Memmerrücken, Nunnerrücken u. s. w. Doch findet man sich leicht durch diese bunten Terminologien durch, wenn man die Zahlentabelle etwas genau ansieht.
Blickt man durch diese bunten Typen der Fallmachersprache hindurch auf den culturhistorischen Proceß, in welchem eben diese Typen sich bilden und festsetzen konnten, so tritt auch hier eine starke Trübung des Volkslebens hervor und macht die Betrachtung sehr ernst. Die Geltung jeder Zahl ist aus dem tiefsten Aber- glauben und Betruge, besonders aus der Kartenlegerei und Traum- deuterei entstanden, welche beide sich hier in eine düstere Verbin- dung gesetzt haben. Wie bis zur Verwirrung gemischt auch die Theorie und Exegetik der Kartenlegerei und Traumdeuterei ge- worden ist, so abweichend jedes neue Karten- und Traumdeute- buch von jedem andern und namentlich von ältern ist: unver- jährt blickt doch derselbe alte Dämon des Mittelalters mit der alten unheimlichen Form und Farbe hindurch. Wenn die heutige wiener Köchin mit Zuversicht ihre Kreuzer auf 47 setzt, sobald sie von todten oder lebenden Bekannten, auf 1, wenn sie von einem jungen Kinde oder dem Kaiser, auf 11, wenn sie von Feuer und Soldaten, auf 90, wenn sie von Unrath oder Bauch- kneipen träumt1), so ist das die wiener Modernität; anderer Orten, in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck, Kiel, Schleswig u. s. w., blickt überall die alte Kartendeutung mit der Beziehung auf Träume hervor, sodaß der Gegenstand des Traums auf seine bestimmte Bedeutung in der Karte zurückgeführt wird und dann die Zahlen- geltung der somit indicirten Karte die sicher gewinnende Lotto- nummer ergibt, wobei die Anzahl der Personen und anderer Er- scheinungen, welche im Traume vorkommen, die Klasse anzeigt u. s. w. Doch ist diese alte Theorie durch den Absolutismus neuerer, unter dem schlimmen Scheine der Aufklärung doch noch immer auf den alten unvertilgbaren Dämon speculirender Theo- rien sehr verwischt und mit modernen fratzenhaften Tönen bis zur Unkenntlichkeit und völligen Entartung aufgefrischt worden.
1) Wagner, a. a. O., S. 277.
Memmerrücken, Nunnerrücken u. ſ. w. Doch findet man ſich leicht durch dieſe bunten Terminologien durch, wenn man die Zahlentabelle etwas genau anſieht.
Blickt man durch dieſe bunten Typen der Fallmacherſprache hindurch auf den culturhiſtoriſchen Proceß, in welchem eben dieſe Typen ſich bilden und feſtſetzen konnten, ſo tritt auch hier eine ſtarke Trübung des Volkslebens hervor und macht die Betrachtung ſehr ernſt. Die Geltung jeder Zahl iſt aus dem tiefſten Aber- glauben und Betruge, beſonders aus der Kartenlegerei und Traum- deuterei entſtanden, welche beide ſich hier in eine düſtere Verbin- dung geſetzt haben. Wie bis zur Verwirrung gemiſcht auch die Theorie und Exegetik der Kartenlegerei und Traumdeuterei ge- worden iſt, ſo abweichend jedes neue Karten- und Traumdeute- buch von jedem andern und namentlich von ältern iſt: unver- jährt blickt doch derſelbe alte Dämon des Mittelalters mit der alten unheimlichen Form und Farbe hindurch. Wenn die heutige wiener Köchin mit Zuverſicht ihre Kreuzer auf 47 ſetzt, ſobald ſie von todten oder lebenden Bekannten, auf 1, wenn ſie von einem jungen Kinde oder dem Kaiſer, auf 11, wenn ſie von Feuer und Soldaten, auf 90, wenn ſie von Unrath oder Bauch- kneipen träumt1), ſo iſt das die wiener Modernität; anderer Orten, in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck, Kiel, Schleswig u. ſ. w., blickt überall die alte Kartendeutung mit der Beziehung auf Träume hervor, ſodaß der Gegenſtand des Traums auf ſeine beſtimmte Bedeutung in der Karte zurückgeführt wird und dann die Zahlen- geltung der ſomit indicirten Karte die ſicher gewinnende Lotto- nummer ergibt, wobei die Anzahl der Perſonen und anderer Er- ſcheinungen, welche im Traume vorkommen, die Klaſſe anzeigt u. ſ. w. Doch iſt dieſe alte Theorie durch den Abſolutismus neuerer, unter dem ſchlimmen Scheine der Aufklärung doch noch immer auf den alten unvertilgbaren Dämon ſpeculirender Theo- rien ſehr verwiſcht und mit modernen fratzenhaften Tönen bis zur Unkenntlichkeit und völligen Entartung aufgefriſcht worden.
1) Wagner, a. a. O., S. 277.
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Memmerrücken, Nunnerrücken u. ſ. w. Doch findet man
ſich leicht durch dieſe bunten Terminologien durch, wenn man die
Zahlentabelle etwas genau anſieht.
Blickt man durch dieſe bunten Typen der Fallmacherſprache
hindurch auf den culturhiſtoriſchen Proceß, in welchem eben dieſe
Typen ſich bilden und feſtſetzen konnten, ſo tritt auch hier eine
ſtarke Trübung des Volkslebens hervor und macht die Betrachtung
ſehr ernſt. Die Geltung jeder Zahl iſt aus dem tiefſten Aber-
glauben und Betruge, beſonders aus der Kartenlegerei und Traum-
deuterei entſtanden, welche beide ſich hier in eine düſtere Verbin-
dung geſetzt haben. Wie bis zur Verwirrung gemiſcht auch die
Theorie und Exegetik der Kartenlegerei und Traumdeuterei ge-
worden iſt, ſo abweichend jedes neue Karten- und Traumdeute-
buch von jedem andern und namentlich von ältern iſt: unver-
jährt blickt doch derſelbe alte Dämon des Mittelalters mit der
alten unheimlichen Form und Farbe hindurch. Wenn die heutige
wiener Köchin mit Zuverſicht ihre Kreuzer auf 47 ſetzt, ſobald
ſie von todten oder lebenden Bekannten, auf 1, wenn ſie von
einem jungen Kinde oder dem Kaiſer, auf 11, wenn ſie von
Feuer und Soldaten, auf 90, wenn ſie von Unrath oder Bauch-
kneipen träumt 1), ſo iſt das die wiener Modernität; anderer
Orten, in Berlin, Dresden, Hamburg, Lübeck, Kiel, Schleswig u. ſ. w.,
blickt überall die alte Kartendeutung mit der Beziehung auf Träume
hervor, ſodaß der Gegenſtand des Traums auf ſeine beſtimmte
Bedeutung in der Karte zurückgeführt wird und dann die Zahlen-
geltung der ſomit indicirten Karte die ſicher gewinnende Lotto-
nummer ergibt, wobei die Anzahl der Perſonen und anderer Er-
ſcheinungen, welche im Traume vorkommen, die Klaſſe anzeigt
u. ſ. w. Doch iſt dieſe alte Theorie durch den Abſolutismus
neuerer, unter dem ſchlimmen Scheine der Aufklärung doch noch
immer auf den alten unvertilgbaren Dämon ſpeculirender Theo-
rien ſehr verwiſcht und mit modernen fratzenhaften Tönen bis
zur Unkenntlichkeit und völligen Entartung aufgefriſcht worden.
1) Wagner, a. a. O., S. 277.
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/175>, abgerufen am 25.11.2024.
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