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Allgemeine Zeitung. Nr. 154. Augsburg, 2. Juni 1840.

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Die Ostseeprovinzen.

I. Die deutschen und die russischen Institutionen.

(Beschluß.)

Um sich nun in der Kürze einen deutlichen Begriff von der jetzigen politischen Verfassung dieser Provinzen und ihren dermaligen Verhältnissen zu der russischen Bureaukratie zu machen, so läßt sich darüber Folgendes bemerken. Die Städte haben ihre alten deutschen Magistrate, Raths- und Aeltermannscollegien, die sich auf ähnliche Art bilden und ergänzen, wie in den alten deutschen Reichsstädten und die Angelegenheiten der Stadtcommunen mit ziemlicher Unbeschränktheit leiten, so daß z. B. in Riga ein Rathsherr oder Aeltermann eine fast eben so angesehene Person ist, wie in Hamburg oder Bremen.

Der Adel theilt sich in drei Ritterschaften: die esthländische, ösel'sche und livländische, die sich durch Deputirte in den Hauptstädten Rewal, Riga, Arensburg auf alle drei Jahre eintretenden Landtagen versammeln. Diese Landtage werden von dem Adelsmarschall präsidirt, und berathen sich über die Angelegenheiten des Adels und Landes, über die Errichtung von Schulen, die Verbesserung der Wege, die Recipirung neuer Adeliger, die Besetzung der Aemter, über Petitionen an den Kaiser u. s. w. Als bleibende und oberste Behörde steht in Livland an der Spitze des Adels das Collegium der Landräthe, der ehemals alleinigen Regenten des Landes, von denen der eine Oberpostdirector, der zweite Oberkirchenvorsteher, der dritte Oberrichter, der vierte Obervormund u. s. w. Die Ritterschaft bildet eine geschlossene Corporation, und Niemand, weder Russe noch Nichtrusse, hat das Recht Aufnahme zu verlangen. Sie verweigert oder ertheilt den darum Bittenden nach Gutdünken das Indigenat (Adels-Bürgerrecht) und somit die Erlaubniß im Lande Güter zu besitzen, an der Repräsentation und Aemterbesetzung Theil zu nehmen.

Die ganze Civilgesetzgebung (nicht so die Criminalgesetzgebung) ist bis dato noch deutsch-römisches Recht. Deutsche allgemeine und provincielle Gewohnheiten gelten durchweg, und die obersten und niederen Behörden und Gerichte sind auf deutschem Fuß eingerichtet und mit deutschen Beamten besetzt. Nur die Zweige der Administration, die Mauth, die Steuerbehörden, die Polizei u. s. w. sind auf russischem Fuße constituirt, obgleich auch in der Regel mit deutschem Beamtenpersonale besetzt. Sogar die obersten Administrativbeamten, die Gouverneure und Generalgouverneure der Provinzen werden vom Kaiser aus Rücksicht für die deutsche Nationalität der Provinzen immer aus dem deutschen Adel gewählt. Und nur sehr selten erschien bisher dann und wann einmal ein russischer Gouverneur in den Ostseeprovinzen, wo er aber auch nie lange blieb. Nichtsdestoweniger sind die Provinzen wegen ihrer deutschen Institutionen in fortwährender Besorgniß und Aufregung. Während des zwölfjährigen Bestandes der Statthalterschaftsverfassung Katharinens haben sich eine Menge von Russen in alle Stände und Abtheilungen der Gesellschaft eingeschlichen. Namentlich in Riga ist seitdem ihre Anzahl zu einer beträchtlichen Höhe angewachsen. Diese baltischen Russencolonien fordern laut und lauter Gleichstellung ihrer Rechte mit denen der Deutschen, wollen Theil an der Verwaltung und Einlaß in den Collegien haben. Der alte russische Adel in St. Petersburg und Moskau sieht schel auf die Privilegien der Deutschen, und die Ministerien und höchsten Reichsbeamten empfinden es sehr unangenehm, daß sie bei Einführung allgemeiner Maaßregeln immer genöthigt sind, besondere Rücksicht auf die Privilegien der Ostseeprovinzen zu nehmen, deren Existenz und Nothwendigkeit sie natürlich wenig begreifen und deren Ursprung sie längst vergessen haben. Freilich halten die russischen Kaiser selbst noch ein gnadenreiches Schild über ihre deutschen Unterthanen. Allein wer steht dafür, daß ihre Nachfolger bei dem beständigen Drängen der ihnen näherstehenden Russen nicht nachgeben und anfangen werden anders zu denken und zu verfahren? Auch jetzt wie früher gibt es alle Augenblicke Veranlassungen zu kleinen Streitigkeiten mit den Russen. Bald fühlt sich die Stadt und der Rath von Riga durch eine Verordnung verletzt und beeinträchtigt, bald die deutsche Universität Dorpat, bald die Ritterschaft und das Rathscollegium. Da sehr viele Deutsche in St. Petersburg in den höchsten Aemtern angestellt sind, so fehlt es ihnen indeß nicht an wohlwollenden und mächtigen Freunden.

Die Universität Dorpat hat ihre hohen Gönner und Connexionen in St. Petersburg, die Stadt Riga zählt dort ihre Freunde und ebenso natürlich der Adel der Provinz. In allen Fällen, wo eine Verordnung, eine Bestimmung oder eine Forderung der Russen deutsche Vorrechte bedroht, wird gleich Lärm geschlagen. Deputirte, öffentliche und geheime, werden nach St. Petersburg geschickt, die dortigen Gönner werden bearbeitet, in Feuer gebracht und in der Regel dann allerdings die Verordnung hintertrieben oder der Wunsch durchgesetzt, oft aber auch nicht.

In dem Herzogthum Kurland ist der Zustand ungefähr derselbe, wie in Liv- und Esthland, ungeachtet diese Provinz ohne Capitulation und Friedensschluß im Jahr 1795 an Rußland überging. In der polnischen Zeit - das Herzogthum war von 1561 bis 1795 ein polnisches Lehn - fanden die deutschen Privilegien des dortigen Adels, die oft von der polnischen Krone bedroht waren, einen natürlichen Fürsprecher an Rußland, und jedesmal, wenn Polen das Land seinem Reiche zu incorporiren versuchte, that Rußland kräftige Fürsprache. Bei der völligen Auflösung Polens in den neunziger Jahren blieb Kurland ohne Stütze. Der Herzog dankte im Sturm der auch hier wüthenden Parteien ab, und der Adel des Landes, eigenmächtig im Namen nicht nur des Adels, sondern auch der Städte, Bürger und Bauern handelnd, schickte eine Deputation nach St. Petersburg und ließ der Kaiserin Katharina die Unterwerfung des Herzogthums anbieten. "Unter welchen Bedingungen?" soll die Kaiserin die kurischen Deputirten gefragt und sich verächtlich von ihnen abgewendet haben, als sie antworteten: "Ohne alle Bedingung Ew. Majestät, wir werfen uns Ihnen zu Füßen." Noch jetzt nennt man im Lande diese unterwürfigen Deputirten und schilt sie Verräther. Auch erzählt man als eine gerechte Vergeltung der Nemesis, daß, obgleich sie alle von der russischen Regierung mit Belohnungen, Ehren und Reichthümern überhäuft worden wären, doch keiner von ihnen angesehen und reich gestorben sey. Kurland kann sich also auf keinen Friedensschluß und auf keine Capitulation berufen. Nichtsdestoweniger blieb es auch hier beim deutschen Alten. Die Krone rückte nur als Erbin in die Rechte des Herzogs ein. Das Land behielt seine alten Eintheilungen in Hauptmannschaften und Oberhauptmannschaften, seine alten Gerichte, Hauptmannsgerichte, und Oberhofgerichte. Der Adel behielt seine alten Privilegien, als z. B. das Recht der hohen und niedern Jagd

Die Ostseeprovinzen.

I. Die deutschen und die russischen Institutionen.

(Beschluß.)

Um sich nun in der Kürze einen deutlichen Begriff von der jetzigen politischen Verfassung dieser Provinzen und ihren dermaligen Verhältnissen zu der russischen Bureaukratie zu machen, so läßt sich darüber Folgendes bemerken. Die Städte haben ihre alten deutschen Magistrate, Raths- und Aeltermannscollegien, die sich auf ähnliche Art bilden und ergänzen, wie in den alten deutschen Reichsstädten und die Angelegenheiten der Stadtcommunen mit ziemlicher Unbeschränktheit leiten, so daß z. B. in Riga ein Rathsherr oder Aeltermann eine fast eben so angesehene Person ist, wie in Hamburg oder Bremen.

Der Adel theilt sich in drei Ritterschaften: die esthländische, ösel'sche und livländische, die sich durch Deputirte in den Hauptstädten Rewal, Riga, Arensburg auf alle drei Jahre eintretenden Landtagen versammeln. Diese Landtage werden von dem Adelsmarschall präsidirt, und berathen sich über die Angelegenheiten des Adels und Landes, über die Errichtung von Schulen, die Verbesserung der Wege, die Recipirung neuer Adeliger, die Besetzung der Aemter, über Petitionen an den Kaiser u. s. w. Als bleibende und oberste Behörde steht in Livland an der Spitze des Adels das Collegium der Landräthe, der ehemals alleinigen Regenten des Landes, von denen der eine Oberpostdirector, der zweite Oberkirchenvorsteher, der dritte Oberrichter, der vierte Obervormund u. s. w. Die Ritterschaft bildet eine geschlossene Corporation, und Niemand, weder Russe noch Nichtrusse, hat das Recht Aufnahme zu verlangen. Sie verweigert oder ertheilt den darum Bittenden nach Gutdünken das Indigenat (Adels-Bürgerrecht) und somit die Erlaubniß im Lande Güter zu besitzen, an der Repräsentation und Aemterbesetzung Theil zu nehmen.

Die ganze Civilgesetzgebung (nicht so die Criminalgesetzgebung) ist bis dato noch deutsch-römisches Recht. Deutsche allgemeine und provincielle Gewohnheiten gelten durchweg, und die obersten und niederen Behörden und Gerichte sind auf deutschem Fuß eingerichtet und mit deutschen Beamten besetzt. Nur die Zweige der Administration, die Mauth, die Steuerbehörden, die Polizei u. s. w. sind auf russischem Fuße constituirt, obgleich auch in der Regel mit deutschem Beamtenpersonale besetzt. Sogar die obersten Administrativbeamten, die Gouverneure und Generalgouverneure der Provinzen werden vom Kaiser aus Rücksicht für die deutsche Nationalität der Provinzen immer aus dem deutschen Adel gewählt. Und nur sehr selten erschien bisher dann und wann einmal ein russischer Gouverneur in den Ostseeprovinzen, wo er aber auch nie lange blieb. Nichtsdestoweniger sind die Provinzen wegen ihrer deutschen Institutionen in fortwährender Besorgniß und Aufregung. Während des zwölfjährigen Bestandes der Statthalterschaftsverfassung Katharinens haben sich eine Menge von Russen in alle Stände und Abtheilungen der Gesellschaft eingeschlichen. Namentlich in Riga ist seitdem ihre Anzahl zu einer beträchtlichen Höhe angewachsen. Diese baltischen Russencolonien fordern laut und lauter Gleichstellung ihrer Rechte mit denen der Deutschen, wollen Theil an der Verwaltung und Einlaß in den Collegien haben. Der alte russische Adel in St. Petersburg und Moskau sieht schel auf die Privilegien der Deutschen, und die Ministerien und höchsten Reichsbeamten empfinden es sehr unangenehm, daß sie bei Einführung allgemeiner Maaßregeln immer genöthigt sind, besondere Rücksicht auf die Privilegien der Ostseeprovinzen zu nehmen, deren Existenz und Nothwendigkeit sie natürlich wenig begreifen und deren Ursprung sie längst vergessen haben. Freilich halten die russischen Kaiser selbst noch ein gnadenreiches Schild über ihre deutschen Unterthanen. Allein wer steht dafür, daß ihre Nachfolger bei dem beständigen Drängen der ihnen näherstehenden Russen nicht nachgeben und anfangen werden anders zu denken und zu verfahren? Auch jetzt wie früher gibt es alle Augenblicke Veranlassungen zu kleinen Streitigkeiten mit den Russen. Bald fühlt sich die Stadt und der Rath von Riga durch eine Verordnung verletzt und beeinträchtigt, bald die deutsche Universität Dorpat, bald die Ritterschaft und das Rathscollegium. Da sehr viele Deutsche in St. Petersburg in den höchsten Aemtern angestellt sind, so fehlt es ihnen indeß nicht an wohlwollenden und mächtigen Freunden.

Die Universität Dorpat hat ihre hohen Gönner und Connexionen in St. Petersburg, die Stadt Riga zählt dort ihre Freunde und ebenso natürlich der Adel der Provinz. In allen Fällen, wo eine Verordnung, eine Bestimmung oder eine Forderung der Russen deutsche Vorrechte bedroht, wird gleich Lärm geschlagen. Deputirte, öffentliche und geheime, werden nach St. Petersburg geschickt, die dortigen Gönner werden bearbeitet, in Feuer gebracht und in der Regel dann allerdings die Verordnung hintertrieben oder der Wunsch durchgesetzt, oft aber auch nicht.

In dem Herzogthum Kurland ist der Zustand ungefähr derselbe, wie in Liv- und Esthland, ungeachtet diese Provinz ohne Capitulation und Friedensschluß im Jahr 1795 an Rußland überging. In der polnischen Zeit – das Herzogthum war von 1561 bis 1795 ein polnisches Lehn – fanden die deutschen Privilegien des dortigen Adels, die oft von der polnischen Krone bedroht waren, einen natürlichen Fürsprecher an Rußland, und jedesmal, wenn Polen das Land seinem Reiche zu incorporiren versuchte, that Rußland kräftige Fürsprache. Bei der völligen Auflösung Polens in den neunziger Jahren blieb Kurland ohne Stütze. Der Herzog dankte im Sturm der auch hier wüthenden Parteien ab, und der Adel des Landes, eigenmächtig im Namen nicht nur des Adels, sondern auch der Städte, Bürger und Bauern handelnd, schickte eine Deputation nach St. Petersburg und ließ der Kaiserin Katharina die Unterwerfung des Herzogthums anbieten. „Unter welchen Bedingungen?“ soll die Kaiserin die kurischen Deputirten gefragt und sich verächtlich von ihnen abgewendet haben, als sie antworteten: „Ohne alle Bedingung Ew. Majestät, wir werfen uns Ihnen zu Füßen.“ Noch jetzt nennt man im Lande diese unterwürfigen Deputirten und schilt sie Verräther. Auch erzählt man als eine gerechte Vergeltung der Nemesis, daß, obgleich sie alle von der russischen Regierung mit Belohnungen, Ehren und Reichthümern überhäuft worden wären, doch keiner von ihnen angesehen und reich gestorben sey. Kurland kann sich also auf keinen Friedensschluß und auf keine Capitulation berufen. Nichtsdestoweniger blieb es auch hier beim deutschen Alten. Die Krone rückte nur als Erbin in die Rechte des Herzogs ein. Das Land behielt seine alten Eintheilungen in Hauptmannschaften und Oberhauptmannschaften, seine alten Gerichte, Hauptmannsgerichte, und Oberhofgerichte. Der Adel behielt seine alten Privilegien, als z. B. das Recht der hohen und niedern Jagd

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[1225/0009] Die Ostseeprovinzen. I. Die deutschen und die russischen Institutionen. (Beschluß.) Um sich nun in der Kürze einen deutlichen Begriff von der jetzigen politischen Verfassung dieser Provinzen und ihren dermaligen Verhältnissen zu der russischen Bureaukratie zu machen, so läßt sich darüber Folgendes bemerken. Die Städte haben ihre alten deutschen Magistrate, Raths- und Aeltermannscollegien, die sich auf ähnliche Art bilden und ergänzen, wie in den alten deutschen Reichsstädten und die Angelegenheiten der Stadtcommunen mit ziemlicher Unbeschränktheit leiten, so daß z. B. in Riga ein Rathsherr oder Aeltermann eine fast eben so angesehene Person ist, wie in Hamburg oder Bremen. Der Adel theilt sich in drei Ritterschaften: die esthländische, ösel'sche und livländische, die sich durch Deputirte in den Hauptstädten Rewal, Riga, Arensburg auf alle drei Jahre eintretenden Landtagen versammeln. Diese Landtage werden von dem Adelsmarschall präsidirt, und berathen sich über die Angelegenheiten des Adels und Landes, über die Errichtung von Schulen, die Verbesserung der Wege, die Recipirung neuer Adeliger, die Besetzung der Aemter, über Petitionen an den Kaiser u. s. w. Als bleibende und oberste Behörde steht in Livland an der Spitze des Adels das Collegium der Landräthe, der ehemals alleinigen Regenten des Landes, von denen der eine Oberpostdirector, der zweite Oberkirchenvorsteher, der dritte Oberrichter, der vierte Obervormund u. s. w. Die Ritterschaft bildet eine geschlossene Corporation, und Niemand, weder Russe noch Nichtrusse, hat das Recht Aufnahme zu verlangen. Sie verweigert oder ertheilt den darum Bittenden nach Gutdünken das Indigenat (Adels-Bürgerrecht) und somit die Erlaubniß im Lande Güter zu besitzen, an der Repräsentation und Aemterbesetzung Theil zu nehmen. Die ganze Civilgesetzgebung (nicht so die Criminalgesetzgebung) ist bis dato noch deutsch-römisches Recht. Deutsche allgemeine und provincielle Gewohnheiten gelten durchweg, und die obersten und niederen Behörden und Gerichte sind auf deutschem Fuß eingerichtet und mit deutschen Beamten besetzt. Nur die Zweige der Administration, die Mauth, die Steuerbehörden, die Polizei u. s. w. sind auf russischem Fuße constituirt, obgleich auch in der Regel mit deutschem Beamtenpersonale besetzt. Sogar die obersten Administrativbeamten, die Gouverneure und Generalgouverneure der Provinzen werden vom Kaiser aus Rücksicht für die deutsche Nationalität der Provinzen immer aus dem deutschen Adel gewählt. Und nur sehr selten erschien bisher dann und wann einmal ein russischer Gouverneur in den Ostseeprovinzen, wo er aber auch nie lange blieb. Nichtsdestoweniger sind die Provinzen wegen ihrer deutschen Institutionen in fortwährender Besorgniß und Aufregung. Während des zwölfjährigen Bestandes der Statthalterschaftsverfassung Katharinens haben sich eine Menge von Russen in alle Stände und Abtheilungen der Gesellschaft eingeschlichen. Namentlich in Riga ist seitdem ihre Anzahl zu einer beträchtlichen Höhe angewachsen. Diese baltischen Russencolonien fordern laut und lauter Gleichstellung ihrer Rechte mit denen der Deutschen, wollen Theil an der Verwaltung und Einlaß in den Collegien haben. Der alte russische Adel in St. Petersburg und Moskau sieht schel auf die Privilegien der Deutschen, und die Ministerien und höchsten Reichsbeamten empfinden es sehr unangenehm, daß sie bei Einführung allgemeiner Maaßregeln immer genöthigt sind, besondere Rücksicht auf die Privilegien der Ostseeprovinzen zu nehmen, deren Existenz und Nothwendigkeit sie natürlich wenig begreifen und deren Ursprung sie längst vergessen haben. Freilich halten die russischen Kaiser selbst noch ein gnadenreiches Schild über ihre deutschen Unterthanen. Allein wer steht dafür, daß ihre Nachfolger bei dem beständigen Drängen der ihnen näherstehenden Russen nicht nachgeben und anfangen werden anders zu denken und zu verfahren? Auch jetzt wie früher gibt es alle Augenblicke Veranlassungen zu kleinen Streitigkeiten mit den Russen. Bald fühlt sich die Stadt und der Rath von Riga durch eine Verordnung verletzt und beeinträchtigt, bald die deutsche Universität Dorpat, bald die Ritterschaft und das Rathscollegium. Da sehr viele Deutsche in St. Petersburg in den höchsten Aemtern angestellt sind, so fehlt es ihnen indeß nicht an wohlwollenden und mächtigen Freunden. Die Universität Dorpat hat ihre hohen Gönner und Connexionen in St. Petersburg, die Stadt Riga zählt dort ihre Freunde und ebenso natürlich der Adel der Provinz. In allen Fällen, wo eine Verordnung, eine Bestimmung oder eine Forderung der Russen deutsche Vorrechte bedroht, wird gleich Lärm geschlagen. Deputirte, öffentliche und geheime, werden nach St. Petersburg geschickt, die dortigen Gönner werden bearbeitet, in Feuer gebracht und in der Regel dann allerdings die Verordnung hintertrieben oder der Wunsch durchgesetzt, oft aber auch nicht. In dem Herzogthum Kurland ist der Zustand ungefähr derselbe, wie in Liv- und Esthland, ungeachtet diese Provinz ohne Capitulation und Friedensschluß im Jahr 1795 an Rußland überging. In der polnischen Zeit – das Herzogthum war von 1561 bis 1795 ein polnisches Lehn – fanden die deutschen Privilegien des dortigen Adels, die oft von der polnischen Krone bedroht waren, einen natürlichen Fürsprecher an Rußland, und jedesmal, wenn Polen das Land seinem Reiche zu incorporiren versuchte, that Rußland kräftige Fürsprache. Bei der völligen Auflösung Polens in den neunziger Jahren blieb Kurland ohne Stütze. Der Herzog dankte im Sturm der auch hier wüthenden Parteien ab, und der Adel des Landes, eigenmächtig im Namen nicht nur des Adels, sondern auch der Städte, Bürger und Bauern handelnd, schickte eine Deputation nach St. Petersburg und ließ der Kaiserin Katharina die Unterwerfung des Herzogthums anbieten. „Unter welchen Bedingungen?“ soll die Kaiserin die kurischen Deputirten gefragt und sich verächtlich von ihnen abgewendet haben, als sie antworteten: „Ohne alle Bedingung Ew. Majestät, wir werfen uns Ihnen zu Füßen.“ Noch jetzt nennt man im Lande diese unterwürfigen Deputirten und schilt sie Verräther. Auch erzählt man als eine gerechte Vergeltung der Nemesis, daß, obgleich sie alle von der russischen Regierung mit Belohnungen, Ehren und Reichthümern überhäuft worden wären, doch keiner von ihnen angesehen und reich gestorben sey. Kurland kann sich also auf keinen Friedensschluß und auf keine Capitulation berufen. Nichtsdestoweniger blieb es auch hier beim deutschen Alten. Die Krone rückte nur als Erbin in die Rechte des Herzogs ein. Das Land behielt seine alten Eintheilungen in Hauptmannschaften und Oberhauptmannschaften, seine alten Gerichte, Hauptmannsgerichte, und Oberhofgerichte. Der Adel behielt seine alten Privilegien, als z. B. das Recht der hohen und niedern Jagd

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 154. Augsburg, 2. Juni 1840, S. 1225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_154_18400602/9>, abgerufen am 23.11.2024.