ward und das Wesen seine analoge Anwendung und deutsche Einbargerung fand. Jn dem langen schweren Kampfe mit den vielen künstlichen Formen des Lehnswesens und der Hierarchie, welche das deutsche Bürgerthum während des Mittelalters be- stehen mußte, wurde allmählich auch seine Kraft herabgedrückt und vielfach gelähmt, und als am Schlusse des Mittelalters die deut- schen Landesobrigkeiten, neben der stets machtlos gebliebenen Reichspolizei, selbständig die Landespolizei in die Hand nahmen, konnten sie mit dieser in der schweren Bedrängniß immer nur eine augenblickliche Nothwehr gegen den Wucher des Verbrechens üben, ohne auf ein System und dessen Begründung auf einem natür- lichen Boden besondern Bedacht zu nehmen, obwol Nachweis und Muster dazu in den städtischen Polizeieinrichtungen gegeben war. Die Analogien des immer weiter vordringenden Römischen Rechts konnten den Ausfall nicht ersetzen, und selbst, nachdem das Strafrecht eine so tüchtige rationelle Behandlung erfahren hat, mußte die bei Begründung der Städte so großartig begonnene und allmählich so tief herabgedrückte Polizei als die eigenthüm- liche Erscheinung stehen bleiben, daß sie stets nur die concrete Nothwehr gegen den momentanen Widerstand und in ihrer Com- position nur die bloße gehäufte automate Masse ist, welcher der gedeihliche Boden und die natürliche Lebensfähigkeit fehlt.
Bei den fortwährenden Kämpfen, welche das deutsche Wesen mit den vielen künstlichen Formen des Lehnswesens und der Hierarchie bestehen mußte, ist es, wenn auch überraschend, doch erklärlich, daß das Verbrechen die durch den Kampf verursachte Schwäche zu erspähen und auszubeuten lernte und immer ver- wegener hervorzutreten unternahm. Die verbrecherischen Elemente waren schon früh in großer Menge vorhanden. Das aus dem Christenthum mittelbar hervorgegangene Bettlerthum, der durch Karl den Großen zur Leibeigenschaft verurtheilte Bauernstand bot schon zeitig die bedeutsame Grundlage des Proletariats, und bildete sich alsbald auch zu jener gefährlichen beweglichen Masse der "Landtfahrer" oder Landstreicher aus, welche die öffentliche Sicherheit in der bedenklichsten Weise gefährdete und namentlich
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ward und das Weſen ſeine analoge Anwendung und deutſche Einbargerung fand. Jn dem langen ſchweren Kampfe mit den vielen künſtlichen Formen des Lehnsweſens und der Hierarchie, welche das deutſche Bürgerthum während des Mittelalters be- ſtehen mußte, wurde allmählich auch ſeine Kraft herabgedrückt und vielfach gelähmt, und als am Schluſſe des Mittelalters die deut- ſchen Landesobrigkeiten, neben der ſtets machtlos gebliebenen Reichspolizei, ſelbſtändig die Landespolizei in die Hand nahmen, konnten ſie mit dieſer in der ſchweren Bedrängniß immer nur eine augenblickliche Nothwehr gegen den Wucher des Verbrechens üben, ohne auf ein Syſtem und deſſen Begründung auf einem natür- lichen Boden beſondern Bedacht zu nehmen, obwol Nachweis und Muſter dazu in den ſtädtiſchen Polizeieinrichtungen gegeben war. Die Analogien des immer weiter vordringenden Römiſchen Rechts konnten den Ausfall nicht erſetzen, und ſelbſt, nachdem das Strafrecht eine ſo tüchtige rationelle Behandlung erfahren hat, mußte die bei Begründung der Städte ſo großartig begonnene und allmählich ſo tief herabgedrückte Polizei als die eigenthüm- liche Erſcheinung ſtehen bleiben, daß ſie ſtets nur die concrete Nothwehr gegen den momentanen Widerſtand und in ihrer Com- poſition nur die bloße gehäufte automate Maſſe iſt, welcher der gedeihliche Boden und die natürliche Lebensfähigkeit fehlt.
Bei den fortwährenden Kämpfen, welche das deutſche Weſen mit den vielen künſtlichen Formen des Lehnsweſens und der Hierarchie beſtehen mußte, iſt es, wenn auch überraſchend, doch erklärlich, daß das Verbrechen die durch den Kampf verurſachte Schwäche zu erſpähen und auszubeuten lernte und immer ver- wegener hervorzutreten unternahm. Die verbrecheriſchen Elemente waren ſchon früh in großer Menge vorhanden. Das aus dem Chriſtenthum mittelbar hervorgegangene Bettlerthum, der durch Karl den Großen zur Leibeigenſchaft verurtheilte Bauernſtand bot ſchon zeitig die bedeutſame Grundlage des Proletariats, und bildete ſich alsbald auch zu jener gefährlichen beweglichen Maſſe der „Landtfahrer“ oder Landſtreicher aus, welche die öffentliche Sicherheit in der bedenklichſten Weiſe gefährdete und namentlich
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ward und das Weſen ſeine analoge Anwendung und deutſche
Einbargerung fand. Jn dem langen ſchweren Kampfe mit den
vielen künſtlichen Formen des Lehnsweſens und der Hierarchie,
welche das deutſche Bürgerthum während des Mittelalters be-
ſtehen mußte, wurde allmählich auch ſeine Kraft herabgedrückt und
vielfach gelähmt, und als am Schluſſe des Mittelalters die deut-
ſchen Landesobrigkeiten, neben der ſtets machtlos gebliebenen
Reichspolizei, ſelbſtändig die Landespolizei in die Hand nahmen,
konnten ſie mit dieſer in der ſchweren Bedrängniß immer nur eine
augenblickliche Nothwehr gegen den Wucher des Verbrechens üben,
ohne auf ein Syſtem und deſſen Begründung auf einem natür-
lichen Boden beſondern Bedacht zu nehmen, obwol Nachweis
und Muſter dazu in den ſtädtiſchen Polizeieinrichtungen gegeben
war. Die Analogien des immer weiter vordringenden Römiſchen
Rechts konnten den Ausfall nicht erſetzen, und ſelbſt, nachdem das
Strafrecht eine ſo tüchtige rationelle Behandlung erfahren hat,
mußte die bei Begründung der Städte ſo großartig begonnene
und allmählich ſo tief herabgedrückte Polizei als die eigenthüm-
liche Erſcheinung ſtehen bleiben, daß ſie ſtets nur die concrete
Nothwehr gegen den momentanen Widerſtand und in ihrer Com-
poſition nur die bloße gehäufte automate Maſſe iſt, welcher der
gedeihliche Boden und die natürliche Lebensfähigkeit fehlt.
Bei den fortwährenden Kämpfen, welche das deutſche Weſen
mit den vielen künſtlichen Formen des Lehnsweſens und der
Hierarchie beſtehen mußte, iſt es, wenn auch überraſchend, doch
erklärlich, daß das Verbrechen die durch den Kampf verurſachte
Schwäche zu erſpähen und auszubeuten lernte und immer ver-
wegener hervorzutreten unternahm. Die verbrecheriſchen Elemente
waren ſchon früh in großer Menge vorhanden. Das aus dem
Chriſtenthum mittelbar hervorgegangene Bettlerthum, der durch
Karl den Großen zur Leibeigenſchaft verurtheilte Bauernſtand bot
ſchon zeitig die bedeutſame Grundlage des Proletariats, und
bildete ſich alsbald auch zu jener gefährlichen beweglichen Maſſe
der „Landtfahrer“ oder Landſtreicher aus, welche die öffentliche
Sicherheit in der bedenklichſten Weiſe gefährdete und namentlich
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/19>, abgerufen am 08.07.2024.
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