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Allgemeine Zeitung. Nr. 91. Augsburg, 31. März 1840.

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A. v. Lamartine.

(Beschluß.) Das Anathem gegen das erwähnte Gedicht (Jocelyn) gründet sich nicht bloß auf Fehler der Oekonomie und Vernachlässigung der Form, die ohnehin nur hie und da hervortritt, und durch Schönheiten ersten Ranges hinlänglich aufgewogen wird, sondern auch auf die Auflehnung gegen das religiöse Herkommen, die man in der Anlage oder in Einzelnheiten desselben bemerken wollte. Am meisten Aergerniß mögen rechtgläubige Leser an der Episode finden, die das Buch der Urzeit (livre primitif) enthält. Hier wird der vorzüglichsten Dogmen des Christenthums prophetische Erwähnung gethan; was aber über die Kenntniß eines höchsten Wesens und die Idee von der Vervollkommnung des Menschen ins Unendliche fort hinausgeht, wie Annahme ewiger Strafen und das Herabkommen Gottes auf die Erde, wird ohne Umstände als Betrug erklärt. Hier muß aber beachtet werden, daß diese Episode nicht als der unmittelbar lyrische Erguß des Dichters betrachtet seyn, sondern nur die einfache Naturansicht unverdorbener, ungefallener Menschen, die aber eine dunkle Ahnung der Sünde und ihrer Folgen in sich tragen, wiedergeben will. Außerdem hat der pantheistische Gedanke, der in diesen Lehrsätzen mehr oder minder verborgen waltet, eine Menge Gemüther unserer Zeit ergriffen, und Allem, was mächtig auf seine Epoche wirkt, muß der Dichter unwillkürlich den Zauber seiner Stimme leihen. Der Liebende ersucht ihn sein Idol, die Kinder bitten ihn, das Fest des elterlichen Hauses, die Bürger ihn, des Volkes Feier zu verherrlichen; so auch gehen die Ideen ihn mit dringendem, wenn auch körperlosem Worte um einige Töne seiner Leyer an, und wenn er standhaft sie versagt, bewegen sie das Saitenspiel mit eignem Hauch. Abfall und leichtsinniges Vergessen früherer Grundsätze kann unserm Dichter durchaus nicht zur Last gelegt werden; Theologie im strengeren Sinn des Worts war nie die Führerin seines Genius; mit jenen Preisgesängen des Mittelalters, wo der lebendigste Drang des Gefühls in die enge Umhegung heiliger Formeln, wie der volle Gebrauch wahrer Freiheit in die Schranken der Gesetze, sich einschließt, haben Lamartine's glühendste Hymnen nichts gemein; wenn er in den Tempel ging, war es mehr um zu träumen, als um zu beten. Die Gebräuche der Kirche sind nicht Gegenstand seiner Lieder, sondern nur der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. Das sanfte Feuer der ewigen Lampe im Schooße des Heiligthums wird ihm zum Sinnbild seiner Seele und ihrer Sehnsucht, das klagende Geläute der stillen Woche zum Echo seiner eignen Stimmung, und die düstern Kerzen am heiligen Grabe zum Abglanz seiner Trauer.

Ein anderer Vorwurf, der gegen die Poesie der Meditationen und Harmonien hie und da, namentlich im Ausland ertönt, sie wurzle nicht in dem ursprünglichen Volksgeist der Franzosen, gründet sich, unseres Bedünkens, auf ungenaue Annahmen. Die Meinung freilich, die dem Franzosen nur die Tugenden eines Haarkünstlers, Tanzmeisters und Grenadiers, wenn es hoch kömmt, zugesteht, und in den Reimen Berangers den Gipfelpunkt wie Inbegriff französischen Denkens und Fühlens erblickt, die Meinung freilich muß Hr. v. Lamartine eher für einen Hindu oder Beduinen, als für einen leichtfertigen Gallier erklären. Aber in dem Lande, wo Madame Guyon ihr System ascetischer Liebe und christlicher Vollkommenheit gründete, wo St. Martin die Gänge und Grotten seiner Philosophie in den Tiefen religiöser Mystik baute, in dem Lande, dem Pascal und Arnaud Bernard von Clairvaux und Fenelon angehören, kann die Dichtkunst Lamartine's wohl als eine eigenthümliche Form schon vorhandener Richtungen, nicht als eine bloß aus fremden Einflüssen entwickelte Neuerung gelten. Beranger ist ohne Zweifel ein ächt französischer Geist; er hat das Leben und den Sinn seiner Mitbürger in mancherlei Beziehungen und Anklängen eben so treu als lebendig dargestellt, und wurde von exotischen Einwirkungen nicht im mindesten berührt, allein seine Lieder sind doch im Ganzen nur ein gefälliges Werkzeug im Dienst der Zustände und Regungen, die sich als das ausschließliche Besitzthum seiner Nation betrachten lassen, und er konnte schon darum, weil die Stimmen anderer Völker in ihm kein empfängliches Echo fanden, von den höhern Interessen, die der Franzose mit der ganzen Menschheit gemein hat, nur eine beiläufige und oberflächliche Notiz nehmen. Ueber den Raufereien der Politik und den Fanfaren kriegerischer Erinnerungen, über dem Liebesfrühling der Grisetten und der Champagnerrührung herzlicher Freunde gibt es in Frankreich, so gut wie anderwärts, noch etwas, von dem Beranger wenig fühlte und wenig sagte. Wohl begegnet es ihm zuweilen, namentlich in seinen letzten Hervorbringungen, von Gott und Religion zu reden, allein Religion ist in seinen Augen - er sagt es selbst in den bestimmtesten Ausdrücken - nur ein sinnreiches Mittel, das große Männer zur Stiftung oder Förderung socialen Behagens angewandt, sein Gott ein so lieber und guter Herr, daß er keinen Anstand nehmen würde, über eine glänzende Ausführung des Cancan oder Chahut seinen väterlichen Segen zu sprechen. So zart, so liebreich, so mitfühlend oft auch sein Gemüth erscheint, zeigt er sich dennoch überall als vollkommener Sinnenmensch; die Unsterblichkeit der Seele benützt er, wie eine Sage der Vorzeit, als Dichter; eine ernste Rücksicht widmet er den Dingen nach dem Tode nirgends; nicht die wunderbare Ordnung und prachtvolle Erhabenheit der Natur verherrlichen seine Lieder; nur für die wohlthuende Wärme der Spätherbstsonne hat der edle Epikuräer einige vollendet schöne Verse. Von häuslicher Größe und tadelloser Liebe, von der Anmuth sittlicher Strenge und der Würde, welche die Keuschheit gibt, findet sich in seinen Gesängen keine Spur, ja keine Ahnung, und selbst die Worte der Freundschaft hält er nicht von der Einmischung politischen oder religiösen Widerwillens frei. Die Regionen gerade aber, die der kecke Chansonnier auch in seinem kühnsten Fluge nicht erreichen konnte, hat sich Lamartine zur bleibenden Wohnung erkoren; aus der tiefsten Tiefe menschlicher Empfindungen sprach sein Genius mit der Welt, dem gefiederten Sänger ähnlich, der aus dem Dunkel der dichtesten Gebüsche seinen zitternden Wohllaut sendet; seine Poesie war ein rhapsodisch gebrochenes Epos der zartesten Anschauungen, ein tröstendes Echo der leisesten Schmerzen, eine Stimme der Ermahnung für die heiligsten Pflichten.

Das Andenken an die Verstorbenen, die mütterliche Liebe, die kindliche Achtung, jede Pietät fand an ihm einen Verfechter gegen die zerstörenden Kräfte einer umwühlenden, wandelsüchtigen Zeit, und wenn auch ihm selbst die Mauern der alten Lehre zu eng wurden, so blieb er dennoch, sogar in den jüngsten Tagen, wo doch alle Welt von seinem Abfall spricht, ein Schutzredner und Freund der Gläubigen und Frommen. Für die Schätze der Natur hat er ein seliges Auge, das nie sich schließt, um sie zu preisen eine begeisterte Zunge, die nie ermüdet. In seinen Schilderungen wohl ist er nicht selten so

A. v. Lamartine.

(Beschluß.) Das Anathem gegen das erwähnte Gedicht (Jocelyn) gründet sich nicht bloß auf Fehler der Oekonomie und Vernachlässigung der Form, die ohnehin nur hie und da hervortritt, und durch Schönheiten ersten Ranges hinlänglich aufgewogen wird, sondern auch auf die Auflehnung gegen das religiöse Herkommen, die man in der Anlage oder in Einzelnheiten desselben bemerken wollte. Am meisten Aergerniß mögen rechtgläubige Leser an der Episode finden, die das Buch der Urzeit (livre primitif) enthält. Hier wird der vorzüglichsten Dogmen des Christenthums prophetische Erwähnung gethan; was aber über die Kenntniß eines höchsten Wesens und die Idee von der Vervollkommnung des Menschen ins Unendliche fort hinausgeht, wie Annahme ewiger Strafen und das Herabkommen Gottes auf die Erde, wird ohne Umstände als Betrug erklärt. Hier muß aber beachtet werden, daß diese Episode nicht als der unmittelbar lyrische Erguß des Dichters betrachtet seyn, sondern nur die einfache Naturansicht unverdorbener, ungefallener Menschen, die aber eine dunkle Ahnung der Sünde und ihrer Folgen in sich tragen, wiedergeben will. Außerdem hat der pantheistische Gedanke, der in diesen Lehrsätzen mehr oder minder verborgen waltet, eine Menge Gemüther unserer Zeit ergriffen, und Allem, was mächtig auf seine Epoche wirkt, muß der Dichter unwillkürlich den Zauber seiner Stimme leihen. Der Liebende ersucht ihn sein Idol, die Kinder bitten ihn, das Fest des elterlichen Hauses, die Bürger ihn, des Volkes Feier zu verherrlichen; so auch gehen die Ideen ihn mit dringendem, wenn auch körperlosem Worte um einige Töne seiner Leyer an, und wenn er standhaft sie versagt, bewegen sie das Saitenspiel mit eignem Hauch. Abfall und leichtsinniges Vergessen früherer Grundsätze kann unserm Dichter durchaus nicht zur Last gelegt werden; Theologie im strengeren Sinn des Worts war nie die Führerin seines Genius; mit jenen Preisgesängen des Mittelalters, wo der lebendigste Drang des Gefühls in die enge Umhegung heiliger Formeln, wie der volle Gebrauch wahrer Freiheit in die Schranken der Gesetze, sich einschließt, haben Lamartine's glühendste Hymnen nichts gemein; wenn er in den Tempel ging, war es mehr um zu träumen, als um zu beten. Die Gebräuche der Kirche sind nicht Gegenstand seiner Lieder, sondern nur der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. Das sanfte Feuer der ewigen Lampe im Schooße des Heiligthums wird ihm zum Sinnbild seiner Seele und ihrer Sehnsucht, das klagende Geläute der stillen Woche zum Echo seiner eignen Stimmung, und die düstern Kerzen am heiligen Grabe zum Abglanz seiner Trauer.

Ein anderer Vorwurf, der gegen die Poesie der Meditationen und Harmonien hie und da, namentlich im Ausland ertönt, sie wurzle nicht in dem ursprünglichen Volksgeist der Franzosen, gründet sich, unseres Bedünkens, auf ungenaue Annahmen. Die Meinung freilich, die dem Franzosen nur die Tugenden eines Haarkünstlers, Tanzmeisters und Grenadiers, wenn es hoch kömmt, zugesteht, und in den Reimen Bérangers den Gipfelpunkt wie Inbegriff französischen Denkens und Fühlens erblickt, die Meinung freilich muß Hr. v. Lamartine eher für einen Hindu oder Beduinen, als für einen leichtfertigen Gallier erklären. Aber in dem Lande, wo Madame Guyon ihr System ascetischer Liebe und christlicher Vollkommenheit gründete, wo St. Martin die Gänge und Grotten seiner Philosophie in den Tiefen religiöser Mystik baute, in dem Lande, dem Pascal und Arnaud Bernard von Clairvaux und Fenelon angehören, kann die Dichtkunst Lamartine's wohl als eine eigenthümliche Form schon vorhandener Richtungen, nicht als eine bloß aus fremden Einflüssen entwickelte Neuerung gelten. Béranger ist ohne Zweifel ein ächt französischer Geist; er hat das Leben und den Sinn seiner Mitbürger in mancherlei Beziehungen und Anklängen eben so treu als lebendig dargestellt, und wurde von exotischen Einwirkungen nicht im mindesten berührt, allein seine Lieder sind doch im Ganzen nur ein gefälliges Werkzeug im Dienst der Zustände und Regungen, die sich als das ausschließliche Besitzthum seiner Nation betrachten lassen, und er konnte schon darum, weil die Stimmen anderer Völker in ihm kein empfängliches Echo fanden, von den höhern Interessen, die der Franzose mit der ganzen Menschheit gemein hat, nur eine beiläufige und oberflächliche Notiz nehmen. Ueber den Raufereien der Politik und den Fanfaren kriegerischer Erinnerungen, über dem Liebesfrühling der Grisetten und der Champagnerrührung herzlicher Freunde gibt es in Frankreich, so gut wie anderwärts, noch etwas, von dem Béranger wenig fühlte und wenig sagte. Wohl begegnet es ihm zuweilen, namentlich in seinen letzten Hervorbringungen, von Gott und Religion zu reden, allein Religion ist in seinen Augen – er sagt es selbst in den bestimmtesten Ausdrücken – nur ein sinnreiches Mittel, das große Männer zur Stiftung oder Förderung socialen Behagens angewandt, sein Gott ein so lieber und guter Herr, daß er keinen Anstand nehmen würde, über eine glänzende Ausführung des Cancan oder Chahut seinen väterlichen Segen zu sprechen. So zart, so liebreich, so mitfühlend oft auch sein Gemüth erscheint, zeigt er sich dennoch überall als vollkommener Sinnenmensch; die Unsterblichkeit der Seele benützt er, wie eine Sage der Vorzeit, als Dichter; eine ernste Rücksicht widmet er den Dingen nach dem Tode nirgends; nicht die wunderbare Ordnung und prachtvolle Erhabenheit der Natur verherrlichen seine Lieder; nur für die wohlthuende Wärme der Spätherbstsonne hat der edle Epikuräer einige vollendet schöne Verse. Von häuslicher Größe und tadelloser Liebe, von der Anmuth sittlicher Strenge und der Würde, welche die Keuschheit gibt, findet sich in seinen Gesängen keine Spur, ja keine Ahnung, und selbst die Worte der Freundschaft hält er nicht von der Einmischung politischen oder religiösen Widerwillens frei. Die Regionen gerade aber, die der kecke Chansonnier auch in seinem kühnsten Fluge nicht erreichen konnte, hat sich Lamartine zur bleibenden Wohnung erkoren; aus der tiefsten Tiefe menschlicher Empfindungen sprach sein Genius mit der Welt, dem gefiederten Sänger ähnlich, der aus dem Dunkel der dichtesten Gebüsche seinen zitternden Wohllaut sendet; seine Poesie war ein rhapsodisch gebrochenes Epos der zartesten Anschauungen, ein tröstendes Echo der leisesten Schmerzen, eine Stimme der Ermahnung für die heiligsten Pflichten.

Das Andenken an die Verstorbenen, die mütterliche Liebe, die kindliche Achtung, jede Pietät fand an ihm einen Verfechter gegen die zerstörenden Kräfte einer umwühlenden, wandelsüchtigen Zeit, und wenn auch ihm selbst die Mauern der alten Lehre zu eng wurden, so blieb er dennoch, sogar in den jüngsten Tagen, wo doch alle Welt von seinem Abfall spricht, ein Schutzredner und Freund der Gläubigen und Frommen. Für die Schätze der Natur hat er ein seliges Auge, das nie sich schließt, um sie zu preisen eine begeisterte Zunge, die nie ermüdet. In seinen Schilderungen wohl ist er nicht selten so

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[0721/0009] A. v. Lamartine. _ Paris. (Beschluß.) Das Anathem gegen das erwähnte Gedicht (Jocelyn) gründet sich nicht bloß auf Fehler der Oekonomie und Vernachlässigung der Form, die ohnehin nur hie und da hervortritt, und durch Schönheiten ersten Ranges hinlänglich aufgewogen wird, sondern auch auf die Auflehnung gegen das religiöse Herkommen, die man in der Anlage oder in Einzelnheiten desselben bemerken wollte. Am meisten Aergerniß mögen rechtgläubige Leser an der Episode finden, die das Buch der Urzeit (livre primitif) enthält. Hier wird der vorzüglichsten Dogmen des Christenthums prophetische Erwähnung gethan; was aber über die Kenntniß eines höchsten Wesens und die Idee von der Vervollkommnung des Menschen ins Unendliche fort hinausgeht, wie Annahme ewiger Strafen und das Herabkommen Gottes auf die Erde, wird ohne Umstände als Betrug erklärt. Hier muß aber beachtet werden, daß diese Episode nicht als der unmittelbar lyrische Erguß des Dichters betrachtet seyn, sondern nur die einfache Naturansicht unverdorbener, ungefallener Menschen, die aber eine dunkle Ahnung der Sünde und ihrer Folgen in sich tragen, wiedergeben will. Außerdem hat der pantheistische Gedanke, der in diesen Lehrsätzen mehr oder minder verborgen waltet, eine Menge Gemüther unserer Zeit ergriffen, und Allem, was mächtig auf seine Epoche wirkt, muß der Dichter unwillkürlich den Zauber seiner Stimme leihen. Der Liebende ersucht ihn sein Idol, die Kinder bitten ihn, das Fest des elterlichen Hauses, die Bürger ihn, des Volkes Feier zu verherrlichen; so auch gehen die Ideen ihn mit dringendem, wenn auch körperlosem Worte um einige Töne seiner Leyer an, und wenn er standhaft sie versagt, bewegen sie das Saitenspiel mit eignem Hauch. Abfall und leichtsinniges Vergessen früherer Grundsätze kann unserm Dichter durchaus nicht zur Last gelegt werden; Theologie im strengeren Sinn des Worts war nie die Führerin seines Genius; mit jenen Preisgesängen des Mittelalters, wo der lebendigste Drang des Gefühls in die enge Umhegung heiliger Formeln, wie der volle Gebrauch wahrer Freiheit in die Schranken der Gesetze, sich einschließt, haben Lamartine's glühendste Hymnen nichts gemein; wenn er in den Tempel ging, war es mehr um zu träumen, als um zu beten. Die Gebräuche der Kirche sind nicht Gegenstand seiner Lieder, sondern nur der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. Das sanfte Feuer der ewigen Lampe im Schooße des Heiligthums wird ihm zum Sinnbild seiner Seele und ihrer Sehnsucht, das klagende Geläute der stillen Woche zum Echo seiner eignen Stimmung, und die düstern Kerzen am heiligen Grabe zum Abglanz seiner Trauer. Ein anderer Vorwurf, der gegen die Poesie der Meditationen und Harmonien hie und da, namentlich im Ausland ertönt, sie wurzle nicht in dem ursprünglichen Volksgeist der Franzosen, gründet sich, unseres Bedünkens, auf ungenaue Annahmen. Die Meinung freilich, die dem Franzosen nur die Tugenden eines Haarkünstlers, Tanzmeisters und Grenadiers, wenn es hoch kömmt, zugesteht, und in den Reimen Bérangers den Gipfelpunkt wie Inbegriff französischen Denkens und Fühlens erblickt, die Meinung freilich muß Hr. v. Lamartine eher für einen Hindu oder Beduinen, als für einen leichtfertigen Gallier erklären. Aber in dem Lande, wo Madame Guyon ihr System ascetischer Liebe und christlicher Vollkommenheit gründete, wo St. Martin die Gänge und Grotten seiner Philosophie in den Tiefen religiöser Mystik baute, in dem Lande, dem Pascal und Arnaud Bernard von Clairvaux und Fenelon angehören, kann die Dichtkunst Lamartine's wohl als eine eigenthümliche Form schon vorhandener Richtungen, nicht als eine bloß aus fremden Einflüssen entwickelte Neuerung gelten. Béranger ist ohne Zweifel ein ächt französischer Geist; er hat das Leben und den Sinn seiner Mitbürger in mancherlei Beziehungen und Anklängen eben so treu als lebendig dargestellt, und wurde von exotischen Einwirkungen nicht im mindesten berührt, allein seine Lieder sind doch im Ganzen nur ein gefälliges Werkzeug im Dienst der Zustände und Regungen, die sich als das ausschließliche Besitzthum seiner Nation betrachten lassen, und er konnte schon darum, weil die Stimmen anderer Völker in ihm kein empfängliches Echo fanden, von den höhern Interessen, die der Franzose mit der ganzen Menschheit gemein hat, nur eine beiläufige und oberflächliche Notiz nehmen. Ueber den Raufereien der Politik und den Fanfaren kriegerischer Erinnerungen, über dem Liebesfrühling der Grisetten und der Champagnerrührung herzlicher Freunde gibt es in Frankreich, so gut wie anderwärts, noch etwas, von dem Béranger wenig fühlte und wenig sagte. Wohl begegnet es ihm zuweilen, namentlich in seinen letzten Hervorbringungen, von Gott und Religion zu reden, allein Religion ist in seinen Augen – er sagt es selbst in den bestimmtesten Ausdrücken – nur ein sinnreiches Mittel, das große Männer zur Stiftung oder Förderung socialen Behagens angewandt, sein Gott ein so lieber und guter Herr, daß er keinen Anstand nehmen würde, über eine glänzende Ausführung des Cancan oder Chahut seinen väterlichen Segen zu sprechen. So zart, so liebreich, so mitfühlend oft auch sein Gemüth erscheint, zeigt er sich dennoch überall als vollkommener Sinnenmensch; die Unsterblichkeit der Seele benützt er, wie eine Sage der Vorzeit, als Dichter; eine ernste Rücksicht widmet er den Dingen nach dem Tode nirgends; nicht die wunderbare Ordnung und prachtvolle Erhabenheit der Natur verherrlichen seine Lieder; nur für die wohlthuende Wärme der Spätherbstsonne hat der edle Epikuräer einige vollendet schöne Verse. Von häuslicher Größe und tadelloser Liebe, von der Anmuth sittlicher Strenge und der Würde, welche die Keuschheit gibt, findet sich in seinen Gesängen keine Spur, ja keine Ahnung, und selbst die Worte der Freundschaft hält er nicht von der Einmischung politischen oder religiösen Widerwillens frei. Die Regionen gerade aber, die der kecke Chansonnier auch in seinem kühnsten Fluge nicht erreichen konnte, hat sich Lamartine zur bleibenden Wohnung erkoren; aus der tiefsten Tiefe menschlicher Empfindungen sprach sein Genius mit der Welt, dem gefiederten Sänger ähnlich, der aus dem Dunkel der dichtesten Gebüsche seinen zitternden Wohllaut sendet; seine Poesie war ein rhapsodisch gebrochenes Epos der zartesten Anschauungen, ein tröstendes Echo der leisesten Schmerzen, eine Stimme der Ermahnung für die heiligsten Pflichten. Das Andenken an die Verstorbenen, die mütterliche Liebe, die kindliche Achtung, jede Pietät fand an ihm einen Verfechter gegen die zerstörenden Kräfte einer umwühlenden, wandelsüchtigen Zeit, und wenn auch ihm selbst die Mauern der alten Lehre zu eng wurden, so blieb er dennoch, sogar in den jüngsten Tagen, wo doch alle Welt von seinem Abfall spricht, ein Schutzredner und Freund der Gläubigen und Frommen. Für die Schätze der Natur hat er ein seliges Auge, das nie sich schließt, um sie zu preisen eine begeisterte Zunge, die nie ermüdet. In seinen Schilderungen wohl ist er nicht selten so

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 91. Augsburg, 31. März 1840, S. 0721. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_091_18400331/9>, abgerufen am 02.05.2024.