Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

auffaßte und wiedergab. Alles was vor dem 15. Jahrhundert
in jenen vielen, aber zerstreuten, chronistischen und archivalen Apho-
rismen vorhanden ist, muß als spärliche literarische Ausbeute dahin-
gestellt bleiben, so sehr diese Aphorismen auch beurkunden, wie
früh und wie tief das Gaunerthum in das Volk gedrungen war.
Sie sind zum Theil jedoch in gaunersprachlicher Hinsicht von
Wichtigkeit, und bieten in ihrer Bezüglichkeit auf die althochdeutsche
und niederdeutsche Sprache, sowie auch auf das sogenannte Jüdisch-
Deutsche, großes Jnteresse. Jn letzterer Hinsicht sind es vor allem
die lombardischen Noten bei Vulcanius 1), die ein eigenthümliches
flüchtiges Streiflicht auf die jüdisch-deutsche Currentschrift werfen,
so höchst fragmentarisch diese Noten auch sind, weshalb sie denn
auch leider keine eigentliche historische und literargeschichtliche Aus-
beute liefern, sondern nur in specifisch-linguistischer Rücksicht in
Betracht kommen können.

Sieht man wie die Literatur von den dürren chronistischen
Aphorismen zu Ende des 15. Jahrhunderts auf den überraschend
rationell gehaltenen Liber Vagatorum übergeht, und wie dann
trotz dieser seiner viel verheißenden Haltung das Buch nur nach
seinem ethischen Gehalte von Theologen gewürdigt und erst viel
später in linguistischer Hinsicht, in polizeilicher Hinsicht aber gar
nicht berücksichtigt wird, so sieht man doch auch, wie trotz aller
richterlichen Befangenheit und trotz dem wirren Schwall der fana-
tischen, fast alle andern Verbrechen vor dem befangenen Blicke des
Richters absorbirenden Hexenprocesse immer doch das Gaunerthum
mit seinen Thaten und Erfolgen sich so unverkennbar hindurch-
drängte, daß es nicht verleugnet werden konnte, und daß die
Wahrnehmung und Erzählung des Volks erst vom Volke her auf
eine unbefangenere richterliche Auffassung zurück wirkte. Das Gau-

1) "De literis et lingua Getarum sive Gothorum, item de notis Lom-
bardicis. Quibus accesserunt specimina variarum linguarum etc.
editore Bon. Vulcanio Brugensi
(Leyden 1597), ein sehr selten gewordenes,
in vieler Hinsicht merkwürdiges und wichtiges Werk, von welchem später
ausführlicher die Rede sein wird.

auffaßte und wiedergab. Alles was vor dem 15. Jahrhundert
in jenen vielen, aber zerſtreuten, chroniſtiſchen und archivalen Apho-
rismen vorhanden iſt, muß als ſpärliche literariſche Ausbeute dahin-
geſtellt bleiben, ſo ſehr dieſe Aphorismen auch beurkunden, wie
früh und wie tief das Gaunerthum in das Volk gedrungen war.
Sie ſind zum Theil jedoch in gaunerſprachlicher Hinſicht von
Wichtigkeit, und bieten in ihrer Bezüglichkeit auf die althochdeutſche
und niederdeutſche Sprache, ſowie auch auf das ſogenannte Jüdiſch-
Deutſche, großes Jntereſſe. Jn letzterer Hinſicht ſind es vor allem
die lombardiſchen Noten bei Vulcanius 1), die ein eigenthümliches
flüchtiges Streiflicht auf die jüdiſch-deutſche Currentſchrift werfen,
ſo höchſt fragmentariſch dieſe Noten auch ſind, weshalb ſie denn
auch leider keine eigentliche hiſtoriſche und literargeſchichtliche Aus-
beute liefern, ſondern nur in ſpecifiſch-linguiſtiſcher Rückſicht in
Betracht kommen können.

Sieht man wie die Literatur von den dürren chroniſtiſchen
Aphorismen zu Ende des 15. Jahrhunderts auf den überraſchend
rationell gehaltenen Liber Vagatorum übergeht, und wie dann
trotz dieſer ſeiner viel verheißenden Haltung das Buch nur nach
ſeinem ethiſchen Gehalte von Theologen gewürdigt und erſt viel
ſpäter in linguiſtiſcher Hinſicht, in polizeilicher Hinſicht aber gar
nicht berückſichtigt wird, ſo ſieht man doch auch, wie trotz aller
richterlichen Befangenheit und trotz dem wirren Schwall der fana-
tiſchen, faſt alle andern Verbrechen vor dem befangenen Blicke des
Richters abſorbirenden Hexenproceſſe immer doch das Gaunerthum
mit ſeinen Thaten und Erfolgen ſich ſo unverkennbar hindurch-
drängte, daß es nicht verleugnet werden konnte, und daß die
Wahrnehmung und Erzählung des Volks erſt vom Volke her auf
eine unbefangenere richterliche Auffaſſung zurück wirkte. Das Gau-

1)De literis et lingua Getarum sive Gothorum, item de notis Lom-
bardicis. Quibus accesserunt specimina variarum linguarum etc.
editore Bon. Vulcanio Brugensi
(Leyden 1597), ein ſehr ſelten gewordenes,
in vieler Hinſicht merkwürdiges und wichtiges Werk, von welchem ſpäter
ausführlicher die Rede ſein wird.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0135" n="119"/>
auffaßte und wiedergab. Alles was vor dem 15. Jahrhundert<lb/>
in jenen vielen, aber zer&#x017F;treuten, chroni&#x017F;ti&#x017F;chen und archivalen Apho-<lb/>
rismen vorhanden i&#x017F;t, muß als &#x017F;pärliche literari&#x017F;che Ausbeute dahin-<lb/>
ge&#x017F;tellt bleiben, &#x017F;o &#x017F;ehr die&#x017F;e Aphorismen auch beurkunden, wie<lb/>
früh und wie tief das Gaunerthum in das Volk gedrungen war.<lb/>
Sie &#x017F;ind zum Theil jedoch in gauner&#x017F;prachlicher Hin&#x017F;icht von<lb/>
Wichtigkeit, und bieten in ihrer Bezüglichkeit auf die althochdeut&#x017F;che<lb/>
und niederdeut&#x017F;che Sprache, &#x017F;owie auch auf das &#x017F;ogenannte Jüdi&#x017F;ch-<lb/>
Deut&#x017F;che, großes Jntere&#x017F;&#x017F;e. Jn letzterer Hin&#x017F;icht &#x017F;ind es vor allem<lb/>
die lombardi&#x017F;chen Noten bei Vulcanius <note place="foot" n="1)">&#x201E;<hi rendition="#aq">De literis et lingua Getarum sive Gothorum, item de notis Lom-<lb/>
bardicis. Quibus accesserunt specimina variarum linguarum etc.<lb/>
editore Bon. Vulcanio Brugensi</hi> (Leyden 1597), ein &#x017F;ehr &#x017F;elten gewordenes,<lb/>
in vieler Hin&#x017F;icht merkwürdiges und wichtiges Werk, von welchem &#x017F;päter<lb/>
ausführlicher die Rede &#x017F;ein wird.</note>, die ein eigenthümliches<lb/>
flüchtiges Streiflicht auf die jüdi&#x017F;ch-deut&#x017F;che Current&#x017F;chrift werfen,<lb/>
&#x017F;o höch&#x017F;t fragmentari&#x017F;ch die&#x017F;e Noten auch &#x017F;ind, weshalb &#x017F;ie denn<lb/>
auch leider keine eigentliche hi&#x017F;tori&#x017F;che und literarge&#x017F;chichtliche Aus-<lb/>
beute liefern, &#x017F;ondern nur in &#x017F;pecifi&#x017F;ch-lingui&#x017F;ti&#x017F;cher Rück&#x017F;icht in<lb/>
Betracht kommen können.</p><lb/>
          <p>Sieht man wie die Literatur von den dürren chroni&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Aphorismen zu Ende des 15. Jahrhunderts auf den überra&#x017F;chend<lb/>
rationell gehaltenen <hi rendition="#aq">Liber Vagatorum</hi> übergeht, und wie dann<lb/>
trotz die&#x017F;er &#x017F;einer viel verheißenden Haltung das Buch nur nach<lb/>
&#x017F;einem ethi&#x017F;chen Gehalte von Theologen gewürdigt und er&#x017F;t viel<lb/>
&#x017F;päter in lingui&#x017F;ti&#x017F;cher Hin&#x017F;icht, in polizeilicher Hin&#x017F;icht aber gar<lb/>
nicht berück&#x017F;ichtigt wird, &#x017F;o &#x017F;ieht man doch auch, wie trotz aller<lb/>
richterlichen Befangenheit und trotz dem wirren Schwall der fana-<lb/>
ti&#x017F;chen, fa&#x017F;t alle andern Verbrechen vor dem befangenen Blicke des<lb/>
Richters ab&#x017F;orbirenden Hexenproce&#x017F;&#x017F;e immer doch das Gaunerthum<lb/>
mit &#x017F;einen Thaten und Erfolgen &#x017F;ich &#x017F;o unverkennbar hindurch-<lb/>
drängte, daß es nicht verleugnet werden konnte, und daß die<lb/>
Wahrnehmung und Erzählung des Volks er&#x017F;t vom <hi rendition="#g">Volke</hi> her auf<lb/>
eine unbefangenere <hi rendition="#g">richterliche</hi> Auffa&#x017F;&#x017F;ung zurück wirkte. Das Gau-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0135] auffaßte und wiedergab. Alles was vor dem 15. Jahrhundert in jenen vielen, aber zerſtreuten, chroniſtiſchen und archivalen Apho- rismen vorhanden iſt, muß als ſpärliche literariſche Ausbeute dahin- geſtellt bleiben, ſo ſehr dieſe Aphorismen auch beurkunden, wie früh und wie tief das Gaunerthum in das Volk gedrungen war. Sie ſind zum Theil jedoch in gaunerſprachlicher Hinſicht von Wichtigkeit, und bieten in ihrer Bezüglichkeit auf die althochdeutſche und niederdeutſche Sprache, ſowie auch auf das ſogenannte Jüdiſch- Deutſche, großes Jntereſſe. Jn letzterer Hinſicht ſind es vor allem die lombardiſchen Noten bei Vulcanius 1), die ein eigenthümliches flüchtiges Streiflicht auf die jüdiſch-deutſche Currentſchrift werfen, ſo höchſt fragmentariſch dieſe Noten auch ſind, weshalb ſie denn auch leider keine eigentliche hiſtoriſche und literargeſchichtliche Aus- beute liefern, ſondern nur in ſpecifiſch-linguiſtiſcher Rückſicht in Betracht kommen können. Sieht man wie die Literatur von den dürren chroniſtiſchen Aphorismen zu Ende des 15. Jahrhunderts auf den überraſchend rationell gehaltenen Liber Vagatorum übergeht, und wie dann trotz dieſer ſeiner viel verheißenden Haltung das Buch nur nach ſeinem ethiſchen Gehalte von Theologen gewürdigt und erſt viel ſpäter in linguiſtiſcher Hinſicht, in polizeilicher Hinſicht aber gar nicht berückſichtigt wird, ſo ſieht man doch auch, wie trotz aller richterlichen Befangenheit und trotz dem wirren Schwall der fana- tiſchen, faſt alle andern Verbrechen vor dem befangenen Blicke des Richters abſorbirenden Hexenproceſſe immer doch das Gaunerthum mit ſeinen Thaten und Erfolgen ſich ſo unverkennbar hindurch- drängte, daß es nicht verleugnet werden konnte, und daß die Wahrnehmung und Erzählung des Volks erſt vom Volke her auf eine unbefangenere richterliche Auffaſſung zurück wirkte. Das Gau- 1) „De literis et lingua Getarum sive Gothorum, item de notis Lom- bardicis. Quibus accesserunt specimina variarum linguarum etc. editore Bon. Vulcanio Brugensi (Leyden 1597), ein ſehr ſelten gewordenes, in vieler Hinſicht merkwürdiges und wichtiges Werk, von welchem ſpäter ausführlicher die Rede ſein wird.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/135
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/135>, abgerufen am 08.05.2024.