glauben, sich Raths erholt haben, trotzdem das unordentlich und verworren gehaltene und von Druckfehlern wimmelnde Buch im lexikalischen Haupttheile mit vorwiegend hebraisirender Richtung sich nur zu sehr auf das specifisch religiöse und bürgerliche Leben der deutschen Juden beschränkt und keineswegs der sogenannten "jüdischen Gaunersprache" Rechnung trägt. Diese letztere Rücksicht ist auch der Anlaß, weshalb der verständige Grolman Selig's Lehrbuch nur sehr discret benutzt hat, während Thiele, ohne ihn auch nur zu nennen, mit fast allen Redensarten, Beispielen und argen Druckfehlern ihn in das Wörterbuch seiner "Jüdischen Gauner" hineingezogen und somit, wenn auch aus Unwissenheit, die jüdisch- deutsche Sprache überhaupt zur Gaunersprache herabgerissen hat.
Die grammatische Darstellung im "Lehrbuch" verräth den gründ- lichen Kenner des Judendeutsch. Jnzwischen blickt der Meschum- mod überall durch. Leider ist aber Selig in der deutschen Sprache so wenig gewandt, daß er den einzelnen Gegenstand nie recht deutlich machen, und daß somit von einer präcisen, klaren Dar- stellung nicht die Rede sein kann. Auch ist unverkennbar, daß er die ganze jüdischdeutsche Sprache als eine specifisch jüdische Eigenthümlichkeit behandelt, ohne dem deutsch-volkssprachlichen Grundelemente Rechnung zu tragen. Von Lesebeispielen, welche doch so rasch und wesentlich in das Verständniß des Jüdischdeut- schen einführen, hat Selig nur eine einzige Druckseite gegeben, die treffliche Parabel des Rabbi Eliesar (aus dem Talmud Sabb., Kap. 24, Fol. 153) über die Teschuwa (Buße). Von der Current- schrift sind auf der angehängten Kupfertafel nur zwei kleine, sehr kümmerliche und incorrecte Proben vorhanden. Sehr werthvoll, wenn auch voll Druckfehler, ist dagegen die Erläuterung der he- bräischen Abbreviaturen, S. 65--127. Das Wörterbuch, S. 130 --345, gibt die hebräischen Stammwörter und die damit ver- wandten und abgeleiteten jüdischdeutschen Wörter in umfangreicher, oft aber auch incorrecter Weise. Häufig finden sich einzelne abgeleitete Wörter zweimal, ja einigemal sogar dreimal unter ver- schiedenen Stammwörtern. Die Worterklärung ist überall dürftig und kümmerlich, auch nicht selten unverständlich und nicht ganz
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glauben, ſich Raths erholt haben, trotzdem das unordentlich und verworren gehaltene und von Druckfehlern wimmelnde Buch im lexikaliſchen Haupttheile mit vorwiegend hebraiſirender Richtung ſich nur zu ſehr auf das ſpecifiſch religiöſe und bürgerliche Leben der deutſchen Juden beſchränkt und keineswegs der ſogenannten „jüdiſchen Gaunerſprache“ Rechnung trägt. Dieſe letztere Rückſicht iſt auch der Anlaß, weshalb der verſtändige Grolman Selig’s Lehrbuch nur ſehr discret benutzt hat, während Thiele, ohne ihn auch nur zu nennen, mit faſt allen Redensarten, Beiſpielen und argen Druckfehlern ihn in das Wörterbuch ſeiner „Jüdiſchen Gauner“ hineingezogen und ſomit, wenn auch aus Unwiſſenheit, die jüdiſch- deutſche Sprache überhaupt zur Gaunerſprache herabgeriſſen hat.
Die grammatiſche Darſtellung im „Lehrbuch“ verräth den gründ- lichen Kenner des Judendeutſch. Jnzwiſchen blickt der Meſchum- mod überall durch. Leider iſt aber Selig in der deutſchen Sprache ſo wenig gewandt, daß er den einzelnen Gegenſtand nie recht deutlich machen, und daß ſomit von einer präciſen, klaren Dar- ſtellung nicht die Rede ſein kann. Auch iſt unverkennbar, daß er die ganze jüdiſchdeutſche Sprache als eine ſpecifiſch jüdiſche Eigenthümlichkeit behandelt, ohne dem deutſch-volksſprachlichen Grundelemente Rechnung zu tragen. Von Leſebeiſpielen, welche doch ſo raſch und weſentlich in das Verſtändniß des Jüdiſchdeut- ſchen einführen, hat Selig nur eine einzige Druckſeite gegeben, die treffliche Parabel des Rabbi Elieſar (aus dem Talmud Sabb., Kap. 24, Fol. 153) über die Teſchuwa (Buße). Von der Current- ſchrift ſind auf der angehängten Kupfertafel nur zwei kleine, ſehr kümmerliche und incorrecte Proben vorhanden. Sehr werthvoll, wenn auch voll Druckfehler, iſt dagegen die Erläuterung der he- bräiſchen Abbreviaturen, S. 65—127. Das Wörterbuch, S. 130 —345, gibt die hebräiſchen Stammwörter und die damit ver- wandten und abgeleiteten jüdiſchdeutſchen Wörter in umfangreicher, oft aber auch incorrecter Weiſe. Häufig finden ſich einzelne abgeleitete Wörter zweimal, ja einigemal ſogar dreimal unter ver- ſchiedenen Stammwörtern. Die Worterklärung iſt überall dürftig und kümmerlich, auch nicht ſelten unverſtändlich und nicht ganz
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glauben, ſich Raths erholt haben, trotzdem das unordentlich und
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lexikaliſchen Haupttheile mit vorwiegend hebraiſirender Richtung
ſich nur zu ſehr auf das ſpecifiſch religiöſe und bürgerliche Leben
der deutſchen Juden beſchränkt und keineswegs der ſogenannten
„jüdiſchen Gaunerſprache“ Rechnung trägt. Dieſe letztere Rückſicht
iſt auch der Anlaß, weshalb der verſtändige Grolman Selig’s
Lehrbuch nur ſehr discret benutzt hat, während Thiele, ohne ihn
auch nur zu nennen, mit faſt allen Redensarten, Beiſpielen und
argen Druckfehlern ihn in das Wörterbuch ſeiner „Jüdiſchen Gauner“
hineingezogen und ſomit, wenn auch aus Unwiſſenheit, die jüdiſch-
deutſche Sprache überhaupt zur Gaunerſprache herabgeriſſen hat.
Die grammatiſche Darſtellung im „Lehrbuch“ verräth den gründ-
lichen Kenner des Judendeutſch. Jnzwiſchen blickt der Meſchum-
mod überall durch. Leider iſt aber Selig in der deutſchen Sprache
ſo wenig gewandt, daß er den einzelnen Gegenſtand nie recht
deutlich machen, und daß ſomit von einer präciſen, klaren Dar-
ſtellung nicht die Rede ſein kann. Auch iſt unverkennbar, daß
er die ganze jüdiſchdeutſche Sprache als eine ſpecifiſch jüdiſche
Eigenthümlichkeit behandelt, ohne dem deutſch-volksſprachlichen
Grundelemente Rechnung zu tragen. Von Leſebeiſpielen, welche
doch ſo raſch und weſentlich in das Verſtändniß des Jüdiſchdeut-
ſchen einführen, hat Selig nur eine einzige Druckſeite gegeben, die
treffliche Parabel des Rabbi Elieſar (aus dem Talmud Sabb.,
Kap. 24, Fol. 153) über die Teſchuwa (Buße). Von der Current-
ſchrift ſind auf der angehängten Kupfertafel nur zwei kleine, ſehr
kümmerliche und incorrecte Proben vorhanden. Sehr werthvoll,
wenn auch voll Druckfehler, iſt dagegen die Erläuterung der he-
bräiſchen Abbreviaturen, S. 65—127. Das Wörterbuch, S. 130
—345, gibt die hebräiſchen Stammwörter und die damit ver-
wandten und abgeleiteten jüdiſchdeutſchen Wörter in umfangreicher,
oft aber auch incorrecter Weiſe. Häufig finden ſich einzelne
abgeleitete Wörter zweimal, ja einigemal ſogar dreimal unter ver-
ſchiedenen Stammwörtern. Die Worterklärung iſt überall dürftig
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/261>, abgerufen am 23.11.2024.
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