systematischen polizeischriftlichen Characteren übereinstimmen. Es ist möglich, daß der Geist gleicher Hinterlist und Verschlagenheit auf gleiche oder doch ähnliche Formen der Ausdrucksweise verfallen kann: man mag diese Aehnlichkeiten immerhin nur als bloße Zu- fälligkeiten nehmen. Niemals darf man aber vergessen, daß die Polizeischrift, wenn auch streng systematisch redigirt und geheim gehalten, doch auf den schon volksthümlich gewordenen Typen alter kabbalistischer Formen beruht und daß dem Gaunerthum mit seinem scharf- und weitsehenden, höchst objectiven Blick kaum irgend- eine Spielerei und Schwäche des Volks entging, welche es nicht zur Erhaltung seiner Existenz und Eigenthümlichkeit auszubeuten verstanden hätte. So läßt sich denn -- und das ist charakteristisch für alle Gaunersprachen -- ein allgemeines Gaunerzinkensystem nicht entdecken. Kaum kann von einem allgemeinen Diebszeichen, dem Pfeil, als Zeichen der behenden Schnelligkeit, oder von einem allgemeinen Zinken der Besorgniß vor Gefangenschaft, Th. II, S. 61
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oder der gelungenen That
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die Rede sein. Wenn ja eine umfassendere Zinkenverständigung stattfindet, die man jedoch niemals mit Grund systematisch nennen darf, so ist und bleibt sie doch immer auf eine bestimmte einzelne Gaunergruppe und höchstens auf eine größere Stadt als verab- redete Verständigung beschränkt. Von solchen Verständigungen findet man allerdings viele Spuren, ohne jedoch über das Ganze jemals klar geworden zu sein, da ohnehin aus gaunerpolitischen Rücksich- ten die Zinken häufig wechseln. Aber immer, selbst in der größten Willkür und Verwilderung, findet man dieselben alten, wenn auch ganz verwehten und verschollenen Anklänge. Frappant ist der spöttische Humor des wackern London Antiquary1), wenn er
1) "A dictionary of modern slang, cant and vulgar words used at the present day in the streets of London" u. s. w. (London 1859).
ſyſtematiſchen polizeiſchriftlichen Characteren übereinſtimmen. Es iſt möglich, daß der Geiſt gleicher Hinterliſt und Verſchlagenheit auf gleiche oder doch ähnliche Formen der Ausdrucksweiſe verfallen kann: man mag dieſe Aehnlichkeiten immerhin nur als bloße Zu- fälligkeiten nehmen. Niemals darf man aber vergeſſen, daß die Polizeiſchrift, wenn auch ſtreng ſyſtematiſch redigirt und geheim gehalten, doch auf den ſchon volksthümlich gewordenen Typen alter kabbaliſtiſcher Formen beruht und daß dem Gaunerthum mit ſeinem ſcharf- und weitſehenden, höchſt objectiven Blick kaum irgend- eine Spielerei und Schwäche des Volks entging, welche es nicht zur Erhaltung ſeiner Exiſtenz und Eigenthümlichkeit auszubeuten verſtanden hätte. So läßt ſich denn — und das iſt charakteriſtiſch für alle Gaunerſprachen — ein allgemeines Gaunerzinkenſyſtem nicht entdecken. Kaum kann von einem allgemeinen Diebszeichen, dem Pfeil, als Zeichen der behenden Schnelligkeit, oder von einem allgemeinen Zinken der Beſorgniß vor Gefangenſchaft, Th. II, S. 61
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oder der gelungenen That
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die Rede ſein. Wenn ja eine umfaſſendere Zinkenverſtändigung ſtattfindet, die man jedoch niemals mit Grund ſyſtematiſch nennen darf, ſo iſt und bleibt ſie doch immer auf eine beſtimmte einzelne Gaunergruppe und höchſtens auf eine größere Stadt als verab- redete Verſtändigung beſchränkt. Von ſolchen Verſtändigungen findet man allerdings viele Spuren, ohne jedoch über das Ganze jemals klar geworden zu ſein, da ohnehin aus gaunerpolitiſchen Rückſich- ten die Zinken häufig wechſeln. Aber immer, ſelbſt in der größten Willkür und Verwilderung, findet man dieſelben alten, wenn auch ganz verwehten und verſchollenen Anklänge. Frappant iſt der ſpöttiſche Humor des wackern London Antiquary1), wenn er
1) „A dictionary of modern slang, cant and vulgar words used at the present day in the streets of London“ u. ſ. w. (London 1859).
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ſyſtematiſchen polizeiſchriftlichen Characteren übereinſtimmen. Es
iſt möglich, daß der Geiſt gleicher Hinterliſt und Verſchlagenheit
auf gleiche oder doch ähnliche Formen der Ausdrucksweiſe verfallen
kann: man mag dieſe Aehnlichkeiten immerhin nur als bloße Zu-
fälligkeiten nehmen. Niemals darf man aber vergeſſen, daß die
Polizeiſchrift, wenn auch ſtreng ſyſtematiſch redigirt und geheim
gehalten, doch auf den ſchon volksthümlich gewordenen Typen
alter kabbaliſtiſcher Formen beruht und daß dem Gaunerthum mit
ſeinem ſcharf- und weitſehenden, höchſt objectiven Blick kaum irgend-
eine Spielerei und Schwäche des Volks entging, welche es nicht
zur Erhaltung ſeiner Exiſtenz und Eigenthümlichkeit auszubeuten
verſtanden hätte. So läßt ſich denn — und das iſt charakteriſtiſch
für alle Gaunerſprachen — ein allgemeines Gaunerzinkenſyſtem
nicht entdecken. Kaum kann von einem allgemeinen Diebszeichen,
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allgemeinen Zinken der Beſorgniß vor Gefangenſchaft, Th. II, S. 61
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ſtattfindet, die man jedoch niemals mit Grund ſyſtematiſch nennen
darf, ſo iſt und bleibt ſie doch immer auf eine beſtimmte einzelne
Gaunergruppe und höchſtens auf eine größere Stadt als verab-
redete Verſtändigung beſchränkt. Von ſolchen Verſtändigungen findet
man allerdings viele Spuren, ohne jedoch über das Ganze jemals
klar geworden zu ſein, da ohnehin aus gaunerpolitiſchen Rückſich-
ten die Zinken häufig wechſeln. Aber immer, ſelbſt in der größten
Willkür und Verwilderung, findet man dieſelben alten, wenn auch
ganz verwehten und verſchollenen Anklänge. Frappant iſt der
ſpöttiſche Humor des wackern London Antiquary 1), wenn er
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/48>, abgerufen am 16.07.2024.
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