Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite
Sechsunddreißigstes Kapitel.
l. Die Fieselsprache.

Zur vollständigen Aufklärung der Fieselsprache1) oder
Wiesenersprache bedarf es zunächst einer etymologischen Erklä-
rung des Wortes Fiesel oder richtiger Fisel. Kaum mag je
ein Wort zugleich im Volksgebrauch wie auch im Gaunermunde
bekannter und üblicher gewesen und doch der Forschung der Lin-
guisten, Polizeimänner und -- Gauner so beinahe gänzlich ent-
gangen sein, als das Wort Fisel. Es scheint schon im Althoch-
deutschen mit der Schreibung visel gebräuchlich gewesen und auch
da schon zur Bezeichnung des Männlichen überhaupt gebraucht
worden zu sein, wie z. B. in der Handschrift des 14. Jahrhun-
derts auf der baseler Bibliothek, Marter der heiligen Martina
vom Bruder Hugo von Langenstein, wo jedoch Wackernagel, "Alt-
hochdeutsches Lesebuch", DLXXXI, dem visel daselbst, S. 757,
Z. 28, die gezwungene Bedeutung des Augenzeugen beilegt.
Auch ist die Vergleichung daselbst mit waltwiser, mittellat. visor,
nicht verständlich. Die citirte Stelle lautet:

Er ist burge ond pfant
Gelt vnde och gisel
Da hilfet dekein visel
Gein dem helle wirte.

Jm Volksbrauch allerorten geht Fisel aber immer zurück auf
die Bedeutung von Faser, Ruthe und membrum genitale masculi,
vorzüglich tauri. Bei dieser Bedeutung läßt sich eine sehr nahe
Beziehung zu dem jüdischdeutschen pessil, [fremdsprachliches Material], pl. [fremdsprachliches Material] (vom he-
bräischen [fremdsprachliches Material], Faden, Schnur, Fessel, vgl. 4. Mose 19, 15
und besonders Richter 16, 9, von den zerrissenen Stricken oder
Fesseln des Simson, vom Stammworte [fremdsprachliches Material]), so wenig leugnen,
wie die Beziehung zu dem niederdeutschen Pesel, welches Richey,
"Idioticon Hamburgense", S. 184, allseitig treffend mit genitale

1) Davon der verstümmelte Ausdruck Fissensprache, Fischsprache.
Vgl. oben Mengisch, Messingsprache und weiter unten Galimatias.
Sechsunddreißigſtes Kapitel.
λ. Die Fieſelſprache.

Zur vollſtändigen Aufklärung der Fieſelſprache1) oder
Wieſenerſprache bedarf es zunächſt einer etymologiſchen Erklä-
rung des Wortes Fieſel oder richtiger Fiſel. Kaum mag je
ein Wort zugleich im Volksgebrauch wie auch im Gaunermunde
bekannter und üblicher geweſen und doch der Forſchung der Lin-
guiſten, Polizeimänner und — Gauner ſo beinahe gänzlich ent-
gangen ſein, als das Wort Fiſel. Es ſcheint ſchon im Althoch-
deutſchen mit der Schreibung visel gebräuchlich geweſen und auch
da ſchon zur Bezeichnung des Männlichen überhaupt gebraucht
worden zu ſein, wie z. B. in der Handſchrift des 14. Jahrhun-
derts auf der baſeler Bibliothek, Marter der heiligen Martina
vom Bruder Hugo von Langenſtein, wo jedoch Wackernagel, „Alt-
hochdeutſches Leſebuch“, DLXXXI, dem visel daſelbſt, S. 757,
Z. 28, die gezwungene Bedeutung des Augenzeugen beilegt.
Auch iſt die Vergleichung daſelbſt mit waltwiser, mittellat. visor,
nicht verſtändlich. Die citirte Stelle lautet:

Er ist burge ond pfant
Gelt vnde och gisel
Da hilfet dekein visel
Gein dem helle wirte.

Jm Volksbrauch allerorten geht Fiſel aber immer zurück auf
die Bedeutung von Faſer, Ruthe und membrum genitale masculi,
vorzüglich tauri. Bei dieſer Bedeutung läßt ſich eine ſehr nahe
Beziehung zu dem jüdiſchdeutſchen pessil, [fremdsprachliches Material], pl. [fremdsprachliches Material] (vom he-
bräiſchen [fremdsprachliches Material], Faden, Schnur, Feſſel, vgl. 4. Moſe 19, 15
und beſonders Richter 16, 9, von den zerriſſenen Stricken oder
Feſſeln des Simſon, vom Stammworte [fremdsprachliches Material]), ſo wenig leugnen,
wie die Beziehung zu dem niederdeutſchen Peſel, welches Richey,
Idioticon Hamburgense“, S. 184, allſeitig treffend mit genitale

1) Davon der verſtümmelte Ausdruck Fiſſenſprache, Fiſchſprache.
Vgl. oben Mengiſch, Meſſingſprache und weiter unten Galimatias.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0176" n="142"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#fr">Sechsunddreißig&#x017F;tes Kapitel.</hi><lb/>
&#x03BB;. <hi rendition="#b">Die Fie&#x017F;el&#x017F;prache.</hi></head><lb/>
            <p>Zur voll&#x017F;tändigen Aufklärung der <hi rendition="#g">Fie&#x017F;el&#x017F;prache</hi><note place="foot" n="1)">Davon der ver&#x017F;tümmelte Ausdruck <hi rendition="#g">Fi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;prache, Fi&#x017F;ch&#x017F;prache</hi>.<lb/>
Vgl. oben <hi rendition="#g">Mengi&#x017F;ch, Me&#x017F;&#x017F;ing&#x017F;prache</hi> und weiter unten <hi rendition="#g">Galimatias</hi>.</note> oder<lb/><hi rendition="#g">Wie&#x017F;ener&#x017F;prache</hi> bedarf es zunäch&#x017F;t einer etymologi&#x017F;chen Erklä-<lb/>
rung des Wortes <hi rendition="#g">Fie&#x017F;el</hi> oder richtiger <hi rendition="#g">Fi&#x017F;el</hi>. Kaum mag je<lb/>
ein Wort zugleich im Volksgebrauch wie auch im Gaunermunde<lb/>
bekannter und üblicher gewe&#x017F;en und doch der For&#x017F;chung der Lin-<lb/>
gui&#x017F;ten, Polizeimänner und &#x2014; Gauner &#x017F;o beinahe gänzlich ent-<lb/>
gangen &#x017F;ein, als das Wort <hi rendition="#g">Fi&#x017F;el</hi>. Es &#x017F;cheint &#x017F;chon im Althoch-<lb/>
deut&#x017F;chen mit der Schreibung <hi rendition="#aq">visel</hi> gebräuchlich gewe&#x017F;en und auch<lb/>
da &#x017F;chon zur Bezeichnung des <hi rendition="#g">Männlichen</hi> überhaupt gebraucht<lb/>
worden zu &#x017F;ein, wie z. B. in der Hand&#x017F;chrift des 14. Jahrhun-<lb/>
derts auf der ba&#x017F;eler Bibliothek, <hi rendition="#g">Marter der heiligen Martina</hi><lb/>
vom Bruder Hugo von Langen&#x017F;tein, wo jedoch Wackernagel, &#x201E;Alt-<lb/>
hochdeut&#x017F;ches Le&#x017F;ebuch&#x201C;, <hi rendition="#aq">DLXXXI</hi>, dem <hi rendition="#aq">visel</hi> da&#x017F;elb&#x017F;t, S. 757,<lb/>
Z. 28, die gezwungene Bedeutung des <hi rendition="#g">Augenzeugen</hi> beilegt.<lb/>
Auch i&#x017F;t die Vergleichung da&#x017F;elb&#x017F;t mit <hi rendition="#aq">waltwiser</hi>, mittellat. <hi rendition="#aq">visor</hi>,<lb/>
nicht ver&#x017F;tändlich. Die citirte Stelle lautet:</p><lb/>
            <lg type="poem">
              <l> <hi rendition="#aq">Er ist burge ond pfant</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#aq">Gelt vnde och gisel</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#aq">Da hilfet dekein visel</hi> </l><lb/>
              <l> <hi rendition="#aq">Gein dem helle wirte.</hi> </l>
            </lg><lb/>
            <p>Jm Volksbrauch allerorten geht Fi&#x017F;el aber immer zurück auf<lb/>
die Bedeutung von Fa&#x017F;er, Ruthe und <hi rendition="#aq">membrum genitale masculi</hi>,<lb/>
vorzüglich <hi rendition="#aq">tauri.</hi> Bei die&#x017F;er Bedeutung läßt &#x017F;ich eine &#x017F;ehr nahe<lb/>
Beziehung zu dem jüdi&#x017F;chdeut&#x017F;chen <hi rendition="#aq">pessil</hi>, <gap reason="fm"/>, <hi rendition="#aq">pl.</hi> <gap reason="fm"/> (vom he-<lb/>
bräi&#x017F;chen <gap reason="fm"/>, Faden, Schnur, Fe&#x017F;&#x017F;el, vgl. 4. Mo&#x017F;e 19, 15<lb/>
und be&#x017F;onders Richter 16, 9, von den zerri&#x017F;&#x017F;enen Stricken oder<lb/>
Fe&#x017F;&#x017F;eln des Sim&#x017F;on, vom Stammworte <gap reason="fm"/>), &#x017F;o wenig leugnen,<lb/>
wie die Beziehung zu dem niederdeut&#x017F;chen <hi rendition="#g">Pe&#x017F;el,</hi> welches Richey,<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#aq">Idioticon Hamburgense</hi>&#x201C;, S. 184, all&#x017F;eitig treffend mit <hi rendition="#aq">genitale<lb/></hi></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[142/0176] Sechsunddreißigſtes Kapitel. λ. Die Fieſelſprache. Zur vollſtändigen Aufklärung der Fieſelſprache 1) oder Wieſenerſprache bedarf es zunächſt einer etymologiſchen Erklä- rung des Wortes Fieſel oder richtiger Fiſel. Kaum mag je ein Wort zugleich im Volksgebrauch wie auch im Gaunermunde bekannter und üblicher geweſen und doch der Forſchung der Lin- guiſten, Polizeimänner und — Gauner ſo beinahe gänzlich ent- gangen ſein, als das Wort Fiſel. Es ſcheint ſchon im Althoch- deutſchen mit der Schreibung visel gebräuchlich geweſen und auch da ſchon zur Bezeichnung des Männlichen überhaupt gebraucht worden zu ſein, wie z. B. in der Handſchrift des 14. Jahrhun- derts auf der baſeler Bibliothek, Marter der heiligen Martina vom Bruder Hugo von Langenſtein, wo jedoch Wackernagel, „Alt- hochdeutſches Leſebuch“, DLXXXI, dem visel daſelbſt, S. 757, Z. 28, die gezwungene Bedeutung des Augenzeugen beilegt. Auch iſt die Vergleichung daſelbſt mit waltwiser, mittellat. visor, nicht verſtändlich. Die citirte Stelle lautet: Er ist burge ond pfant Gelt vnde och gisel Da hilfet dekein visel Gein dem helle wirte. Jm Volksbrauch allerorten geht Fiſel aber immer zurück auf die Bedeutung von Faſer, Ruthe und membrum genitale masculi, vorzüglich tauri. Bei dieſer Bedeutung läßt ſich eine ſehr nahe Beziehung zu dem jüdiſchdeutſchen pessil, _ , pl. _ (vom he- bräiſchen _ , Faden, Schnur, Feſſel, vgl. 4. Moſe 19, 15 und beſonders Richter 16, 9, von den zerriſſenen Stricken oder Feſſeln des Simſon, vom Stammworte _ ), ſo wenig leugnen, wie die Beziehung zu dem niederdeutſchen Peſel, welches Richey, „Idioticon Hamburgense“, S. 184, allſeitig treffend mit genitale 1) Davon der verſtümmelte Ausdruck Fiſſenſprache, Fiſchſprache. Vgl. oben Mengiſch, Meſſingſprache und weiter unten Galimatias.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/176
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/176>, abgerufen am 04.05.2024.