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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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So furchtbar dieses grelle Bild rasender Vernichtung ist, so
wenig unbegreiflich erscheint es demjenigen, der den bisherigen
Gang und den Lebenswucher des Verbrechens beobachtet hat, das
immer mit dem Siechthum der social-politischen Verhältnisse
gleichen Schritt hielt und als historische Erscheinung nicht weg-
zuleugnen ist, obwol es immer im Finstern geschlichen hatte und
nur von einem grellen Lichtstrahl beleuchtet wurde, wenn es ge-
legentlich der Justiz gelang, den Schleier wegzuziehen und das
Verbrechen bloßzulegen. Das aber war und blieb die allgemein
verbreitete Schwäche und Muthlosigkeit, daß man nicht an das
Ganze der Erscheinung, sondern nur an die vom grellen Schlag-
lichte der Entdeckung beleuchtete Einzelgruppe glaubte, deren
einzelne Figuren man mit ebenso viel orthodoxer sittlicher Ent-
rüstung wie mit barbarischer Strenge vom Erdboden vertilgte, und
sich damit beruhigte, als ob das Werk der rechtlichen und sitt-
lichen Restitution vollständig abgethan sei. Eine Eigenthümlich-
keit des deutschen Räuberthums darf jedoch hier nicht unerwähnt
bleiben, die ein wesentliches Kriterium für das Räuberthum und
für die Schwierigkeit seiner Bewältigung abgibt: es ist der Um-
stand, daß es von jeher den allerdings organisirten Räuberbanden
in Deutschland an bestimmten Führern gefehlt hat, denen eine
beständige Disciplin und Obergewalt über die Untergebenen zu-
gestanden hätte 1), wie das in Jtalien und in dem südöstlichen
Europa immer, minder häufig jedoch in Frankreich 2) und Eng-

1) Vgl. Pfister a. a. O., S. 199. Die mit dem Auftreten der Räuber
zugleich beginnende, außerordentlich fruchtbare Räuberromanschreiberei hat frei-
lich als Helden des Romans immer einen Räuberhauptmann an der Spitze,
dessen Zeichnung meistens sehr wunderlich ausfällt. Wer aber jemals als
Jnquirent wirkliche Räuber vor sich gehabt hat, der wird, wenn es auch
gerade keine Hauptmänner gewesen sind, unwillkürlich an Goethe's "Götter,
Helden und Wieland" erinnert, sobald ihm irgendeiner jener Romane ein-
fällt.
2) Jn Frankreich war die Bande der Rougets und Grisons, namentlich
unter ihrem Anführer de la Chesnay, in den Jahren 1621--23, gerade durch
ihre feste Organisation und strenge Disciplin besonders furchtbar.

So furchtbar dieſes grelle Bild raſender Vernichtung iſt, ſo
wenig unbegreiflich erſcheint es demjenigen, der den bisherigen
Gang und den Lebenswucher des Verbrechens beobachtet hat, das
immer mit dem Siechthum der ſocial-politiſchen Verhältniſſe
gleichen Schritt hielt und als hiſtoriſche Erſcheinung nicht weg-
zuleugnen iſt, obwol es immer im Finſtern geſchlichen hatte und
nur von einem grellen Lichtſtrahl beleuchtet wurde, wenn es ge-
legentlich der Juſtiz gelang, den Schleier wegzuziehen und das
Verbrechen bloßzulegen. Das aber war und blieb die allgemein
verbreitete Schwäche und Muthloſigkeit, daß man nicht an das
Ganze der Erſcheinung, ſondern nur an die vom grellen Schlag-
lichte der Entdeckung beleuchtete Einzelgruppe glaubte, deren
einzelne Figuren man mit ebenſo viel orthodoxer ſittlicher Ent-
rüſtung wie mit barbariſcher Strenge vom Erdboden vertilgte, und
ſich damit beruhigte, als ob das Werk der rechtlichen und ſitt-
lichen Reſtitution vollſtändig abgethan ſei. Eine Eigenthümlich-
keit des deutſchen Räuberthums darf jedoch hier nicht unerwähnt
bleiben, die ein weſentliches Kriterium für das Räuberthum und
für die Schwierigkeit ſeiner Bewältigung abgibt: es iſt der Um-
ſtand, daß es von jeher den allerdings organiſirten Räuberbanden
in Deutſchland an beſtimmten Führern gefehlt hat, denen eine
beſtändige Disciplin und Obergewalt über die Untergebenen zu-
geſtanden hätte 1), wie das in Jtalien und in dem ſüdöſtlichen
Europa immer, minder häufig jedoch in Frankreich 2) und Eng-

1) Vgl. Pfiſter a. a. O., S. 199. Die mit dem Auftreten der Räuber
zugleich beginnende, außerordentlich fruchtbare Räuberromanſchreiberei hat frei-
lich als Helden des Romans immer einen Räuberhauptmann an der Spitze,
deſſen Zeichnung meiſtens ſehr wunderlich ausfällt. Wer aber jemals als
Jnquirent wirkliche Räuber vor ſich gehabt hat, der wird, wenn es auch
gerade keine Hauptmänner geweſen ſind, unwillkürlich an Goethe’s „Götter,
Helden und Wieland“ erinnert, ſobald ihm irgendeiner jener Romane ein-
fällt.
2) Jn Frankreich war die Bande der Rougets und Griſons, namentlich
unter ihrem Anführer de la Chesnay, in den Jahren 1621—23, gerade durch
ihre feſte Organiſation und ſtrenge Disciplin beſonders furchtbar.
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[90/0106] So furchtbar dieſes grelle Bild raſender Vernichtung iſt, ſo wenig unbegreiflich erſcheint es demjenigen, der den bisherigen Gang und den Lebenswucher des Verbrechens beobachtet hat, das immer mit dem Siechthum der ſocial-politiſchen Verhältniſſe gleichen Schritt hielt und als hiſtoriſche Erſcheinung nicht weg- zuleugnen iſt, obwol es immer im Finſtern geſchlichen hatte und nur von einem grellen Lichtſtrahl beleuchtet wurde, wenn es ge- legentlich der Juſtiz gelang, den Schleier wegzuziehen und das Verbrechen bloßzulegen. Das aber war und blieb die allgemein verbreitete Schwäche und Muthloſigkeit, daß man nicht an das Ganze der Erſcheinung, ſondern nur an die vom grellen Schlag- lichte der Entdeckung beleuchtete Einzelgruppe glaubte, deren einzelne Figuren man mit ebenſo viel orthodoxer ſittlicher Ent- rüſtung wie mit barbariſcher Strenge vom Erdboden vertilgte, und ſich damit beruhigte, als ob das Werk der rechtlichen und ſitt- lichen Reſtitution vollſtändig abgethan ſei. Eine Eigenthümlich- keit des deutſchen Räuberthums darf jedoch hier nicht unerwähnt bleiben, die ein weſentliches Kriterium für das Räuberthum und für die Schwierigkeit ſeiner Bewältigung abgibt: es iſt der Um- ſtand, daß es von jeher den allerdings organiſirten Räuberbanden in Deutſchland an beſtimmten Führern gefehlt hat, denen eine beſtändige Disciplin und Obergewalt über die Untergebenen zu- geſtanden hätte 1), wie das in Jtalien und in dem ſüdöſtlichen Europa immer, minder häufig jedoch in Frankreich 2) und Eng- 1) Vgl. Pfiſter a. a. O., S. 199. Die mit dem Auftreten der Räuber zugleich beginnende, außerordentlich fruchtbare Räuberromanſchreiberei hat frei- lich als Helden des Romans immer einen Räuberhauptmann an der Spitze, deſſen Zeichnung meiſtens ſehr wunderlich ausfällt. Wer aber jemals als Jnquirent wirkliche Räuber vor ſich gehabt hat, der wird, wenn es auch gerade keine Hauptmänner geweſen ſind, unwillkürlich an Goethe’s „Götter, Helden und Wieland“ erinnert, ſobald ihm irgendeiner jener Romane ein- fällt. 2) Jn Frankreich war die Bande der Rougets und Griſons, namentlich unter ihrem Anführer de la Chesnay, in den Jahren 1621—23, gerade durch ihre feſte Organiſation und ſtrenge Disciplin beſonders furchtbar.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/106>, abgerufen am 27.11.2024.