Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

sich einen Begriff bilden kann, der Religion und Freiheit
in der offiziellen und inoffiziellen Literatur vergebens ge-
sucht hat. Die intellektuelle Erkrankung der Nation, die
daraus resultierte, -- nur durch einen gemeinsamen Auf-
wand heilsamer Kräfte aller übrigen Völker ist sie zu be-
heben. Die Berliner Universität insbesondere wurde zum
Schröpfkopf unserer moralischen und kulturellen Kräfte,
und wir gehen in Siechtum und Weltverpestung zugrunde,
wenn wir die Hilfe nicht finden, diese Bastillen und Lügen-
buden zu stürmen.

Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen, soweit sie nicht
im Materialismus beschlossen lagen, waren nie sonderlich
neu. "Die Deutschen mögen sagen was sie wollen", weiss
schon Lichtenberg, "so kann nicht geleugnet werden, dass
unsere Gelehrsamkeit mehr darin besteht, recht gut inne
zu haben, was zu einer Wissenschaft gehört, und zumal
deutlich angeben zu können, was dieser und jener darin
getan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken. Selbst
unter unsern grössten Schriftstellern gibt es welche, die
eigentlich nur das, was man schon wusste, gut geordnet
wieder drucken lassen" 193). Unter Hegel wurden die Wissen-
schaften, die in früherer Zeit einmal dem Himmelreich
dienten, "vernünftig", die Weltgeschichte vernünftig, die
Vernunft selber vernünftig, und man kann ruhig für vernünftig
jeweilen preussisch-protestantisch setzen. Der germanisch-
protestantische Vernunftstaat (oder die Destruktion der abend-
ländischen Moral) wurde der Wissenschaften höchstes Prinzip,
und was für eine jämmerliche Freiheit dabei übrig blieb,
weiss jeder, der die Sophistik heutiger Berliner Philosophen
und Philologen nicht für Tiefsinn hält, das Schicksal eines
wahrhaft freien Gelehrten aber wie des Berliner Biologen
G. F. Nicolai für ein Symptom.

Vernunft in die Geschichte tragen, dieses höchste Ziel
jeden Denkens im grossen Stil, -- kann es darin bestehen,
dass man die Vernunft aus den Tatsachen ableitet und

sich einen Begriff bilden kann, der Religion und Freiheit
in der offiziellen und inoffiziellen Literatur vergebens ge-
sucht hat. Die intellektuelle Erkrankung der Nation, die
daraus resultierte, — nur durch einen gemeinsamen Auf-
wand heilsamer Kräfte aller übrigen Völker ist sie zu be-
heben. Die Berliner Universität insbesondere wurde zum
Schröpfkopf unserer moralischen und kulturellen Kräfte,
und wir gehen in Siechtum und Weltverpestung zugrunde,
wenn wir die Hilfe nicht finden, diese Bastillen und Lügen-
buden zu stürmen.

Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen, soweit sie nicht
im Materialismus beschlossen lagen, waren nie sonderlich
neu. „Die Deutschen mögen sagen was sie wollen“, weiss
schon Lichtenberg, „so kann nicht geleugnet werden, dass
unsere Gelehrsamkeit mehr darin besteht, recht gut inne
zu haben, was zu einer Wissenschaft gehört, und zumal
deutlich angeben zu können, was dieser und jener darin
getan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken. Selbst
unter unsern grössten Schriftstellern gibt es welche, die
eigentlich nur das, was man schon wusste, gut geordnet
wieder drucken lassen“ 193). Unter Hegel wurden die Wissen-
schaften, die in früherer Zeit einmal dem Himmelreich
dienten, „vernünftig“, die Weltgeschichte vernünftig, die
Vernunft selber vernünftig, und man kann ruhig für vernünftig
jeweilen preussisch-protestantisch setzen. Der germanisch-
protestantische Vernunftstaat (oder die Destruktion der abend-
ländischen Moral) wurde der Wissenschaften höchstes Prinzip,
und was für eine jämmerliche Freiheit dabei übrig blieb,
weiss jeder, der die Sophistik heutiger Berliner Philosophen
und Philologen nicht für Tiefsinn hält, das Schicksal eines
wahrhaft freien Gelehrten aber wie des Berliner Biologen
G. F. Nicolai für ein Symptom.

Vernunft in die Geschichte tragen, dieses höchste Ziel
jeden Denkens im grossen Stil, — kann es darin bestehen,
dass man die Vernunft aus den Tatsachen ableitet und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0128" n="120"/>
sich einen Begriff bilden kann, der Religion und Freiheit<lb/>
in der offiziellen und inoffiziellen Literatur vergebens ge-<lb/>
sucht hat. Die intellektuelle Erkrankung der Nation, die<lb/>
daraus resultierte, &#x2014; nur durch einen gemeinsamen Auf-<lb/>
wand heilsamer Kräfte aller übrigen Völker ist sie zu be-<lb/>
heben. Die Berliner Universität insbesondere wurde zum<lb/>
Schröpfkopf unserer moralischen und kulturellen Kräfte,<lb/>
und wir gehen in Siechtum und Weltverpestung zugrunde,<lb/>
wenn wir die Hilfe nicht finden, diese Bastillen und Lügen-<lb/>
buden zu stürmen.</p><lb/>
          <p>Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen, soweit sie nicht<lb/>
im Materialismus beschlossen lagen, waren nie sonderlich<lb/>
neu. &#x201E;Die Deutschen mögen sagen was sie wollen&#x201C;, weiss<lb/>
schon Lichtenberg, &#x201E;so kann nicht geleugnet werden, dass<lb/>
unsere Gelehrsamkeit mehr darin besteht, recht gut inne<lb/>
zu haben, was zu einer Wissenschaft gehört, und zumal<lb/>
deutlich angeben zu können, was dieser und jener darin<lb/>
getan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken. Selbst<lb/>
unter unsern grössten Schriftstellern gibt es welche, die<lb/>
eigentlich nur das, was man schon wusste, gut geordnet<lb/>
wieder drucken lassen&#x201C; <note xml:id="id193b" next="id193b193b" place="end" n="193)"/>. Unter Hegel wurden die Wissen-<lb/>
schaften, die in früherer Zeit einmal dem Himmelreich<lb/>
dienten, &#x201E;vernünftig&#x201C;, die Weltgeschichte vernünftig, die<lb/>
Vernunft selber vernünftig, und man kann ruhig für vernünftig<lb/>
jeweilen preussisch-protestantisch setzen. Der germanisch-<lb/>
protestantische Vernunftstaat (oder die Destruktion der abend-<lb/>
ländischen Moral) wurde der Wissenschaften höchstes Prinzip,<lb/>
und was für eine jämmerliche Freiheit dabei übrig blieb,<lb/>
weiss jeder, der die Sophistik heutiger Berliner Philosophen<lb/>
und Philologen nicht für Tiefsinn hält, das Schicksal eines<lb/>
wahrhaft freien Gelehrten aber wie des Berliner Biologen<lb/>
G. F. Nicolai für ein Symptom.</p><lb/>
          <p>Vernunft in die Geschichte tragen, dieses höchste Ziel<lb/>
jeden Denkens im grossen Stil, &#x2014; kann es darin bestehen,<lb/>
dass man die Vernunft aus den Tatsachen ableitet und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0128] sich einen Begriff bilden kann, der Religion und Freiheit in der offiziellen und inoffiziellen Literatur vergebens ge- sucht hat. Die intellektuelle Erkrankung der Nation, die daraus resultierte, — nur durch einen gemeinsamen Auf- wand heilsamer Kräfte aller übrigen Völker ist sie zu be- heben. Die Berliner Universität insbesondere wurde zum Schröpfkopf unserer moralischen und kulturellen Kräfte, und wir gehen in Siechtum und Weltverpestung zugrunde, wenn wir die Hilfe nicht finden, diese Bastillen und Lügen- buden zu stürmen. Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen, soweit sie nicht im Materialismus beschlossen lagen, waren nie sonderlich neu. „Die Deutschen mögen sagen was sie wollen“, weiss schon Lichtenberg, „so kann nicht geleugnet werden, dass unsere Gelehrsamkeit mehr darin besteht, recht gut inne zu haben, was zu einer Wissenschaft gehört, und zumal deutlich angeben zu können, was dieser und jener darin getan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken. Selbst unter unsern grössten Schriftstellern gibt es welche, die eigentlich nur das, was man schon wusste, gut geordnet wieder drucken lassen“ ¹⁹³⁾ . Unter Hegel wurden die Wissen- schaften, die in früherer Zeit einmal dem Himmelreich dienten, „vernünftig“, die Weltgeschichte vernünftig, die Vernunft selber vernünftig, und man kann ruhig für vernünftig jeweilen preussisch-protestantisch setzen. Der germanisch- protestantische Vernunftstaat (oder die Destruktion der abend- ländischen Moral) wurde der Wissenschaften höchstes Prinzip, und was für eine jämmerliche Freiheit dabei übrig blieb, weiss jeder, der die Sophistik heutiger Berliner Philosophen und Philologen nicht für Tiefsinn hält, das Schicksal eines wahrhaft freien Gelehrten aber wie des Berliner Biologen G. F. Nicolai für ein Symptom. Vernunft in die Geschichte tragen, dieses höchste Ziel jeden Denkens im grossen Stil, — kann es darin bestehen, dass man die Vernunft aus den Tatsachen ableitet und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/128
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/128>, abgerufen am 23.11.2024.