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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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in Kleinkinderschulen, Rettungsanstalten für sittlich verwahrloste
Kinder, Fabrikschulen, wohlfeilen Speiseanstalten und andern
ähnlichen Jnstituten ein sittliches Waisenthum zu verkündigen und
dem abgestorbenen Familienleben ein trübes Mausoleum zu er-
richten. Mit schwerer Sorge nimmt der Polizeimann wahr, wie
großen Zuwachs das Gaunerthum erhält aus der Zahl von Kin-
dern bürgerlich unbescholtener Aeltern, die aber daheim weder
Familie, noch Herd, noch Familienzucht haben, und zu wie fertigen
Gaunern die bloße Lebensverkünstelung jugendliche Verbrecher,
auch ohne Belehrung des Gaunerthums, ausbildet, das diesen
jugendlichen Zuwachs freudig willkommen heißt. So ist inmitten
des Friedens ein Gaunerthum documentirt, das fertiger und ge-
fährlicher als jemals dasteht, und bei einer Erschütterung der be-
stehenden Ordnung sich noch furchtbarer erheben wird, als das zu
Ende des vorigen Jahrhunderts die niederländischen Räuberbanden
vermocht haben. Die Staatspolizei hat daher jetzt Aufgaben zu lösen,
wie fie kaum je ähnlich zur Lösung gestellt worden sind. 1) Hier
handelt es sich jedoch zunächst darum, das Gaunerthum darzu-
stellen, wie es sich in der Gegenwart herausgebildet hat.

kirchliche Sinn mit der praktischen Richtung der Polizei zu einer Menge der
verschiedenartigsten Jnstitute sich einigt. Der Engländer kann dabei aber auch
das Rechnen nicht lassen; er calculirt, daß in den Rettungsanstalten der Kopf
auf jährlich 13 Pf. St. zu stehen kommt; er berechnet dazu, daß das Jndivi-
duum auf freien Füßen jährlich gegen 100 Pf. St. stehlen würde, ungerechnet
die Captur- und Gerichtskosten, die auf 62 Pf. St. veranschlagt werden. Der
Engländer kann seinen praktischen Sinn nirgends verleugnen, und was er als
praktisch erkannt hat, setzt er durch mit einer Willenskraft, Consequenz und
mit Opfern, wie kein zweites Volk Aehnliches aufzuweisen hat.
1) Dem deutschen Polizeimann gebührt der Hinblick auf das ihm nicht
allein dem Stamme nach, sondern auch in vielfacher anderer Hinsicht ver-
wandte England. Die londoner Polizeistatistik gibt erschreckende Resultate.
Ungeachtet London 530 Wohlthätigkeitsanstalten besitzt, für die aus freiwilli-
gen Beiträgen jährlich nahe an zwei Millionen Pf. St. zusammenfließen, er-
werben noch 4000 Landstreicher in London allein durch Betteln jährlich
50,000 Pf. St. Jn den Jahren 1848 und 1849 wurden in die londoner
Arbeitshäuser 143,069 Landstreicher aufgenommen. Jn der londoner Polizei-
statistik von 1851 figuriren 217 Hauseinbrecher, 38 Straßenräuber, 773 Ta-
schendiebe, 3675 gewöhnliche Diebe, 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Fäl-

in Kleinkinderſchulen, Rettungsanſtalten für ſittlich verwahrloſte
Kinder, Fabrikſchulen, wohlfeilen Speiſeanſtalten und andern
ähnlichen Jnſtituten ein ſittliches Waiſenthum zu verkündigen und
dem abgeſtorbenen Familienleben ein trübes Mauſoleum zu er-
richten. Mit ſchwerer Sorge nimmt der Polizeimann wahr, wie
großen Zuwachs das Gaunerthum erhält aus der Zahl von Kin-
dern bürgerlich unbeſcholtener Aeltern, die aber daheim weder
Familie, noch Herd, noch Familienzucht haben, und zu wie fertigen
Gaunern die bloße Lebensverkünſtelung jugendliche Verbrecher,
auch ohne Belehrung des Gaunerthums, ausbildet, das dieſen
jugendlichen Zuwachs freudig willkommen heißt. So iſt inmitten
des Friedens ein Gaunerthum documentirt, das fertiger und ge-
fährlicher als jemals daſteht, und bei einer Erſchütterung der be-
ſtehenden Ordnung ſich noch furchtbarer erheben wird, als das zu
Ende des vorigen Jahrhunderts die niederländiſchen Räuberbanden
vermocht haben. Die Staatspolizei hat daher jetzt Aufgaben zu löſen,
wie fie kaum je ähnlich zur Löſung geſtellt worden ſind. 1) Hier
handelt es ſich jedoch zunächſt darum, das Gaunerthum darzu-
ſtellen, wie es ſich in der Gegenwart herausgebildet hat.

kirchliche Sinn mit der praktiſchen Richtung der Polizei zu einer Menge der
verſchiedenartigſten Jnſtitute ſich einigt. Der Engländer kann dabei aber auch
das Rechnen nicht laſſen; er calculirt, daß in den Rettungsanſtalten der Kopf
auf jährlich 13 Pf. St. zu ſtehen kommt; er berechnet dazu, daß das Jndivi-
duum auf freien Füßen jährlich gegen 100 Pf. St. ſtehlen würde, ungerechnet
die Captur- und Gerichtskoſten, die auf 62 Pf. St. veranſchlagt werden. Der
Engländer kann ſeinen praktiſchen Sinn nirgends verleugnen, und was er als
praktiſch erkannt hat, ſetzt er durch mit einer Willenskraft, Conſequenz und
mit Opfern, wie kein zweites Volk Aehnliches aufzuweiſen hat.
1) Dem deutſchen Polizeimann gebührt der Hinblick auf das ihm nicht
allein dem Stamme nach, ſondern auch in vielfacher anderer Hinſicht ver-
wandte England. Die londoner Polizeiſtatiſtik gibt erſchreckende Reſultate.
Ungeachtet London 530 Wohlthätigkeitsanſtalten beſitzt, für die aus freiwilli-
gen Beiträgen jährlich nahe an zwei Millionen Pf. St. zuſammenfließen, er-
werben noch 4000 Landſtreicher in London allein durch Betteln jährlich
50,000 Pf. St. Jn den Jahren 1848 und 1849 wurden in die londoner
Arbeitshäuſer 143,069 Landſtreicher aufgenommen. Jn der londoner Polizei-
ſtatiſtik von 1851 figuriren 217 Hauseinbrecher, 38 Straßenräuber, 773 Ta-
ſchendiebe, 3675 gewöhnliche Diebe, 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Fäl-
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[2/0014] in Kleinkinderſchulen, Rettungsanſtalten für ſittlich verwahrloſte Kinder, Fabrikſchulen, wohlfeilen Speiſeanſtalten und andern ähnlichen Jnſtituten ein ſittliches Waiſenthum zu verkündigen und dem abgeſtorbenen Familienleben ein trübes Mauſoleum zu er- richten. Mit ſchwerer Sorge nimmt der Polizeimann wahr, wie großen Zuwachs das Gaunerthum erhält aus der Zahl von Kin- dern bürgerlich unbeſcholtener Aeltern, die aber daheim weder Familie, noch Herd, noch Familienzucht haben, und zu wie fertigen Gaunern die bloße Lebensverkünſtelung jugendliche Verbrecher, auch ohne Belehrung des Gaunerthums, ausbildet, das dieſen jugendlichen Zuwachs freudig willkommen heißt. So iſt inmitten des Friedens ein Gaunerthum documentirt, das fertiger und ge- fährlicher als jemals daſteht, und bei einer Erſchütterung der be- ſtehenden Ordnung ſich noch furchtbarer erheben wird, als das zu Ende des vorigen Jahrhunderts die niederländiſchen Räuberbanden vermocht haben. Die Staatspolizei hat daher jetzt Aufgaben zu löſen, wie fie kaum je ähnlich zur Löſung geſtellt worden ſind. 1) Hier handelt es ſich jedoch zunächſt darum, das Gaunerthum darzu- ſtellen, wie es ſich in der Gegenwart herausgebildet hat. 1) 1) Dem deutſchen Polizeimann gebührt der Hinblick auf das ihm nicht allein dem Stamme nach, ſondern auch in vielfacher anderer Hinſicht ver- wandte England. Die londoner Polizeiſtatiſtik gibt erſchreckende Reſultate. Ungeachtet London 530 Wohlthätigkeitsanſtalten beſitzt, für die aus freiwilli- gen Beiträgen jährlich nahe an zwei Millionen Pf. St. zuſammenfließen, er- werben noch 4000 Landſtreicher in London allein durch Betteln jährlich 50,000 Pf. St. Jn den Jahren 1848 und 1849 wurden in die londoner Arbeitshäuſer 143,069 Landſtreicher aufgenommen. Jn der londoner Polizei- ſtatiſtik von 1851 figuriren 217 Hauseinbrecher, 38 Straßenräuber, 773 Ta- ſchendiebe, 3675 gewöhnliche Diebe, 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Fäl- 1) kirchliche Sinn mit der praktiſchen Richtung der Polizei zu einer Menge der verſchiedenartigſten Jnſtitute ſich einigt. Der Engländer kann dabei aber auch das Rechnen nicht laſſen; er calculirt, daß in den Rettungsanſtalten der Kopf auf jährlich 13 Pf. St. zu ſtehen kommt; er berechnet dazu, daß das Jndivi- duum auf freien Füßen jährlich gegen 100 Pf. St. ſtehlen würde, ungerechnet die Captur- und Gerichtskoſten, die auf 62 Pf. St. veranſchlagt werden. Der Engländer kann ſeinen praktiſchen Sinn nirgends verleugnen, und was er als praktiſch erkannt hat, ſetzt er durch mit einer Willenskraft, Conſequenz und mit Opfern, wie kein zweites Volk Aehnliches aufzuweiſen hat.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/14>, abgerufen am 24.11.2024.