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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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Sollte sich aber für die Entwickelungsgeschichte des Individuums als Inha-c. Der
Grundtypus
bildet sich
zuerst, dann
immer mehr
untergeord-
nete Varia-
tionen.

ber einer besondern organischen Form gar kein Gesetz auffinden lassen? Ich glau-
be, ja, und will versuchen, es aus folgenden Betrachtungen zu entwickeln. Die
Embryonen der Säugethiere, Vögel, Eidechsen und Schlangen, wahrscheinlich
auch der Schildkröten, sind in frühern Zuständen einander ungemein ähnlich im
Ganzen, so wie in der Entwickelung der einzelnen Theile, so ähnlich, dass man
oft die Embryonen nur nach der Grösse unterscheiden kann. Ich besitze zwei
kleine Embryonen in Weingeist, für die ich versäumt habe die Namen zu notiren,
und ich bin jetzt durchaus nicht im Stande, die Klasse zu bestimmen, der sie an-
gehören. Es können Eidechsen, kleine Vögel, oder ganz junge Säugethiere seyn
So übereinstimmend ist Kopf- und Rumpfbildung in diesen Thieren. Die Extre-
mitäten fehlen aber jenen Embryonen noch. Wären sie auch da, auf der ersten
Stufe der Ausbildung begriffen, so würden sie doch nichts lehren, da die Füsse
der Eidechsen und Säugethiere, die Flügel und Füsse der Vögel, so wie die Hände
und Füsse der Menschen sich aus derselben Grandform entwickeln. Je weiter wir
also in der Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere zurückgehen, desto ähn-
licher finden wir die Embryonen im Ganzen und in den einzelnen Theilen. Erst
allmählig treten die Charactere hervor, welche die grössern, und dann die, welche
die kleinern Abtheilungen der Wirbelthiere bezeichnen. Aus einem allgemeinern
Typus bildet sich also der speciellere hervor.
Das bezeugt die Entwickelung des
Hühnchens in jedem Momente. Im Anfange ist es, wenn der Rücken sich schliesst,
Wirbelthier, und nichts weiter. Indem es sich vom Dotter abschnürt, die Kie-
menplatten verwachsen und der Harnsack hervortritt, zeigt es sich als Wirbel-
thier, das nicht frei im Wasser leben kann. Erst später wachsen die beiden
Blinddärme heraus, es tritt ein Unterschied in den Extremitäten ein und der Schna-
bel wächst hervor; die Lungen rücken nach oben; die Luftsäcke sind in der An-
lage kenntlich, und man kann nicht mehr zweifeln, dass man einen Vogel vor sich
habe. Während sich der Vogelcharakter durch weitere Entwickelung der Flügel
und Luftsäcke durch Verwachsung der Mittelfussknorpel u. s. w. noch mehr aus-
bildet, verliert sich die Schwimmhaut, und man erkennt einen Landvogel. Der
Schnabel, die Füsse gehen aus einer allgemeinen Form in eine besondere über,
der Kropf bildet sich aus, der Magen hatte sich schon früher in zwei Höhlen ge-
schieden, die Nasenschuppe erscheint. Der Vogel erhält den Character der Hüh-
nervögel und endlich des Haushuhnes.

Eine unmittelbare Folge, ja nur ein veränderter Ausdruck des oben Ge-d. Je weni-
ger die Ent-
wickelung
vorgeschrit.

zeigten ist es, wenn wir sagen: Je verschiedener zwei Thierformen sind, um desto
mehr muss man in der Entwickelungsgeschichte zurückgehen, um eine Ueberein-

Sollte sich aber für die Entwickelungsgeschichte des Individuums als Inha-c. Der
Grundtypus
bildet sich
zuerst, dann
immer mehr
untergeord-
nete Varia-
tionen.

ber einer besondern organischen Form gar kein Gesetz auffinden lassen? Ich glau-
be, ja, und will versuchen, es aus folgenden Betrachtungen zu entwickeln. Die
Embryonen der Säugethiere, Vögel, Eidechsen und Schlangen, wahrscheinlich
auch der Schildkröten, sind in frühern Zuständen einander ungemein ähnlich im
Ganzen, so wie in der Entwickelung der einzelnen Theile, so ähnlich, daſs man
oft die Embryonen nur nach der Gröſse unterscheiden kann. Ich besitze zwei
kleine Embryonen in Weingeist, für die ich versäumt habe die Namen zu notiren,
und ich bin jetzt durchaus nicht im Stande, die Klasse zu bestimmen, der sie an-
gehören. Es können Eidechsen, kleine Vögel, oder ganz junge Säugethiere seyn
So übereinstimmend ist Kopf- und Rumpfbildung in diesen Thieren. Die Extre-
mitäten fehlen aber jenen Embryonen noch. Wären sie auch da, auf der ersten
Stufe der Ausbildung begriffen, so würden sie doch nichts lehren, da die Füſse
der Eidechsen und Säugethiere, die Flügel und Füſse der Vögel, so wie die Hände
und Füſse der Menschen sich aus derselben Grandform entwickeln. Je weiter wir
also in der Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere zurückgehen, desto ähn-
licher finden wir die Embryonen im Ganzen und in den einzelnen Theilen. Erst
allmählig treten die Charactere hervor, welche die gröſsern, und dann die, welche
die kleinern Abtheilungen der Wirbelthiere bezeichnen. Aus einem allgemeinern
Typus bildet sich also der speciellere hervor.
Das bezeugt die Entwickelung des
Hühnchens in jedem Momente. Im Anfange ist es, wenn der Rücken sich schlieſst,
Wirbelthier, und nichts weiter. Indem es sich vom Dotter abschnürt, die Kie-
menplatten verwachsen und der Harnsack hervortritt, zeigt es sich als Wirbel-
thier, das nicht frei im Wasser leben kann. Erst später wachsen die beiden
Blinddärme heraus, es tritt ein Unterschied in den Extremitäten ein und der Schna-
bel wächst hervor; die Lungen rücken nach oben; die Luftsäcke sind in der An-
lage kenntlich, und man kann nicht mehr zweifeln, daſs man einen Vogel vor sich
habe. Während sich der Vogelcharakter durch weitere Entwickelung der Flügel
und Luftsäcke durch Verwachsung der Mittelfuſsknorpel u. s. w. noch mehr aus-
bildet, verliert sich die Schwimmhaut, und man erkennt einen Landvogel. Der
Schnabel, die Füſse gehen aus einer allgemeinen Form in eine besondere über,
der Kropf bildet sich aus, der Magen hatte sich schon früher in zwei Höhlen ge-
schieden, die Nasenschuppe erscheint. Der Vogel erhält den Character der Hüh-
nervögel und endlich des Haushuhnes.

Eine unmittelbare Folge, ja nur ein veränderter Ausdruck des oben Ge-d. Je weni-
ger die Ent-
wickelung
vorgeschrit.

zeigten ist es, wenn wir sagen: Je verschiedener zwei Thierformen sind, um desto
mehr muſs man in der Entwickelungsgeschichte zurückgehen, um eine Ueberein-

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[221/0251] Sollte sich aber für die Entwickelungsgeschichte des Individuums als Inha- ber einer besondern organischen Form gar kein Gesetz auffinden lassen? Ich glau- be, ja, und will versuchen, es aus folgenden Betrachtungen zu entwickeln. Die Embryonen der Säugethiere, Vögel, Eidechsen und Schlangen, wahrscheinlich auch der Schildkröten, sind in frühern Zuständen einander ungemein ähnlich im Ganzen, so wie in der Entwickelung der einzelnen Theile, so ähnlich, daſs man oft die Embryonen nur nach der Gröſse unterscheiden kann. Ich besitze zwei kleine Embryonen in Weingeist, für die ich versäumt habe die Namen zu notiren, und ich bin jetzt durchaus nicht im Stande, die Klasse zu bestimmen, der sie an- gehören. Es können Eidechsen, kleine Vögel, oder ganz junge Säugethiere seyn So übereinstimmend ist Kopf- und Rumpfbildung in diesen Thieren. Die Extre- mitäten fehlen aber jenen Embryonen noch. Wären sie auch da, auf der ersten Stufe der Ausbildung begriffen, so würden sie doch nichts lehren, da die Füſse der Eidechsen und Säugethiere, die Flügel und Füſse der Vögel, so wie die Hände und Füſse der Menschen sich aus derselben Grandform entwickeln. Je weiter wir also in der Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere zurückgehen, desto ähn- licher finden wir die Embryonen im Ganzen und in den einzelnen Theilen. Erst allmählig treten die Charactere hervor, welche die gröſsern, und dann die, welche die kleinern Abtheilungen der Wirbelthiere bezeichnen. Aus einem allgemeinern Typus bildet sich also der speciellere hervor. Das bezeugt die Entwickelung des Hühnchens in jedem Momente. Im Anfange ist es, wenn der Rücken sich schlieſst, Wirbelthier, und nichts weiter. Indem es sich vom Dotter abschnürt, die Kie- menplatten verwachsen und der Harnsack hervortritt, zeigt es sich als Wirbel- thier, das nicht frei im Wasser leben kann. Erst später wachsen die beiden Blinddärme heraus, es tritt ein Unterschied in den Extremitäten ein und der Schna- bel wächst hervor; die Lungen rücken nach oben; die Luftsäcke sind in der An- lage kenntlich, und man kann nicht mehr zweifeln, daſs man einen Vogel vor sich habe. Während sich der Vogelcharakter durch weitere Entwickelung der Flügel und Luftsäcke durch Verwachsung der Mittelfuſsknorpel u. s. w. noch mehr aus- bildet, verliert sich die Schwimmhaut, und man erkennt einen Landvogel. Der Schnabel, die Füſse gehen aus einer allgemeinen Form in eine besondere über, der Kropf bildet sich aus, der Magen hatte sich schon früher in zwei Höhlen ge- schieden, die Nasenschuppe erscheint. Der Vogel erhält den Character der Hüh- nervögel und endlich des Haushuhnes. c. Der Grundtypus bildet sich zuerst, dann immer mehr untergeord- nete Varia- tionen. Eine unmittelbare Folge, ja nur ein veränderter Ausdruck des oben Ge- zeigten ist es, wenn wir sagen: Je verschiedener zwei Thierformen sind, um desto mehr muſs man in der Entwickelungsgeschichte zurückgehen, um eine Ueberein- d. Je weni- ger die Ent- wickelung vorgeschrit.

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/251>, abgerufen am 22.11.2024.