zur rechtlichen, sittlichen und
religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit“. Auf diesem
Wege kam er zu seiner positiven Rechtsphilosophie und
endete mit dem schönen Satze: „Die Strafgerechtigkeit
der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usw. sind zu-
gleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usw.,
wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben,
Kriegsdiensten usw. Pflichten sind. Wesentlich gilt es, dass,
wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt“
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Hegels philosophische Methode bestand eben nur darin,
die theologischen und staatlichen Grundbegriffe in ihrem
beim bestehenden Regime beliebten Werte anzuerkennen
und sie durch entsprechende Paraphrasierung systematisch
miteinander in Beziehung zu setzen.
Jede wahrhaft selbstbewusste Stellungnahme zur be-
stehenden Welt ist aber notwendig eine Revolte und nur
die Rebellion gegen das Bestehende, die Revolte der Ver-
nunft gegen das Erreichte, das immer unzulänglich ist und
sein muss, weil das Ideal nicht realisierbar ist, darf sich
das Recht zumessen, Vernunft in die Geschichte zu tragen.
Das aber heisst die Geschichte revidieren, denn eine Ver-
nunft der Geschichte oder des Weltprozesses an sich gibt
es nicht. Wir, die wir heute leben und zu sagen haben,
wie wir leben wollen, existieren nur, indem wir uns zur
Geltung bringen, indem wir Rebellen sind gegen die Un-
vernunft, die die Geschichte uns überliefert hat, und Be-
fürworter jener wenigen Momente von Vernunft, die wir
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/129>, abgerufen am 23.11.2024.
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