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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

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freiheit zu begegnen weiß. Völlig unglaublich erscheint es, was
geschulte Gauner bei solcher Gelegenheit sich herausnehmen. Mit
ehrbarem Gesicht und stoischer Ruhe sagen sie, sobald sie ihren
Mann erkannt haben, ihm die tollsten Schimpfwörter ins Gesicht,
welche sie als ehrerbietige gaunerbräuchliche Reden und Titel erklä-
ren und oftmals vom eifrigen Vocabelsammler obendrein zu Papier
bringen lassen. Was für Dinge findet man bei den rotwelschen
Epigonen niedergeschrieben und erläutert, welche nicht blos ab-
schreiben, sondern auch aus Gaunermunde, "aus eigenen prakti-
schen Erfahrungen" sammeln wollten! Diese rotwelschen Epigonen
haben mitunter eine Linguistik, welche an die famose Jdeographie
der Peaux-Rouges des Abts Domenech erinnert und über welche
das köstliche Büchlein von J. Petzoldt, "Das Buch der Wilden
im Lichte französischer Civilisation" (Dresden 1861) eine brillante
Beleuchtung gibt!

Die unter dem Scheine treuherziger Enthüllung gewagten
Mystificationen sind immer eine ernste Mahnung für die Kritik,
stets auch die Gelegenheit und die Persönlichkeit der Redaction
einer angeblichen gaunersprachlichen Offenbarung scharf ins Auge
zu fassen. Es ist schon gezeigt worden, daß bei der Gaunersprache
die etymologische Untersuchung allein nicht ausreicht. Die Lin-
guistik der Gaunersprache außerhalb des Gaunerthums steht bei
diesem in sehr schlechtem Credit. Darum ist es auch viel weniger
für Wahrheit und Zufälligkeit als für den Ausdruck der ver-
wegensten Sicherheit des Gaunerthums zu halten, daß die Gauner
in jüngster Zeit die alten gewöhnlichen Personen- und Beinamen
zu verwerfen angefangen haben und unter Namen auftreten und
steckbrieflich verfolgt werden, welche bei genauer Untersuchung sich
mindestens als appellative jüdischdeutsche substantivische Begriffs-
wörter, wenn nicht sogar als gaunertechnische Betriebsausdrücke
erweisen. 1) Der genaue Aufmerk auf Steckbriefe spart hier die An-
führung specieller Beispiele, welche auf die sehr schlimm irrende
Person und Behörde zurückführen müßten.

1) Vgl. hierzu das Th. III, S. 409, Note 2, bereits Gesagte.

freiheit zu begegnen weiß. Völlig unglaublich erſcheint es, was
geſchulte Gauner bei ſolcher Gelegenheit ſich herausnehmen. Mit
ehrbarem Geſicht und ſtoiſcher Ruhe ſagen ſie, ſobald ſie ihren
Mann erkannt haben, ihm die tollſten Schimpfwörter ins Geſicht,
welche ſie als ehrerbietige gaunerbräuchliche Reden und Titel erklä-
ren und oftmals vom eifrigen Vocabelſammler obendrein zu Papier
bringen laſſen. Was für Dinge findet man bei den rotwelſchen
Epigonen niedergeſchrieben und erläutert, welche nicht blos ab-
ſchreiben, ſondern auch aus Gaunermunde, „aus eigenen prakti-
ſchen Erfahrungen“ ſammeln wollten! Dieſe rotwelſchen Epigonen
haben mitunter eine Linguiſtik, welche an die famoſe Jdeographie
der Peaux-Rouges des Abts Domenech erinnert und über welche
das köſtliche Büchlein von J. Petzoldt, „Das Buch der Wilden
im Lichte franzöſiſcher Civiliſation“ (Dresden 1861) eine brillante
Beleuchtung gibt!

Die unter dem Scheine treuherziger Enthüllung gewagten
Myſtificationen ſind immer eine ernſte Mahnung für die Kritik,
ſtets auch die Gelegenheit und die Perſönlichkeit der Redaction
einer angeblichen gaunerſprachlichen Offenbarung ſcharf ins Auge
zu faſſen. Es iſt ſchon gezeigt worden, daß bei der Gaunerſprache
die etymologiſche Unterſuchung allein nicht ausreicht. Die Lin-
guiſtik der Gaunerſprache außerhalb des Gaunerthums ſteht bei
dieſem in ſehr ſchlechtem Credit. Darum iſt es auch viel weniger
für Wahrheit und Zufälligkeit als für den Ausdruck der ver-
wegenſten Sicherheit des Gaunerthums zu halten, daß die Gauner
in jüngſter Zeit die alten gewöhnlichen Perſonen- und Beinamen
zu verwerfen angefangen haben und unter Namen auftreten und
ſteckbrieflich verfolgt werden, welche bei genauer Unterſuchung ſich
mindeſtens als appellative jüdiſchdeutſche ſubſtantiviſche Begriffs-
wörter, wenn nicht ſogar als gaunertechniſche Betriebsausdrücke
erweiſen. 1) Der genaue Aufmerk auf Steckbriefe ſpart hier die An-
führung ſpecieller Beiſpiele, welche auf die ſehr ſchlimm irrende
Perſon und Behörde zurückführen müßten.

1) Vgl. hierzu das Th. III, S. 409, Note 2, bereits Geſagte.
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[316/0328] freiheit zu begegnen weiß. Völlig unglaublich erſcheint es, was geſchulte Gauner bei ſolcher Gelegenheit ſich herausnehmen. Mit ehrbarem Geſicht und ſtoiſcher Ruhe ſagen ſie, ſobald ſie ihren Mann erkannt haben, ihm die tollſten Schimpfwörter ins Geſicht, welche ſie als ehrerbietige gaunerbräuchliche Reden und Titel erklä- ren und oftmals vom eifrigen Vocabelſammler obendrein zu Papier bringen laſſen. Was für Dinge findet man bei den rotwelſchen Epigonen niedergeſchrieben und erläutert, welche nicht blos ab- ſchreiben, ſondern auch aus Gaunermunde, „aus eigenen prakti- ſchen Erfahrungen“ ſammeln wollten! Dieſe rotwelſchen Epigonen haben mitunter eine Linguiſtik, welche an die famoſe Jdeographie der Peaux-Rouges des Abts Domenech erinnert und über welche das köſtliche Büchlein von J. Petzoldt, „Das Buch der Wilden im Lichte franzöſiſcher Civiliſation“ (Dresden 1861) eine brillante Beleuchtung gibt! Die unter dem Scheine treuherziger Enthüllung gewagten Myſtificationen ſind immer eine ernſte Mahnung für die Kritik, ſtets auch die Gelegenheit und die Perſönlichkeit der Redaction einer angeblichen gaunerſprachlichen Offenbarung ſcharf ins Auge zu faſſen. Es iſt ſchon gezeigt worden, daß bei der Gaunerſprache die etymologiſche Unterſuchung allein nicht ausreicht. Die Lin- guiſtik der Gaunerſprache außerhalb des Gaunerthums ſteht bei dieſem in ſehr ſchlechtem Credit. Darum iſt es auch viel weniger für Wahrheit und Zufälligkeit als für den Ausdruck der ver- wegenſten Sicherheit des Gaunerthums zu halten, daß die Gauner in jüngſter Zeit die alten gewöhnlichen Perſonen- und Beinamen zu verwerfen angefangen haben und unter Namen auftreten und ſteckbrieflich verfolgt werden, welche bei genauer Unterſuchung ſich mindeſtens als appellative jüdiſchdeutſche ſubſtantiviſche Begriffs- wörter, wenn nicht ſogar als gaunertechniſche Betriebsausdrücke erweiſen. 1) Der genaue Aufmerk auf Steckbriefe ſpart hier die An- führung ſpecieller Beiſpiele, welche auf die ſehr ſchlimm irrende Perſon und Behörde zurückführen müßten. 1) Vgl. hierzu das Th. III, S. 409, Note 2, bereits Geſagte.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/328>, abgerufen am 24.11.2024.