Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 135. Augsburg, 14. Mai 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Die geschichtliche Bedeutung des Ministeriums Thiers.

Das erste Jahrzehnt der Aera, die von der Juliusrevolution ihren Namen empfing, nähert sich rasch dem Ende. Im Verhältniß dieser steigenden Entfernung lösen sich allgemach auch die Massen dieser Bewegung selbst schärfer und freier von dem Hintergrunde der Geschichte ab, und dem historischen Bewußtseyn wird ein erschöpfendes Urtheil über ihren eigensten Charakter möglich. Die Revolution des Julius war ihrem nächsten Grunde nach eine abgedrungene Nothwehr der herrschenden Mittelclassen gegen die Uebergriffe des alten Regime gewesen; als solche schien sie in dem gewonnenen Sieg die nothwendige Schranke ihrer Wirkungen finden zu müssen. Allein der Lauf der bewegenden Kräfte in der Geschichte, einmal in Anstoß gebracht, läßt sich nicht mit Bestimmtheit berechnen: der Kanonendonner des Julius schlug gewaltig an alle Gräber der Vergangenheit und die drohenden Schatten von 1791 huschten wieder gespenstisch über die Bühne. Propheten standen auf im Volk, Verführte oder Verführer; ihre Angriffe richteten sich kühn gegen das ewig Positive der Gesellschaft: Staatsgewalt, Eigenthum, Ehe. Noch gefahrvoller als diese dogmatischen Verirrungen drohte der wilde desperate Geist der Arbeiterclassen, der ohne sittliche und religiöse Bindung mit geballter Faust und gierigem Auge eine neue Theilung der materiellen Lebensgüter verlangte. Man sah entsetzt in den Abgrund des Proletariats wie in einen brodelnden Lavakessel, wo die gebundenen Elementargeister der Gesellschaft schäumend durcheinander wirbelten, und an die Luft, ans Tageslicht zu steigen strebten, um Frankreich mit ihren Eruptionen zu überfluthen. Der Instinct der gemeinschaftlichen Gefahr schloß die Mittelclassen und die Dynastie Orleans aufs engste aneinander; als erschöpfender Ausdruck dieses Bündnisses erscheint Casimir Perrier, ein Mann voll Fassung und Verstand, als Geist nicht eben hoch über den Gesichtskreis seiner Kaste hinausreichend, selbstsüchtig, geldstolz, klug, welterfahren, streng wie ein Nobile des alten Venedigs - ein Mann des raschen Entschlusses, des decidirten Handelns und, wie ihn die Lage brauchte, ein ganzer Charakter. Zugleich trat Talleyrand, der Mephistopheles der Revolution, soufflirend hinter den Thronsessel seines königlichen Freundes, und während Perrier die Revolution nach innen bändigte, gelang es jener ergrauten Klugheit, die ihre Hand bei allen Krisen des Jahrhunderts im Spiele gehabt, dem vereinzelten Juliusfrankreich durch die englische Allianz einen mächtigen Rückhalt im Staatensystem Europa's zu vermitteln. Die Republik, niedergeworfen in den Straßen von Paris, griff in verzweifelter Unmacht vom massenhaften Aufruhr zum einzelnen Meuchelmord; der Emeute folgte das Attentat. So sprang die Nothwendigkeit einer starken Executivgewalt, die Angemessenheit des Königthums an sich als einer socialen Idee, als der organischen Vollendung des Bürgerstaats auch dem Kurzsichtigsten ins Auge; die Mehrheit der Kammer ward entschieden monarchisch. Die gemeinsame Noth hielt Alles enger zusammen, und eine Zeitlang gingen die Staatsgewalten in trefflicher Harmonie ihren Weg, so lange Perrier als unbestrittener Chef die Mehrheit mit seiner imponirenden Charakterkraft zusammenhielt und beherrschte. Allein schon bald nach seinem Tode blätterte sich der compacte Kern auseinander, der Kampf der Unterfeldherren um den Ring des todten Alexander begann, die Mehrheit blieb in ihrer Gesinnung entschieden königlich, aber sie zersplitterte sich in mannichfaltige Fractionen. Jedes Talent von höherem Rang erschuf sich eine eigene Fahne, ein eigenes Programm, ein eigenes kampflustiges Gefolge. Aber all diese Unterabtheilungen waren nur Coterien, keine Parteien; ein ächtes unterschiedenes historisches Leben pulsirte nirgends in ihnen, kein großes Interesse des Volks, kein wahrhaftes Bedürfniß der Zeit kam an ihnen zur Spiegelung; sie erschienen eben nur als Ausdruck überreizter Ehrsucht, eines krankhaften Durstes der Einzelnen nach Macht und Ansehen. Wie nun ein erlauchter Verstand eben hiedurch Herr und Meister des Terrains geworden, wie es ihm gelungen, die gespreizten Persönlichkeiten puppenähnlich gegeneinander in Harnisch zu jagen, eine durch die andere aufzureiben und sie so zuletzt in ihrer baren Nichtigkeit vor dem Publicum wie Fische im Netze zappeln zu lassen - diese reiche Aehrenlese komischer Züge muß der Feder eines späteren Lucian überlassen werden. Ministerien folgten auf Ministerien, Programme auf Programme; aber das System des persönlichen Gedankens blieb, wie auf einen unverrückbaren Schwerpunkt gegründet, dasselbe. Hatte man in den ernsten Krisen der Gesellschaft die Nothwendigkeit erkannt, das Königthum mit den eigenen Leibern zu decken, so gewöhnte man sich jetzt bei dem muthwilligen Bankerott aller öffentlichen Charaktere leicht an den andern Gedanken, auf die Persönlichkeit des Herrschers selbst als eine Instanz von höherer politischer Einsicht in allen Verwicklungen zu sehen. Die Macht des Königthums als Institution wuchs nicht, aber der Einfluß des Königs als Person wurde entscheidend.

So gelangten die Dinge thatsächlich ziemlich auf den Standpunkt wie vor der Juliusrevolution zurück, aber das Königthum selbst, indem es von seiner hohen uninteressirten Stellung in den Staub der Arena hinabtrat, stellte eben dadurch seine Existenz wie ein Problem vor die Parteien hin. Da war es Thiers zuerst, der, das Zweideutige und Gefährliche dieser Lage erkennend, aus der unterwürfigen Dienstbeflissenheit in ein energisches Behaupten seiner staatsmännischen Persönlichkeit hinübertrat, und eines Morgens sagte er spitz und keck: Schach! That er das etwa in einem Interesse selbstsüchtig schlauer Berechnung? erwog er vielleicht, daß es ihm, forthandelnd wie bisher, ergehen würde wie Pasquier und Decazes, den augendienerischen Invaliden der Restauration, oder handelte er wirklich unter dem Einfluß einer aufrichtigen Neigung für die wesentlichen Institutionen seines Landes? Wo sich persönliche und gegenständliche Rücksichten so innig vermischen, ist die Antwort mißlich; wahrscheinlich haben beide zusammengewirkt, denn die historischen Menschen werden zu den bestimmten Resultaten ihres Lebens nicht weniger durch persönliche Motive, wie durch den allgemeinen Geist der Epoche getrieben. Wie dem auch sey, das ist klar schon jetzt, daß der Kampf mit Thiers' Rückzug eine andere Wendung und Färbung nahm, daß sich die Streitfrage der innern Politik erst von nun an in der vollen nackten Entschiedenheit ihrer Gegensätze entgliederte. Wie hat man freilich damals Thiers verspottet und todtgesagt! wie hat man den Gefallenen auch in Ihrer Zeitung mit wohlfeilen Epigrammen überschüttet! wie hat man die Anmaßung des kleinen Plebejers komisch gefunden, der es wagte, die Wege einer erlauchten Intelligenz mit seiner eigenen zwerghaften Persönlichkeit kreuzen zu wollen! Solchen Spott haben die Einsichtigeren, die in der Bewegung unserer Tage noch etwas mehr sehen als persönliche Schauspielereien, nie getheilt; sie haben von Anfang an gewußt, daß der Kampf der Personen

Die geschichtliche Bedeutung des Ministeriums Thiers.

Das erste Jahrzehnt der Aera, die von der Juliusrevolution ihren Namen empfing, nähert sich rasch dem Ende. Im Verhältniß dieser steigenden Entfernung lösen sich allgemach auch die Massen dieser Bewegung selbst schärfer und freier von dem Hintergrunde der Geschichte ab, und dem historischen Bewußtseyn wird ein erschöpfendes Urtheil über ihren eigensten Charakter möglich. Die Revolution des Julius war ihrem nächsten Grunde nach eine abgedrungene Nothwehr der herrschenden Mittelclassen gegen die Uebergriffe des alten Regime gewesen; als solche schien sie in dem gewonnenen Sieg die nothwendige Schranke ihrer Wirkungen finden zu müssen. Allein der Lauf der bewegenden Kräfte in der Geschichte, einmal in Anstoß gebracht, läßt sich nicht mit Bestimmtheit berechnen: der Kanonendonner des Julius schlug gewaltig an alle Gräber der Vergangenheit und die drohenden Schatten von 1791 huschten wieder gespenstisch über die Bühne. Propheten standen auf im Volk, Verführte oder Verführer; ihre Angriffe richteten sich kühn gegen das ewig Positive der Gesellschaft: Staatsgewalt, Eigenthum, Ehe. Noch gefahrvoller als diese dogmatischen Verirrungen drohte der wilde desperate Geist der Arbeiterclassen, der ohne sittliche und religiöse Bindung mit geballter Faust und gierigem Auge eine neue Theilung der materiellen Lebensgüter verlangte. Man sah entsetzt in den Abgrund des Proletariats wie in einen brodelnden Lavakessel, wo die gebundenen Elementargeister der Gesellschaft schäumend durcheinander wirbelten, und an die Luft, ans Tageslicht zu steigen strebten, um Frankreich mit ihren Eruptionen zu überfluthen. Der Instinct der gemeinschaftlichen Gefahr schloß die Mittelclassen und die Dynastie Orleans aufs engste aneinander; als erschöpfender Ausdruck dieses Bündnisses erscheint Casimir Perrier, ein Mann voll Fassung und Verstand, als Geist nicht eben hoch über den Gesichtskreis seiner Kaste hinausreichend, selbstsüchtig, geldstolz, klug, welterfahren, streng wie ein Nobile des alten Venedigs – ein Mann des raschen Entschlusses, des decidirten Handelns und, wie ihn die Lage brauchte, ein ganzer Charakter. Zugleich trat Talleyrand, der Mephistopheles der Revolution, soufflirend hinter den Thronsessel seines königlichen Freundes, und während Perrier die Revolution nach innen bändigte, gelang es jener ergrauten Klugheit, die ihre Hand bei allen Krisen des Jahrhunderts im Spiele gehabt, dem vereinzelten Juliusfrankreich durch die englische Allianz einen mächtigen Rückhalt im Staatensystem Europa's zu vermitteln. Die Republik, niedergeworfen in den Straßen von Paris, griff in verzweifelter Unmacht vom massenhaften Aufruhr zum einzelnen Meuchelmord; der Emeute folgte das Attentat. So sprang die Nothwendigkeit einer starken Executivgewalt, die Angemessenheit des Königthums an sich als einer socialen Idee, als der organischen Vollendung des Bürgerstaats auch dem Kurzsichtigsten ins Auge; die Mehrheit der Kammer ward entschieden monarchisch. Die gemeinsame Noth hielt Alles enger zusammen, und eine Zeitlang gingen die Staatsgewalten in trefflicher Harmonie ihren Weg, so lange Perrier als unbestrittener Chef die Mehrheit mit seiner imponirenden Charakterkraft zusammenhielt und beherrschte. Allein schon bald nach seinem Tode blätterte sich der compacte Kern auseinander, der Kampf der Unterfeldherren um den Ring des todten Alexander begann, die Mehrheit blieb in ihrer Gesinnung entschieden königlich, aber sie zersplitterte sich in mannichfaltige Fractionen. Jedes Talent von höherem Rang erschuf sich eine eigene Fahne, ein eigenes Programm, ein eigenes kampflustiges Gefolge. Aber all diese Unterabtheilungen waren nur Coterien, keine Parteien; ein ächtes unterschiedenes historisches Leben pulsirte nirgends in ihnen, kein großes Interesse des Volks, kein wahrhaftes Bedürfniß der Zeit kam an ihnen zur Spiegelung; sie erschienen eben nur als Ausdruck überreizter Ehrsucht, eines krankhaften Durstes der Einzelnen nach Macht und Ansehen. Wie nun ein erlauchter Verstand eben hiedurch Herr und Meister des Terrains geworden, wie es ihm gelungen, die gespreizten Persönlichkeiten puppenähnlich gegeneinander in Harnisch zu jagen, eine durch die andere aufzureiben und sie so zuletzt in ihrer baren Nichtigkeit vor dem Publicum wie Fische im Netze zappeln zu lassen – diese reiche Aehrenlese komischer Züge muß der Feder eines späteren Lucian überlassen werden. Ministerien folgten auf Ministerien, Programme auf Programme; aber das System des persönlichen Gedankens blieb, wie auf einen unverrückbaren Schwerpunkt gegründet, dasselbe. Hatte man in den ernsten Krisen der Gesellschaft die Nothwendigkeit erkannt, das Königthum mit den eigenen Leibern zu decken, so gewöhnte man sich jetzt bei dem muthwilligen Bankerott aller öffentlichen Charaktere leicht an den andern Gedanken, auf die Persönlichkeit des Herrschers selbst als eine Instanz von höherer politischer Einsicht in allen Verwicklungen zu sehen. Die Macht des Königthums als Institution wuchs nicht, aber der Einfluß des Königs als Person wurde entscheidend.

So gelangten die Dinge thatsächlich ziemlich auf den Standpunkt wie vor der Juliusrevolution zurück, aber das Königthum selbst, indem es von seiner hohen uninteressirten Stellung in den Staub der Arena hinabtrat, stellte eben dadurch seine Existenz wie ein Problem vor die Parteien hin. Da war es Thiers zuerst, der, das Zweideutige und Gefährliche dieser Lage erkennend, aus der unterwürfigen Dienstbeflissenheit in ein energisches Behaupten seiner staatsmännischen Persönlichkeit hinübertrat, und eines Morgens sagte er spitz und keck: Schach! That er das etwa in einem Interesse selbstsüchtig schlauer Berechnung? erwog er vielleicht, daß es ihm, forthandelnd wie bisher, ergehen würde wie Pasquier und Decazes, den augendienerischen Invaliden der Restauration, oder handelte er wirklich unter dem Einfluß einer aufrichtigen Neigung für die wesentlichen Institutionen seines Landes? Wo sich persönliche und gegenständliche Rücksichten so innig vermischen, ist die Antwort mißlich; wahrscheinlich haben beide zusammengewirkt, denn die historischen Menschen werden zu den bestimmten Resultaten ihres Lebens nicht weniger durch persönliche Motive, wie durch den allgemeinen Geist der Epoche getrieben. Wie dem auch sey, das ist klar schon jetzt, daß der Kampf mit Thiers' Rückzug eine andere Wendung und Färbung nahm, daß sich die Streitfrage der innern Politik erst von nun an in der vollen nackten Entschiedenheit ihrer Gegensätze entgliederte. Wie hat man freilich damals Thiers verspottet und todtgesagt! wie hat man den Gefallenen auch in Ihrer Zeitung mit wohlfeilen Epigrammen überschüttet! wie hat man die Anmaßung des kleinen Plebejers komisch gefunden, der es wagte, die Wege einer erlauchten Intelligenz mit seiner eigenen zwerghaften Persönlichkeit kreuzen zu wollen! Solchen Spott haben die Einsichtigeren, die in der Bewegung unserer Tage noch etwas mehr sehen als persönliche Schauspielereien, nie getheilt; sie haben von Anfang an gewußt, daß der Kampf der Personen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0009" n="1073"/>
        </div>
      </div>
      <div type="jArticle" n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die geschichtliche Bedeutung des Ministeriums Thiers</hi>.</hi> </head><lb/>
        <div n="2">
          <byline>
            <docAuthor>
              <gap reason="insignificant"/>
            </docAuthor>
          </byline>
          <dateline><hi rendition="#b">Vom Rhein,</hi> 1 Mai.</dateline>
          <p> Das erste Jahrzehnt der Aera, die von der Juliusrevolution ihren Namen empfing, nähert sich rasch dem Ende. Im Verhältniß dieser steigenden Entfernung lösen sich allgemach auch die Massen dieser Bewegung selbst schärfer und freier von dem Hintergrunde der Geschichte ab, und dem historischen Bewußtseyn wird ein erschöpfendes Urtheil über ihren eigensten Charakter möglich. Die Revolution des Julius war ihrem nächsten Grunde nach eine abgedrungene Nothwehr der herrschenden Mittelclassen gegen die Uebergriffe des alten Regime gewesen; als solche schien sie in dem gewonnenen Sieg die nothwendige Schranke ihrer Wirkungen finden zu müssen. Allein der Lauf der bewegenden Kräfte in der Geschichte, einmal in Anstoß gebracht, läßt sich nicht mit Bestimmtheit berechnen: der Kanonendonner des Julius schlug gewaltig an alle Gräber der Vergangenheit und die drohenden Schatten von 1791 huschten wieder gespenstisch über die Bühne. Propheten standen auf im Volk, Verführte oder Verführer; ihre Angriffe richteten sich kühn gegen das ewig Positive der Gesellschaft: Staatsgewalt, Eigenthum, Ehe. Noch gefahrvoller als diese dogmatischen Verirrungen drohte der wilde desperate Geist der Arbeiterclassen, der ohne sittliche und religiöse Bindung mit geballter Faust und gierigem Auge eine neue Theilung der materiellen Lebensgüter verlangte. Man sah entsetzt in den Abgrund des Proletariats wie in einen brodelnden Lavakessel, wo die gebundenen Elementargeister der Gesellschaft schäumend durcheinander wirbelten, und an die Luft, ans Tageslicht zu steigen strebten, um Frankreich mit ihren Eruptionen zu überfluthen. Der Instinct der gemeinschaftlichen Gefahr schloß die Mittelclassen und die Dynastie Orleans aufs engste aneinander; als erschöpfender Ausdruck dieses Bündnisses erscheint Casimir Perrier, ein Mann voll Fassung und Verstand, als Geist nicht eben hoch über den Gesichtskreis seiner Kaste hinausreichend, selbstsüchtig, geldstolz, klug, welterfahren, streng wie ein Nobile des alten Venedigs &#x2013; ein Mann des raschen Entschlusses, des decidirten Handelns und, wie ihn die Lage brauchte, ein ganzer Charakter. Zugleich trat Talleyrand, der Mephistopheles der Revolution, soufflirend hinter den Thronsessel seines königlichen Freundes, und während Perrier die Revolution nach innen bändigte, gelang es jener ergrauten Klugheit, die ihre Hand bei allen Krisen des Jahrhunderts im Spiele gehabt, dem vereinzelten Juliusfrankreich durch die englische Allianz einen mächtigen Rückhalt im Staatensystem Europa's zu vermitteln. Die Republik, niedergeworfen in den Straßen von Paris, griff in verzweifelter Unmacht vom massenhaften Aufruhr zum einzelnen Meuchelmord; der Emeute folgte das Attentat. So sprang die Nothwendigkeit einer starken Executivgewalt, die Angemessenheit des Königthums an sich als einer socialen Idee, als der organischen Vollendung des Bürgerstaats auch dem Kurzsichtigsten ins Auge; die Mehrheit der Kammer ward entschieden monarchisch. Die gemeinsame Noth hielt Alles enger zusammen, und eine Zeitlang gingen die Staatsgewalten in trefflicher Harmonie ihren Weg, so lange Perrier als unbestrittener Chef die Mehrheit mit seiner imponirenden Charakterkraft zusammenhielt und beherrschte. Allein schon bald nach seinem Tode blätterte sich der compacte Kern auseinander, der Kampf der Unterfeldherren um den Ring des todten Alexander begann, die Mehrheit blieb in ihrer Gesinnung entschieden königlich, aber sie zersplitterte sich in mannichfaltige Fractionen. Jedes Talent von höherem Rang erschuf sich eine eigene Fahne, ein eigenes Programm, ein eigenes kampflustiges Gefolge. Aber all diese Unterabtheilungen waren nur Coterien, keine Parteien; ein ächtes unterschiedenes historisches Leben pulsirte nirgends in ihnen, kein großes Interesse des Volks, kein wahrhaftes Bedürfniß der Zeit kam an ihnen zur Spiegelung; sie erschienen eben nur als Ausdruck überreizter Ehrsucht, eines krankhaften Durstes der Einzelnen nach Macht und Ansehen. Wie nun ein erlauchter Verstand eben hiedurch Herr und Meister des Terrains geworden, wie es ihm gelungen, die gespreizten Persönlichkeiten puppenähnlich gegeneinander in Harnisch zu jagen, eine durch die andere aufzureiben und sie so zuletzt in ihrer baren Nichtigkeit vor dem Publicum wie Fische im Netze zappeln zu lassen &#x2013; diese reiche Aehrenlese komischer Züge muß der Feder eines späteren Lucian überlassen werden. Ministerien folgten auf Ministerien, Programme auf Programme; aber das System des persönlichen Gedankens blieb, wie auf einen unverrückbaren Schwerpunkt gegründet, dasselbe. Hatte man in den ernsten Krisen der Gesellschaft die Nothwendigkeit erkannt, das Königthum mit den eigenen Leibern zu decken, so gewöhnte man sich jetzt bei dem muthwilligen Bankerott aller öffentlichen Charaktere leicht an den andern Gedanken, auf die Persönlichkeit des Herrschers selbst als eine Instanz von höherer politischer Einsicht in allen Verwicklungen zu sehen. Die Macht des Königthums als Institution wuchs nicht, aber der Einfluß des Königs als Person wurde entscheidend.</p><lb/>
          <p>So gelangten die Dinge thatsächlich ziemlich auf den Standpunkt wie vor der Juliusrevolution zurück, aber das Königthum selbst, indem es von seiner hohen uninteressirten Stellung in den Staub der Arena hinabtrat, stellte eben dadurch seine Existenz wie ein Problem vor die Parteien hin. Da war es Thiers zuerst, der, das Zweideutige und Gefährliche dieser Lage erkennend, aus der unterwürfigen Dienstbeflissenheit in ein energisches Behaupten seiner staatsmännischen Persönlichkeit hinübertrat, und eines Morgens sagte er spitz und keck: Schach! That er das etwa in einem Interesse selbstsüchtig schlauer Berechnung? erwog er vielleicht, daß es ihm, forthandelnd wie bisher, ergehen würde wie Pasquier und Decazes, den augendienerischen Invaliden der Restauration, oder handelte er wirklich unter dem Einfluß einer aufrichtigen Neigung für die wesentlichen Institutionen seines Landes? Wo sich persönliche und gegenständliche Rücksichten so innig vermischen, ist die Antwort mißlich; wahrscheinlich haben beide zusammengewirkt, denn die historischen Menschen werden zu den bestimmten Resultaten ihres Lebens nicht weniger durch persönliche Motive, wie durch den allgemeinen Geist der Epoche getrieben. Wie dem auch sey, das ist klar schon jetzt, daß der Kampf mit Thiers' Rückzug eine andere Wendung und Färbung nahm, daß sich die Streitfrage der innern Politik erst von nun an in der vollen nackten Entschiedenheit ihrer Gegensätze entgliederte. Wie hat man freilich damals Thiers verspottet und todtgesagt! wie hat man den Gefallenen auch in Ihrer Zeitung mit wohlfeilen Epigrammen überschüttet! wie hat man die Anmaßung des kleinen Plebejers komisch gefunden, der es wagte, die Wege einer erlauchten Intelligenz mit seiner eigenen zwerghaften Persönlichkeit kreuzen zu wollen! Solchen Spott haben die Einsichtigeren, die in der Bewegung unserer Tage noch etwas mehr sehen als persönliche Schauspielereien, nie getheilt; sie haben von Anfang an gewußt, daß der Kampf der Personen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1073/0009] Die geschichtliche Bedeutung des Ministeriums Thiers. _ Vom Rhein, 1 Mai. Das erste Jahrzehnt der Aera, die von der Juliusrevolution ihren Namen empfing, nähert sich rasch dem Ende. Im Verhältniß dieser steigenden Entfernung lösen sich allgemach auch die Massen dieser Bewegung selbst schärfer und freier von dem Hintergrunde der Geschichte ab, und dem historischen Bewußtseyn wird ein erschöpfendes Urtheil über ihren eigensten Charakter möglich. Die Revolution des Julius war ihrem nächsten Grunde nach eine abgedrungene Nothwehr der herrschenden Mittelclassen gegen die Uebergriffe des alten Regime gewesen; als solche schien sie in dem gewonnenen Sieg die nothwendige Schranke ihrer Wirkungen finden zu müssen. Allein der Lauf der bewegenden Kräfte in der Geschichte, einmal in Anstoß gebracht, läßt sich nicht mit Bestimmtheit berechnen: der Kanonendonner des Julius schlug gewaltig an alle Gräber der Vergangenheit und die drohenden Schatten von 1791 huschten wieder gespenstisch über die Bühne. Propheten standen auf im Volk, Verführte oder Verführer; ihre Angriffe richteten sich kühn gegen das ewig Positive der Gesellschaft: Staatsgewalt, Eigenthum, Ehe. Noch gefahrvoller als diese dogmatischen Verirrungen drohte der wilde desperate Geist der Arbeiterclassen, der ohne sittliche und religiöse Bindung mit geballter Faust und gierigem Auge eine neue Theilung der materiellen Lebensgüter verlangte. Man sah entsetzt in den Abgrund des Proletariats wie in einen brodelnden Lavakessel, wo die gebundenen Elementargeister der Gesellschaft schäumend durcheinander wirbelten, und an die Luft, ans Tageslicht zu steigen strebten, um Frankreich mit ihren Eruptionen zu überfluthen. Der Instinct der gemeinschaftlichen Gefahr schloß die Mittelclassen und die Dynastie Orleans aufs engste aneinander; als erschöpfender Ausdruck dieses Bündnisses erscheint Casimir Perrier, ein Mann voll Fassung und Verstand, als Geist nicht eben hoch über den Gesichtskreis seiner Kaste hinausreichend, selbstsüchtig, geldstolz, klug, welterfahren, streng wie ein Nobile des alten Venedigs – ein Mann des raschen Entschlusses, des decidirten Handelns und, wie ihn die Lage brauchte, ein ganzer Charakter. Zugleich trat Talleyrand, der Mephistopheles der Revolution, soufflirend hinter den Thronsessel seines königlichen Freundes, und während Perrier die Revolution nach innen bändigte, gelang es jener ergrauten Klugheit, die ihre Hand bei allen Krisen des Jahrhunderts im Spiele gehabt, dem vereinzelten Juliusfrankreich durch die englische Allianz einen mächtigen Rückhalt im Staatensystem Europa's zu vermitteln. Die Republik, niedergeworfen in den Straßen von Paris, griff in verzweifelter Unmacht vom massenhaften Aufruhr zum einzelnen Meuchelmord; der Emeute folgte das Attentat. So sprang die Nothwendigkeit einer starken Executivgewalt, die Angemessenheit des Königthums an sich als einer socialen Idee, als der organischen Vollendung des Bürgerstaats auch dem Kurzsichtigsten ins Auge; die Mehrheit der Kammer ward entschieden monarchisch. Die gemeinsame Noth hielt Alles enger zusammen, und eine Zeitlang gingen die Staatsgewalten in trefflicher Harmonie ihren Weg, so lange Perrier als unbestrittener Chef die Mehrheit mit seiner imponirenden Charakterkraft zusammenhielt und beherrschte. Allein schon bald nach seinem Tode blätterte sich der compacte Kern auseinander, der Kampf der Unterfeldherren um den Ring des todten Alexander begann, die Mehrheit blieb in ihrer Gesinnung entschieden königlich, aber sie zersplitterte sich in mannichfaltige Fractionen. Jedes Talent von höherem Rang erschuf sich eine eigene Fahne, ein eigenes Programm, ein eigenes kampflustiges Gefolge. Aber all diese Unterabtheilungen waren nur Coterien, keine Parteien; ein ächtes unterschiedenes historisches Leben pulsirte nirgends in ihnen, kein großes Interesse des Volks, kein wahrhaftes Bedürfniß der Zeit kam an ihnen zur Spiegelung; sie erschienen eben nur als Ausdruck überreizter Ehrsucht, eines krankhaften Durstes der Einzelnen nach Macht und Ansehen. Wie nun ein erlauchter Verstand eben hiedurch Herr und Meister des Terrains geworden, wie es ihm gelungen, die gespreizten Persönlichkeiten puppenähnlich gegeneinander in Harnisch zu jagen, eine durch die andere aufzureiben und sie so zuletzt in ihrer baren Nichtigkeit vor dem Publicum wie Fische im Netze zappeln zu lassen – diese reiche Aehrenlese komischer Züge muß der Feder eines späteren Lucian überlassen werden. Ministerien folgten auf Ministerien, Programme auf Programme; aber das System des persönlichen Gedankens blieb, wie auf einen unverrückbaren Schwerpunkt gegründet, dasselbe. Hatte man in den ernsten Krisen der Gesellschaft die Nothwendigkeit erkannt, das Königthum mit den eigenen Leibern zu decken, so gewöhnte man sich jetzt bei dem muthwilligen Bankerott aller öffentlichen Charaktere leicht an den andern Gedanken, auf die Persönlichkeit des Herrschers selbst als eine Instanz von höherer politischer Einsicht in allen Verwicklungen zu sehen. Die Macht des Königthums als Institution wuchs nicht, aber der Einfluß des Königs als Person wurde entscheidend. So gelangten die Dinge thatsächlich ziemlich auf den Standpunkt wie vor der Juliusrevolution zurück, aber das Königthum selbst, indem es von seiner hohen uninteressirten Stellung in den Staub der Arena hinabtrat, stellte eben dadurch seine Existenz wie ein Problem vor die Parteien hin. Da war es Thiers zuerst, der, das Zweideutige und Gefährliche dieser Lage erkennend, aus der unterwürfigen Dienstbeflissenheit in ein energisches Behaupten seiner staatsmännischen Persönlichkeit hinübertrat, und eines Morgens sagte er spitz und keck: Schach! That er das etwa in einem Interesse selbstsüchtig schlauer Berechnung? erwog er vielleicht, daß es ihm, forthandelnd wie bisher, ergehen würde wie Pasquier und Decazes, den augendienerischen Invaliden der Restauration, oder handelte er wirklich unter dem Einfluß einer aufrichtigen Neigung für die wesentlichen Institutionen seines Landes? Wo sich persönliche und gegenständliche Rücksichten so innig vermischen, ist die Antwort mißlich; wahrscheinlich haben beide zusammengewirkt, denn die historischen Menschen werden zu den bestimmten Resultaten ihres Lebens nicht weniger durch persönliche Motive, wie durch den allgemeinen Geist der Epoche getrieben. Wie dem auch sey, das ist klar schon jetzt, daß der Kampf mit Thiers' Rückzug eine andere Wendung und Färbung nahm, daß sich die Streitfrage der innern Politik erst von nun an in der vollen nackten Entschiedenheit ihrer Gegensätze entgliederte. Wie hat man freilich damals Thiers verspottet und todtgesagt! wie hat man den Gefallenen auch in Ihrer Zeitung mit wohlfeilen Epigrammen überschüttet! wie hat man die Anmaßung des kleinen Plebejers komisch gefunden, der es wagte, die Wege einer erlauchten Intelligenz mit seiner eigenen zwerghaften Persönlichkeit kreuzen zu wollen! Solchen Spott haben die Einsichtigeren, die in der Bewegung unserer Tage noch etwas mehr sehen als persönliche Schauspielereien, nie getheilt; sie haben von Anfang an gewußt, daß der Kampf der Personen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (?): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_135_18400514
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_135_18400514/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 135. Augsburg, 14. Mai 1840, S. 1073. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_135_18400514/9>, abgerufen am 09.11.2024.