Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite

in Gestalt eines Bettlers, mit sehr zerrissenen Kleidern, umherge-
gangen, da er doch sehr viel Geld gehabt. Dahero auch seine
Schwiegermutter offt zu ihm gesagt: "er solle es eben so machen,
und äusserlich nicht so staatisch sich aufführen". Endlich wäre fast
kein Krämer oder kurzer Waaren-Händler, welcher auf dem Lande
ginge, der nicht ein Dieb wäre, oder doch mit denen Dieben ein-
hielte, Diebstähle aussähe, angäbe, und von denen Dieben gestoh-
lene Waaren annähme."

Kaum ist es nöthig, auf die Versicherung Schwartzmüller's
hinzuweisen, "daß er die volle Wahrheit offenbart habe und darauf
sterben wolle". Man muß beim genauern Ueberblick des merk-
würdigen Ganzen erkennen, daß hier das Gaunerthum in seiner
umfassenden innern, äußern, sittlichen und sprachlichen Mächtigkeit
als durchaus fertiges, vollendetes Ganzes dasteht. Hier kann nicht
mehr der bloße ängstliche, unsichere Glaube an das Gaunerthum
sein, der bis dahin nur gar zu oft und gern Unglaube sein mochte
und darum sich hinter den Aberglauben versteckte: hier ist die volle
unverhüllte Wahrheit des Gaunerthums selbst offenbart, welche
aber doch erst um ein ganzes Menschenalter später der wackere
unvergeßliche Georg Jakob Schäffer mit seiner wunderbaren gei-
stigen Gewalt in ganzer Vollkommenheit begreifen und aus dem
tiefsten Grunde vor Augen zu legen verstand. Jmmer aber bleibt
die so geräuschlos wie kernig geführte und leider so sehr vergessene
hildburghausener Untersuchung mit ihrer "Actenmäßigen Nachricht"
sowol in strafrechtlicher als in culturhistorischer und linguistischer
Hinsicht eine höchst bedeutende Erscheinung.

Jn linguistischer Hinsicht bietet das 422 Vocabeln enthaltende
Wörterbuch eine reiche und interessante Lese dar. Das Deutsch-
dialektische macht sich überall geltend und verfärbt auch besonders
die fremdsprachlichen Wortzuthaten oft bis zur Unkenntlichkeit. Jn
den Metaphern tritt die volle volks- und gaunerthümliche Laune
und Jronie sehr bemerkbar hervor. Manche Wörter haben eine
ganz besondere topische und personelle Beziehung, weshalb denn
auch einzelne nicht einmal zu erklären sind. Auch manche schon
allzu bekannt gewordene, früher übliche Vocabeln fehlen hier und

in Geſtalt eines Bettlers, mit ſehr zerriſſenen Kleidern, umherge-
gangen, da er doch ſehr viel Geld gehabt. Dahero auch ſeine
Schwiegermutter offt zu ihm geſagt: «er ſolle es eben ſo machen,
und äuſſerlich nicht ſo ſtaatiſch ſich aufführen». Endlich wäre faſt
kein Krämer oder kurzer Waaren-Händler, welcher auf dem Lande
ginge, der nicht ein Dieb wäre, oder doch mit denen Dieben ein-
hielte, Diebſtähle ausſähe, angäbe, und von denen Dieben geſtoh-
lene Waaren annähme.“

Kaum iſt es nöthig, auf die Verſicherung Schwartzmüller’s
hinzuweiſen, „daß er die volle Wahrheit offenbart habe und darauf
ſterben wolle“. Man muß beim genauern Ueberblick des merk-
würdigen Ganzen erkennen, daß hier das Gaunerthum in ſeiner
umfaſſenden innern, äußern, ſittlichen und ſprachlichen Mächtigkeit
als durchaus fertiges, vollendetes Ganzes daſteht. Hier kann nicht
mehr der bloße ängſtliche, unſichere Glaube an das Gaunerthum
ſein, der bis dahin nur gar zu oft und gern Unglaube ſein mochte
und darum ſich hinter den Aberglauben verſteckte: hier iſt die volle
unverhüllte Wahrheit des Gaunerthums ſelbſt offenbart, welche
aber doch erſt um ein ganzes Menſchenalter ſpäter der wackere
unvergeßliche Georg Jakob Schäffer mit ſeiner wunderbaren gei-
ſtigen Gewalt in ganzer Vollkommenheit begreifen und aus dem
tiefſten Grunde vor Augen zu legen verſtand. Jmmer aber bleibt
die ſo geräuſchlos wie kernig geführte und leider ſo ſehr vergeſſene
hildburghauſener Unterſuchung mit ihrer „Actenmäßigen Nachricht“
ſowol in ſtrafrechtlicher als in culturhiſtoriſcher und linguiſtiſcher
Hinſicht eine höchſt bedeutende Erſcheinung.

Jn linguiſtiſcher Hinſicht bietet das 422 Vocabeln enthaltende
Wörterbuch eine reiche und intereſſante Leſe dar. Das Deutſch-
dialektiſche macht ſich überall geltend und verfärbt auch beſonders
die fremdſprachlichen Wortzuthaten oft bis zur Unkenntlichkeit. Jn
den Metaphern tritt die volle volks- und gaunerthümliche Laune
und Jronie ſehr bemerkbar hervor. Manche Wörter haben eine
ganz beſondere topiſche und perſonelle Beziehung, weshalb denn
auch einzelne nicht einmal zu erklären ſind. Auch manche ſchon
allzu bekannt gewordene, früher übliche Vocabeln fehlen hier und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0162" n="150"/>
in Ge&#x017F;talt eines Bettlers, mit &#x017F;ehr zerri&#x017F;&#x017F;enen Kleidern, umherge-<lb/>
gangen, da er doch &#x017F;ehr viel Geld gehabt. Dahero auch &#x017F;eine<lb/>
Schwiegermutter offt zu ihm ge&#x017F;agt: «er &#x017F;olle es eben &#x017F;o machen,<lb/>
und äu&#x017F;&#x017F;erlich nicht &#x017F;o &#x017F;taati&#x017F;ch &#x017F;ich aufführen». Endlich wäre fa&#x017F;t<lb/>
kein Krämer oder kurzer Waaren-Händler, welcher auf dem Lande<lb/>
ginge, der nicht ein Dieb wäre, oder doch mit denen Dieben ein-<lb/>
hielte, Dieb&#x017F;tähle aus&#x017F;ähe, angäbe, und von denen Dieben ge&#x017F;toh-<lb/>
lene Waaren annähme.&#x201C;</p><lb/>
                <p>Kaum i&#x017F;t es nöthig, auf die Ver&#x017F;icherung Schwartzmüller&#x2019;s<lb/>
hinzuwei&#x017F;en, &#x201E;daß er die volle Wahrheit offenbart habe und darauf<lb/>
&#x017F;terben wolle&#x201C;. Man muß beim genauern Ueberblick des merk-<lb/>
würdigen Ganzen erkennen, daß hier das Gaunerthum in &#x017F;einer<lb/>
umfa&#x017F;&#x017F;enden innern, äußern, &#x017F;ittlichen und &#x017F;prachlichen Mächtigkeit<lb/>
als durchaus fertiges, vollendetes Ganzes da&#x017F;teht. Hier kann nicht<lb/>
mehr der bloße äng&#x017F;tliche, un&#x017F;ichere Glaube an das Gaunerthum<lb/>
&#x017F;ein, der bis dahin nur gar zu oft und gern Unglaube &#x017F;ein mochte<lb/>
und darum &#x017F;ich hinter den Aberglauben ver&#x017F;teckte: hier i&#x017F;t die volle<lb/>
unverhüllte Wahrheit des Gaunerthums &#x017F;elb&#x017F;t offenbart, welche<lb/>
aber doch er&#x017F;t um ein ganzes Men&#x017F;chenalter &#x017F;päter der wackere<lb/>
unvergeßliche Georg Jakob Schäffer mit &#x017F;einer wunderbaren gei-<lb/>
&#x017F;tigen Gewalt in ganzer Vollkommenheit begreifen und aus dem<lb/>
tief&#x017F;ten Grunde vor Augen zu legen ver&#x017F;tand. Jmmer aber bleibt<lb/>
die &#x017F;o geräu&#x017F;chlos wie kernig geführte und leider &#x017F;o &#x017F;ehr verge&#x017F;&#x017F;ene<lb/>
hildburghau&#x017F;ener Unter&#x017F;uchung mit ihrer &#x201E;Actenmäßigen Nachricht&#x201C;<lb/>
&#x017F;owol in &#x017F;trafrechtlicher als in culturhi&#x017F;tori&#x017F;cher und lingui&#x017F;ti&#x017F;cher<lb/>
Hin&#x017F;icht eine höch&#x017F;t bedeutende Er&#x017F;cheinung.</p><lb/>
                <p>Jn lingui&#x017F;ti&#x017F;cher Hin&#x017F;icht bietet das 422 Vocabeln enthaltende<lb/>
Wörterbuch eine reiche und intere&#x017F;&#x017F;ante Le&#x017F;e dar. Das Deut&#x017F;ch-<lb/>
dialekti&#x017F;che macht &#x017F;ich überall geltend und verfärbt auch be&#x017F;onders<lb/>
die fremd&#x017F;prachlichen Wortzuthaten oft bis zur Unkenntlichkeit. Jn<lb/>
den Metaphern tritt die volle volks- und gaunerthümliche Laune<lb/>
und Jronie &#x017F;ehr bemerkbar hervor. Manche Wörter haben eine<lb/>
ganz be&#x017F;ondere topi&#x017F;che und per&#x017F;onelle Beziehung, weshalb denn<lb/>
auch einzelne nicht einmal zu erklären &#x017F;ind. Auch manche &#x017F;chon<lb/>
allzu bekannt gewordene, früher übliche Vocabeln fehlen hier und<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0162] in Geſtalt eines Bettlers, mit ſehr zerriſſenen Kleidern, umherge- gangen, da er doch ſehr viel Geld gehabt. Dahero auch ſeine Schwiegermutter offt zu ihm geſagt: «er ſolle es eben ſo machen, und äuſſerlich nicht ſo ſtaatiſch ſich aufführen». Endlich wäre faſt kein Krämer oder kurzer Waaren-Händler, welcher auf dem Lande ginge, der nicht ein Dieb wäre, oder doch mit denen Dieben ein- hielte, Diebſtähle ausſähe, angäbe, und von denen Dieben geſtoh- lene Waaren annähme.“ Kaum iſt es nöthig, auf die Verſicherung Schwartzmüller’s hinzuweiſen, „daß er die volle Wahrheit offenbart habe und darauf ſterben wolle“. Man muß beim genauern Ueberblick des merk- würdigen Ganzen erkennen, daß hier das Gaunerthum in ſeiner umfaſſenden innern, äußern, ſittlichen und ſprachlichen Mächtigkeit als durchaus fertiges, vollendetes Ganzes daſteht. Hier kann nicht mehr der bloße ängſtliche, unſichere Glaube an das Gaunerthum ſein, der bis dahin nur gar zu oft und gern Unglaube ſein mochte und darum ſich hinter den Aberglauben verſteckte: hier iſt die volle unverhüllte Wahrheit des Gaunerthums ſelbſt offenbart, welche aber doch erſt um ein ganzes Menſchenalter ſpäter der wackere unvergeßliche Georg Jakob Schäffer mit ſeiner wunderbaren gei- ſtigen Gewalt in ganzer Vollkommenheit begreifen und aus dem tiefſten Grunde vor Augen zu legen verſtand. Jmmer aber bleibt die ſo geräuſchlos wie kernig geführte und leider ſo ſehr vergeſſene hildburghauſener Unterſuchung mit ihrer „Actenmäßigen Nachricht“ ſowol in ſtrafrechtlicher als in culturhiſtoriſcher und linguiſtiſcher Hinſicht eine höchſt bedeutende Erſcheinung. Jn linguiſtiſcher Hinſicht bietet das 422 Vocabeln enthaltende Wörterbuch eine reiche und intereſſante Leſe dar. Das Deutſch- dialektiſche macht ſich überall geltend und verfärbt auch beſonders die fremdſprachlichen Wortzuthaten oft bis zur Unkenntlichkeit. Jn den Metaphern tritt die volle volks- und gaunerthümliche Laune und Jronie ſehr bemerkbar hervor. Manche Wörter haben eine ganz beſondere topiſche und perſonelle Beziehung, weshalb denn auch einzelne nicht einmal zu erklären ſind. Auch manche ſchon allzu bekannt gewordene, früher übliche Vocabeln fehlen hier und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/162
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/162>, abgerufen am 22.11.2024.