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Allgemeine Zeitung. Nr. 146. Augsburg, 25. Mai 1840.

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Neumanns Rußland und die Tscherkessen.

(Beschluß.)

Nach dem sinnvollen Urtheil des mehrerwähnten Sjögren trägt in Cirkassien selbst die Sprache in ihrem Aeußern den Stempel der Nation, und zeugt durch ihre mit Gewalt vorwärts gestoßenen Laute, durch dumpfen und hohlen Klang, von einem beständigem Kampfe, von heftigen Leidenschaften und dem Bestreben Schwierigkeiten aller Art zu überwinden, die man sich gleichsam selbst zu erschaffen scheint, um in beständiger Uebung, in beständiger Anstrengung zu bleiben, damit man ja nicht Gefahr laufe, durch Weichlichkeit und Verzärtelung seine Selbstständigkeit zu verlieren. Von diesem Streben, Freiheit und selbstständiges Wesen zu bewahren und von jeder Art Verweichlichung fern zu bleiben, sey bei diesem Volke alles durchdrungen: Sprache und Verfassung, Gesetze und Sitten, das häusliche wie das bürgerliche Leben.

Bei dieser Richtung des Nationalsinnes halten sie eine streng aristokratische Staatseinrichtung für die geeignetste. Fürsten, Edelleute und freie Hintersassen, Bauern oder Erbpächter, sind die drei scharf geschiedenen, rechtlich construirten Bestandtheile des Tscherkessen-Volkes. Hier ist das classische Land der Aristokraten, mit dem ältesten und reinsten Adelsblut aller Völker indogermanischen Stammes. Es gilt aber auch in Cirkassien Niemand für adelig, von welchem man weiß, daß er jemals einer mindern Classe angehört, habe er auch mehreren Königen das Daseyn gegeben. Dagegen soll der Edelmann keine andern Geschäfte treiben, als seine Beute verkaufen; sie sagen nämlich, es gezieme dem Edelmann bloß das Volk zu regieren und es zu vertheidigen, dann auf die Jagd zu gehen und sich mit kriegerischen Uebungen zu beschäftigen. Besonders loben die tscherkessischen Adeligen die Freigebigkeit und verschenken, Pferde und Waffen ausgenommen, mit Leichtigkeit jedes Ding. Mit ihren Kleidungsstücken sind sie nicht nur über alles Maaß freigebig, sondern eigentlich verschwenderisch, weßwegen sie mit ihrem Gewande häufig schlechter daran sind, als ihre Unterthanen. Macht man auch noch so häufig im Jahr neue Kleider oder Hemden von carmoisinrother Seide, wie es bei ihnen Brauch ist, so hilft dieß doch nicht; denn es kommen alsbald die Lehnsleute und verlangen sie zum Geschenk. Es abzuschlagen oder nur ungehalten darüber zu seyn, gilt für eine große Schande. Sobald man ihnen nun das Kleid abfordert, ziehen sie es aus, geben es hin und nehmen dagegen das arme Kleid des gemeinen Mannes, ja die schlechte und schmutzige Hülle des Bettlers. Und so kommt es, daß die Adeligen schlechter gekleidet sind als die gemeinen Leute. Nur an Stiefeln, Waffen und Pferden, die sie niemals verschenken, erkennt man den tscherkessischen Edelmann.

In ganz Europa, nicht etwa in Deutschland allein, sucht man in Folge der heftigen Erschütterungen aller bürgerlichen Ordnung, jetzt mehr als je, die Proletarier und gemeinern Volksclassen in ihrem Drange nach Macht und Einfluß aufzuhalten, und, wie man sich ausdrückt, dem völligen Ruin des Adels abzuwehren. Obige Stelle gibt den Aristokraten und Restauratoren unserer Zeit die beste Lection, um welchen Preis sich das gemeine Volk Vorzug und Herrschaft der privilegirten Classen gefallen lasse. Regieren und Jagen könnten die Unsrigen freilich auch. Aber "das Volk vertheidigen," beständig in der Rüstung stecken, aller Ueppigkeit entsagen, und die Prachtgewänder bis auf das Hemd an jeden Begehrenden überlassen, wären für dieses Zeitalter vielleicht nicht ganz annehmbare Bedingungen wieder zu erringender Macht. - Wie in andern Dingen, sind die Russen auch in diesem viel klüger als die übrigen Völker, und gewiß kennt man in keinem Lande besser als in Moscovien die praktische Wahrheit von Ssaibs Sinnspruch:

Hifsi dewlet der perischan kerdeni sim u ser est
Meddi ihsan rüschtei dschirasei in difter est.

d. i.

Wirf Gold und Silber weg, die Herrschaft zu erhalten,
Durch Wohlthatfaden wird das Buch zusammengehalten.

Hammer.

Diese politische Ordnung und Ansicht besteht in Circassien seit unfürdenklichen Zeiten, ohne Erschütterung mit ungeminderter Kraft, und das Volk ist heute noch so frisch und energisch, so unbezwingbar und wohlgebildet, wie in der ältesten Zeit; ein Vorzug, dessen man sich in unserm Welttheil, wie man so häufig klagen hört, nicht rühmen darf. Freilich gibt es in Cirkassien keine Rechtsphilosophen, keine Büchersammlungen und insonderheit kein progressives System. Ob aber alte Nationalität und reiner Adel mit aristokratischer Ordnung um diesen Preis nicht zu theuer bezahlt seyen, ist eine Frage, auf die man in Deutschland und in Cirkassien nicht dieselbe Antwort gibt.

Unmittelbare Folge des cirkassischen Sonderlebens und der Waldeinsamkeit war gänzliches Erlöschen des Kirchenthums. Gemeiniglich denkt man sich bei uns Cirkassien als ein vollständig auf islamitischem Fuße bestelltes Land, voll Moscheen und Minarets mit Imam und Gebetausrufer, und das Volk eifrig dem Koran und dessen Praktiken ergeben. Dieß ist aber nicht der Fall, wie man hier umständlich und anziehend liest. Cirkassien bekannte sich einst, gleich den meisten Stämmen des Kaukasus, zum griechischen Christenthum, und erst im Laufe des 17ten und 18ten Jahrhunderts, folglich lange nach der Einnahme Konstantinopels durch die Türken, drang, zumeist unter die höhern Classen, der Islam ein, jedoch ohne je eigentlich national und lebendig zu werden. Interiano fand noch viele Kirchen und Geistliche griechischen Ritus. Heute herrscht dort eine wunderliche Mischung einheimischen Aberglaubens mit christlichen und mohammedanischen Gebräuchen. - Nicht ohne Interesse erfährt man, daß die Tscherkessen ein höchstes Wesen, eine Mutter Gottes, und mehrere himmlische Kräfte zweiten Ranges bekennen, die sie Apostel heißen. Sie glauben an die Unsterblichkeit der Seele, an eine jenseitige Belohnung und Bestrafung, je nach dem Betragen in diesem Leben. Die Wälder sind ihre Tempel, und ein Kreuz, vor einem Baum aufgepflanzt, bildet den Altar, vor welchem sie ihr Opfer verrichten, mit Salbung, Demuth und Andacht. - Nach dem Bekenntniß eines gefühlvollen Reisenden, dem Hr. Neumann in seiner Erzählung folgt, machten die frommen und einfachen religiösen Feierlichkeiten der Tscherkessen, in Gottes freier Natur, mitten in der Stille des Waldes, auf sein Gemüth einen unbeschreiblichen Eindruck, und erregten Gefühle der Andacht in seinem Herzen, von denen er selten in unsern Tempeln ergriffen wurde. Sie erregten eine Fülle von Gedanken über Gott, Seele, Unsterblichkeit, die lange nachklangen; sie richteten seinen Blick hin auf eine Welt, an die er sonst nur wenig zu denken pflegte.

Der Gedanke, ein so schönes und hochherziges Volk der christlichen Lehre wieder zu gewinnen, hat einen eigenthümlichen Reiz. Die Bergvölker, in der Regel fromm und zu religiösem

Neumanns Rußland und die Tscherkessen.

(Beschluß.)

Nach dem sinnvollen Urtheil des mehrerwähnten Sjögren trägt in Cirkassien selbst die Sprache in ihrem Aeußern den Stempel der Nation, und zeugt durch ihre mit Gewalt vorwärts gestoßenen Laute, durch dumpfen und hohlen Klang, von einem beständigem Kampfe, von heftigen Leidenschaften und dem Bestreben Schwierigkeiten aller Art zu überwinden, die man sich gleichsam selbst zu erschaffen scheint, um in beständiger Uebung, in beständiger Anstrengung zu bleiben, damit man ja nicht Gefahr laufe, durch Weichlichkeit und Verzärtelung seine Selbstständigkeit zu verlieren. Von diesem Streben, Freiheit und selbstständiges Wesen zu bewahren und von jeder Art Verweichlichung fern zu bleiben, sey bei diesem Volke alles durchdrungen: Sprache und Verfassung, Gesetze und Sitten, das häusliche wie das bürgerliche Leben.

Bei dieser Richtung des Nationalsinnes halten sie eine streng aristokratische Staatseinrichtung für die geeignetste. Fürsten, Edelleute und freie Hintersassen, Bauern oder Erbpächter, sind die drei scharf geschiedenen, rechtlich construirten Bestandtheile des Tscherkessen-Volkes. Hier ist das classische Land der Aristokraten, mit dem ältesten und reinsten Adelsblut aller Völker indogermanischen Stammes. Es gilt aber auch in Cirkassien Niemand für adelig, von welchem man weiß, daß er jemals einer mindern Classe angehört, habe er auch mehreren Königen das Daseyn gegeben. Dagegen soll der Edelmann keine andern Geschäfte treiben, als seine Beute verkaufen; sie sagen nämlich, es gezieme dem Edelmann bloß das Volk zu regieren und es zu vertheidigen, dann auf die Jagd zu gehen und sich mit kriegerischen Uebungen zu beschäftigen. Besonders loben die tscherkessischen Adeligen die Freigebigkeit und verschenken, Pferde und Waffen ausgenommen, mit Leichtigkeit jedes Ding. Mit ihren Kleidungsstücken sind sie nicht nur über alles Maaß freigebig, sondern eigentlich verschwenderisch, weßwegen sie mit ihrem Gewande häufig schlechter daran sind, als ihre Unterthanen. Macht man auch noch so häufig im Jahr neue Kleider oder Hemden von carmoisinrother Seide, wie es bei ihnen Brauch ist, so hilft dieß doch nicht; denn es kommen alsbald die Lehnsleute und verlangen sie zum Geschenk. Es abzuschlagen oder nur ungehalten darüber zu seyn, gilt für eine große Schande. Sobald man ihnen nun das Kleid abfordert, ziehen sie es aus, geben es hin und nehmen dagegen das arme Kleid des gemeinen Mannes, ja die schlechte und schmutzige Hülle des Bettlers. Und so kommt es, daß die Adeligen schlechter gekleidet sind als die gemeinen Leute. Nur an Stiefeln, Waffen und Pferden, die sie niemals verschenken, erkennt man den tscherkessischen Edelmann.

In ganz Europa, nicht etwa in Deutschland allein, sucht man in Folge der heftigen Erschütterungen aller bürgerlichen Ordnung, jetzt mehr als je, die Proletarier und gemeinern Volksclassen in ihrem Drange nach Macht und Einfluß aufzuhalten, und, wie man sich ausdrückt, dem völligen Ruin des Adels abzuwehren. Obige Stelle gibt den Aristokraten und Restauratoren unserer Zeit die beste Lection, um welchen Preis sich das gemeine Volk Vorzug und Herrschaft der privilegirten Classen gefallen lasse. Regieren und Jagen könnten die Unsrigen freilich auch. Aber „das Volk vertheidigen,“ beständig in der Rüstung stecken, aller Ueppigkeit entsagen, und die Prachtgewänder bis auf das Hemd an jeden Begehrenden überlassen, wären für dieses Zeitalter vielleicht nicht ganz annehmbare Bedingungen wieder zu erringender Macht. – Wie in andern Dingen, sind die Russen auch in diesem viel klüger als die übrigen Völker, und gewiß kennt man in keinem Lande besser als in Moscovien die praktische Wahrheit von Ssaibs Sinnspruch:

Hifsi dewlet der perischan kerdeni sim u ser est
Meddi ihsan rüschtei dschirasei in difter est.

d. i.

Wirf Gold und Silber weg, die Herrschaft zu erhalten,
Durch Wohlthatfaden wird das Buch zusammengehalten.

Hammer.

Diese politische Ordnung und Ansicht besteht in Circassien seit unfürdenklichen Zeiten, ohne Erschütterung mit ungeminderter Kraft, und das Volk ist heute noch so frisch und energisch, so unbezwingbar und wohlgebildet, wie in der ältesten Zeit; ein Vorzug, dessen man sich in unserm Welttheil, wie man so häufig klagen hört, nicht rühmen darf. Freilich gibt es in Cirkassien keine Rechtsphilosophen, keine Büchersammlungen und insonderheit kein progressives System. Ob aber alte Nationalität und reiner Adel mit aristokratischer Ordnung um diesen Preis nicht zu theuer bezahlt seyen, ist eine Frage, auf die man in Deutschland und in Cirkassien nicht dieselbe Antwort gibt.

Unmittelbare Folge des cirkassischen Sonderlebens und der Waldeinsamkeit war gänzliches Erlöschen des Kirchenthums. Gemeiniglich denkt man sich bei uns Cirkassien als ein vollständig auf islamitischem Fuße bestelltes Land, voll Moscheen und Minarets mit Imam und Gebetausrufer, und das Volk eifrig dem Koran und dessen Praktiken ergeben. Dieß ist aber nicht der Fall, wie man hier umständlich und anziehend liest. Cirkassien bekannte sich einst, gleich den meisten Stämmen des Kaukasus, zum griechischen Christenthum, und erst im Laufe des 17ten und 18ten Jahrhunderts, folglich lange nach der Einnahme Konstantinopels durch die Türken, drang, zumeist unter die höhern Classen, der Islam ein, jedoch ohne je eigentlich national und lebendig zu werden. Interiano fand noch viele Kirchen und Geistliche griechischen Ritus. Heute herrscht dort eine wunderliche Mischung einheimischen Aberglaubens mit christlichen und mohammedanischen Gebräuchen. – Nicht ohne Interesse erfährt man, daß die Tscherkessen ein höchstes Wesen, eine Mutter Gottes, und mehrere himmlische Kräfte zweiten Ranges bekennen, die sie Apostel heißen. Sie glauben an die Unsterblichkeit der Seele, an eine jenseitige Belohnung und Bestrafung, je nach dem Betragen in diesem Leben. Die Wälder sind ihre Tempel, und ein Kreuz, vor einem Baum aufgepflanzt, bildet den Altar, vor welchem sie ihr Opfer verrichten, mit Salbung, Demuth und Andacht. – Nach dem Bekenntniß eines gefühlvollen Reisenden, dem Hr. Neumann in seiner Erzählung folgt, machten die frommen und einfachen religiösen Feierlichkeiten der Tscherkessen, in Gottes freier Natur, mitten in der Stille des Waldes, auf sein Gemüth einen unbeschreiblichen Eindruck, und erregten Gefühle der Andacht in seinem Herzen, von denen er selten in unsern Tempeln ergriffen wurde. Sie erregten eine Fülle von Gedanken über Gott, Seele, Unsterblichkeit, die lange nachklangen; sie richteten seinen Blick hin auf eine Welt, an die er sonst nur wenig zu denken pflegte.

Der Gedanke, ein so schönes und hochherziges Volk der christlichen Lehre wieder zu gewinnen, hat einen eigenthümlichen Reiz. Die Bergvölker, in der Regel fromm und zu religiösem

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[1161/0009] Neumanns Rußland und die Tscherkessen. (Beschluß.) Nach dem sinnvollen Urtheil des mehrerwähnten Sjögren trägt in Cirkassien selbst die Sprache in ihrem Aeußern den Stempel der Nation, und zeugt durch ihre mit Gewalt vorwärts gestoßenen Laute, durch dumpfen und hohlen Klang, von einem beständigem Kampfe, von heftigen Leidenschaften und dem Bestreben Schwierigkeiten aller Art zu überwinden, die man sich gleichsam selbst zu erschaffen scheint, um in beständiger Uebung, in beständiger Anstrengung zu bleiben, damit man ja nicht Gefahr laufe, durch Weichlichkeit und Verzärtelung seine Selbstständigkeit zu verlieren. Von diesem Streben, Freiheit und selbstständiges Wesen zu bewahren und von jeder Art Verweichlichung fern zu bleiben, sey bei diesem Volke alles durchdrungen: Sprache und Verfassung, Gesetze und Sitten, das häusliche wie das bürgerliche Leben. Bei dieser Richtung des Nationalsinnes halten sie eine streng aristokratische Staatseinrichtung für die geeignetste. Fürsten, Edelleute und freie Hintersassen, Bauern oder Erbpächter, sind die drei scharf geschiedenen, rechtlich construirten Bestandtheile des Tscherkessen-Volkes. Hier ist das classische Land der Aristokraten, mit dem ältesten und reinsten Adelsblut aller Völker indogermanischen Stammes. Es gilt aber auch in Cirkassien Niemand für adelig, von welchem man weiß, daß er jemals einer mindern Classe angehört, habe er auch mehreren Königen das Daseyn gegeben. Dagegen soll der Edelmann keine andern Geschäfte treiben, als seine Beute verkaufen; sie sagen nämlich, es gezieme dem Edelmann bloß das Volk zu regieren und es zu vertheidigen, dann auf die Jagd zu gehen und sich mit kriegerischen Uebungen zu beschäftigen. Besonders loben die tscherkessischen Adeligen die Freigebigkeit und verschenken, Pferde und Waffen ausgenommen, mit Leichtigkeit jedes Ding. Mit ihren Kleidungsstücken sind sie nicht nur über alles Maaß freigebig, sondern eigentlich verschwenderisch, weßwegen sie mit ihrem Gewande häufig schlechter daran sind, als ihre Unterthanen. Macht man auch noch so häufig im Jahr neue Kleider oder Hemden von carmoisinrother Seide, wie es bei ihnen Brauch ist, so hilft dieß doch nicht; denn es kommen alsbald die Lehnsleute und verlangen sie zum Geschenk. Es abzuschlagen oder nur ungehalten darüber zu seyn, gilt für eine große Schande. Sobald man ihnen nun das Kleid abfordert, ziehen sie es aus, geben es hin und nehmen dagegen das arme Kleid des gemeinen Mannes, ja die schlechte und schmutzige Hülle des Bettlers. Und so kommt es, daß die Adeligen schlechter gekleidet sind als die gemeinen Leute. Nur an Stiefeln, Waffen und Pferden, die sie niemals verschenken, erkennt man den tscherkessischen Edelmann. In ganz Europa, nicht etwa in Deutschland allein, sucht man in Folge der heftigen Erschütterungen aller bürgerlichen Ordnung, jetzt mehr als je, die Proletarier und gemeinern Volksclassen in ihrem Drange nach Macht und Einfluß aufzuhalten, und, wie man sich ausdrückt, dem völligen Ruin des Adels abzuwehren. Obige Stelle gibt den Aristokraten und Restauratoren unserer Zeit die beste Lection, um welchen Preis sich das gemeine Volk Vorzug und Herrschaft der privilegirten Classen gefallen lasse. Regieren und Jagen könnten die Unsrigen freilich auch. Aber „das Volk vertheidigen,“ beständig in der Rüstung stecken, aller Ueppigkeit entsagen, und die Prachtgewänder bis auf das Hemd an jeden Begehrenden überlassen, wären für dieses Zeitalter vielleicht nicht ganz annehmbare Bedingungen wieder zu erringender Macht. – Wie in andern Dingen, sind die Russen auch in diesem viel klüger als die übrigen Völker, und gewiß kennt man in keinem Lande besser als in Moscovien die praktische Wahrheit von Ssaibs Sinnspruch: Hifsi dewlet der perischan kerdeni sim u ser est Meddi ihsan rüschtei dschirasei in difter est. d. i. Wirf Gold und Silber weg, die Herrschaft zu erhalten, Durch Wohlthatfaden wird das Buch zusammengehalten. Hammer. Diese politische Ordnung und Ansicht besteht in Circassien seit unfürdenklichen Zeiten, ohne Erschütterung mit ungeminderter Kraft, und das Volk ist heute noch so frisch und energisch, so unbezwingbar und wohlgebildet, wie in der ältesten Zeit; ein Vorzug, dessen man sich in unserm Welttheil, wie man so häufig klagen hört, nicht rühmen darf. Freilich gibt es in Cirkassien keine Rechtsphilosophen, keine Büchersammlungen und insonderheit kein progressives System. Ob aber alte Nationalität und reiner Adel mit aristokratischer Ordnung um diesen Preis nicht zu theuer bezahlt seyen, ist eine Frage, auf die man in Deutschland und in Cirkassien nicht dieselbe Antwort gibt. Unmittelbare Folge des cirkassischen Sonderlebens und der Waldeinsamkeit war gänzliches Erlöschen des Kirchenthums. Gemeiniglich denkt man sich bei uns Cirkassien als ein vollständig auf islamitischem Fuße bestelltes Land, voll Moscheen und Minarets mit Imam und Gebetausrufer, und das Volk eifrig dem Koran und dessen Praktiken ergeben. Dieß ist aber nicht der Fall, wie man hier umständlich und anziehend liest. Cirkassien bekannte sich einst, gleich den meisten Stämmen des Kaukasus, zum griechischen Christenthum, und erst im Laufe des 17ten und 18ten Jahrhunderts, folglich lange nach der Einnahme Konstantinopels durch die Türken, drang, zumeist unter die höhern Classen, der Islam ein, jedoch ohne je eigentlich national und lebendig zu werden. Interiano fand noch viele Kirchen und Geistliche griechischen Ritus. Heute herrscht dort eine wunderliche Mischung einheimischen Aberglaubens mit christlichen und mohammedanischen Gebräuchen. – Nicht ohne Interesse erfährt man, daß die Tscherkessen ein höchstes Wesen, eine Mutter Gottes, und mehrere himmlische Kräfte zweiten Ranges bekennen, die sie Apostel heißen. Sie glauben an die Unsterblichkeit der Seele, an eine jenseitige Belohnung und Bestrafung, je nach dem Betragen in diesem Leben. Die Wälder sind ihre Tempel, und ein Kreuz, vor einem Baum aufgepflanzt, bildet den Altar, vor welchem sie ihr Opfer verrichten, mit Salbung, Demuth und Andacht. – Nach dem Bekenntniß eines gefühlvollen Reisenden, dem Hr. Neumann in seiner Erzählung folgt, machten die frommen und einfachen religiösen Feierlichkeiten der Tscherkessen, in Gottes freier Natur, mitten in der Stille des Waldes, auf sein Gemüth einen unbeschreiblichen Eindruck, und erregten Gefühle der Andacht in seinem Herzen, von denen er selten in unsern Tempeln ergriffen wurde. Sie erregten eine Fülle von Gedanken über Gott, Seele, Unsterblichkeit, die lange nachklangen; sie richteten seinen Blick hin auf eine Welt, an die er sonst nur wenig zu denken pflegte. Der Gedanke, ein so schönes und hochherziges Volk der christlichen Lehre wieder zu gewinnen, hat einen eigenthümlichen Reiz. Die Bergvölker, in der Regel fromm und zu religiösem

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 146. Augsburg, 25. Mai 1840, S. 1161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_146_18400525/9>, abgerufen am 02.05.2024.