sogenannten "Jüdischdeutschen Grammatik" im Judendeutsch das deutsche Sprachleben zu klarer Anschauung und Geltung zu brin- gen, und somit stillschweigend dem Judenthum ein Jdiom als specifisch jüdisches Eigenthum zuwiesen, welches durchaus deutsch- sprachliches Eigenthum war. So galt das Judendeutsch auf der einen Seite wesentlich für ein hebräisches Jdiom, an dessen Stu- dium nur der mit der hebräischen Sprache genau Vertraute sich wagen dürfe; auf der andern Seite bildete sich die verkehrte An- sicht immermehr aus, daß das Judendeutsch wesentlich identisch sei mit der Gaunersprache, sodaß sogar noch in neuester Zeit mit dem schiefen Glauben an ein specifisch jüdisches Gaunerthum auch der Glaube an eine specifisch jüdische Gaunersprache sich breit machen und in arger Unkunde sowol des Gaunerthums als auch des Judenthums und ihrer verschiedenen Sprachweise Thiele in seinen "Jüdischen Gaunern" noch mit einem eigenen Wörterbuch der jüdischen Gaunersprache hervorzutreten unternehmen konnte.
Die jüdischdeutsche Literatur war die einzige Volksliteratur, deren Besitz dem von allem deutschen Cultur- und literarischen Leben zurückgestoßenen Judenthum als Antheil am geistigen Volks- leben vergönnt war, weil sie ihre hebraisirende geheime, dem deutschen Volke unverständliche Ausdrucks- und Schriftform hatte. Das deutsche Volk ahnte nicht, daß auf der entlegenen öden Klippe dieser Literatur das Judenthum dennoch mit so vieler und mächtiger geistiger Eigenthümlichkeit aus seinen heiligen Büchern und den Lehren seiner Weisen sich sättigen, von dieser Klippe aus so tiefe Streifzüge auf das Gebiet der deutschen Nationalliteratur machen und sogar auch aus den alten deutschen Sagenkreisen her- aus noch eine eigene romantische jüdischdeutsche Literatur begrün- den konnte, die trotz der wunderlichen, kümmerlichen Formen doch poetischen Geist genug hatte, um bei fast jeder Zeile in dem Ken- ner des Jüdischdeutschen ein schmerzliches Weh hervorzurufen, wenn er, ungeachtet alles Drucks, ungeachtet der überall durchscheinen- den trüben Färbung unsaglichen Elends in Form und Ausdruck, dennoch begeistertes Gefühl und Streben nach Schönem und Höherm erkennen muß. Es gibt keinen deutschen Ernst, keinen
ſogenannten „Jüdiſchdeutſchen Grammatik“ im Judendeutſch das deutſche Sprachleben zu klarer Anſchauung und Geltung zu brin- gen, und ſomit ſtillſchweigend dem Judenthum ein Jdiom als ſpecifiſch jüdiſches Eigenthum zuwieſen, welches durchaus deutſch- ſprachliches Eigenthum war. So galt das Judendeutſch auf der einen Seite weſentlich für ein hebräiſches Jdiom, an deſſen Stu- dium nur der mit der hebräiſchen Sprache genau Vertraute ſich wagen dürfe; auf der andern Seite bildete ſich die verkehrte An- ſicht immermehr aus, daß das Judendeutſch weſentlich identiſch ſei mit der Gaunerſprache, ſodaß ſogar noch in neueſter Zeit mit dem ſchiefen Glauben an ein ſpecifiſch jüdiſches Gaunerthum auch der Glaube an eine ſpecifiſch jüdiſche Gaunerſprache ſich breit machen und in arger Unkunde ſowol des Gaunerthums als auch des Judenthums und ihrer verſchiedenen Sprachweiſe Thiele in ſeinen „Jüdiſchen Gaunern“ noch mit einem eigenen Wörterbuch der jüdiſchen Gaunerſprache hervorzutreten unternehmen konnte.
Die jüdiſchdeutſche Literatur war die einzige Volksliteratur, deren Beſitz dem von allem deutſchen Cultur- und literariſchen Leben zurückgeſtoßenen Judenthum als Antheil am geiſtigen Volks- leben vergönnt war, weil ſie ihre hebraiſirende geheime, dem deutſchen Volke unverſtändliche Ausdrucks- und Schriftform hatte. Das deutſche Volk ahnte nicht, daß auf der entlegenen öden Klippe dieſer Literatur das Judenthum dennoch mit ſo vieler und mächtiger geiſtiger Eigenthümlichkeit aus ſeinen heiligen Büchern und den Lehren ſeiner Weiſen ſich ſättigen, von dieſer Klippe aus ſo tiefe Streifzüge auf das Gebiet der deutſchen Nationalliteratur machen und ſogar auch aus den alten deutſchen Sagenkreiſen her- aus noch eine eigene romantiſche jüdiſchdeutſche Literatur begrün- den konnte, die trotz der wunderlichen, kümmerlichen Formen doch poetiſchen Geiſt genug hatte, um bei faſt jeder Zeile in dem Ken- ner des Jüdiſchdeutſchen ein ſchmerzliches Weh hervorzurufen, wenn er, ungeachtet alles Drucks, ungeachtet der überall durchſcheinen- den trüben Färbung unſaglichen Elends in Form und Ausdruck, dennoch begeiſtertes Gefühl und Streben nach Schönem und Höherm erkennen muß. Es gibt keinen deutſchen Ernſt, keinen
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ſogenannten „Jüdiſchdeutſchen Grammatik“ im Judendeutſch das
deutſche Sprachleben zu klarer Anſchauung und Geltung zu brin-
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ſpecifiſch jüdiſches Eigenthum zuwieſen, welches durchaus deutſch-
ſprachliches Eigenthum war. So galt das Judendeutſch auf der
einen Seite weſentlich für ein hebräiſches Jdiom, an deſſen Stu-
dium nur der mit der hebräiſchen Sprache genau Vertraute ſich
wagen dürfe; auf der andern Seite bildete ſich die verkehrte An-
ſicht immermehr aus, daß das Judendeutſch weſentlich identiſch
ſei mit der Gaunerſprache, ſodaß ſogar noch in neueſter Zeit mit
dem ſchiefen Glauben an ein ſpecifiſch jüdiſches Gaunerthum auch
der Glaube an eine ſpecifiſch jüdiſche Gaunerſprache ſich breit
machen und in arger Unkunde ſowol des Gaunerthums als auch
des Judenthums und ihrer verſchiedenen Sprachweiſe Thiele in
ſeinen „Jüdiſchen Gaunern“ noch mit einem eigenen Wörterbuch
der jüdiſchen Gaunerſprache hervorzutreten unternehmen konnte.
Die jüdiſchdeutſche Literatur war die einzige Volksliteratur,
deren Beſitz dem von allem deutſchen Cultur- und literariſchen
Leben zurückgeſtoßenen Judenthum als Antheil am geiſtigen Volks-
leben vergönnt war, weil ſie ihre hebraiſirende geheime, dem
deutſchen Volke unverſtändliche Ausdrucks- und Schriftform hatte.
Das deutſche Volk ahnte nicht, daß auf der entlegenen öden
Klippe dieſer Literatur das Judenthum dennoch mit ſo vieler und
mächtiger geiſtiger Eigenthümlichkeit aus ſeinen heiligen Büchern
und den Lehren ſeiner Weiſen ſich ſättigen, von dieſer Klippe aus
ſo tiefe Streifzüge auf das Gebiet der deutſchen Nationalliteratur
machen und ſogar auch aus den alten deutſchen Sagenkreiſen her-
aus noch eine eigene romantiſche jüdiſchdeutſche Literatur begrün-
den konnte, die trotz der wunderlichen, kümmerlichen Formen doch
poetiſchen Geiſt genug hatte, um bei faſt jeder Zeile in dem Ken-
ner des Jüdiſchdeutſchen ein ſchmerzliches Weh hervorzurufen, wenn
er, ungeachtet alles Drucks, ungeachtet der überall durchſcheinen-
den trüben Färbung unſaglichen Elends in Form und Ausdruck,
dennoch begeiſtertes Gefühl und Streben nach Schönem und
Höherm erkennen muß. Es gibt keinen deutſchen Ernſt, keinen
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/80>, abgerufen am 24.11.2024.
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