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Allgemeine Zeitung. Nr. 87. Augsburg, 27. März 1840.

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noch in den letzten Augenblicken vor der Abstimmung sich eine höchst günstige Gelegenheit darbot - abgeneigt gezeigt, als daß nicht, so wie das Votum gefallen, sie selbst und mit ihnen Jedermann es für unmöglich gehalten hätte, daß sie noch ferner am Ruder bleiben könnten. Nichts schien natürlicher, als daß die Majorität, die sie gestürzt, aus ihrer Mitte dem Könige die Männer, die ihres Vertrauens sich am meisten erfreuten, bezeichnete, um aus ihnen das neue Cabinet zu bilden. In der ersten Freude eines so überraschenden und unerwarteten Gelingens schien die Bildung eines Ministeriums für die Opposition die leichteste Sache von der Welt. Unter den Elementen, deren Coalition das Votum herbeigeführt, stehen die Doctrinärs, durch Erfahrung, Wissen und politische Intelligenz an der Spitze; ihr Haupt, Hr. Devaux, hatte durch seine beredte Philippika gegen die unpatriotischen Minister eine Menge unentschiedener Deputirten zu seiner Meinung herübergezogen; die Ehre des Tages gehörte ihm; weder die äußerste Linke der Katholiken, Dumortier und seine Freunde, noch das Centrum der Liberalen, um Heinrich de Brouckere geschaart, machte sie ihm streitig. Als es sich davon handelte, die Folgen des Votums zu realisiren, stellten sich die Doctrinäre von selbst als die Leute der Situation dar. Da der immer kränkelnde Devaux der Last der Geschäfte wenig gewachsen ist, und die Praxis seinen Ruf als theoretischen Staatsmann vielleicht gefährden könnte, so wandte sich die Aufmerksamkeit natürlich dem zweiten Haupte der doctrinären Hierarchie zu. Die Journale und die der Opposition nicht ohne beginnenden Triumpfruf, zeigten am Dienstag an, daß Hr. Lebeau von Sr. Maj. empfangen worden sey. Dabei ist es bis jetzt geblieben. Als man nach den Garantien, welche die Doctrinäre für die Grundbedingung einer jeden neuen Verwaltung - daß sie eine Majorität in der Kammer haben müsse, fragte, begannen die Schwierigkeiten, die, sind wir recht unterrichtet, bis jetzt noch nicht gehoben sind. Die Doctrinäre bilden die numerisch geringste Fraction der Kammer; sie können sich nur dann der Leitung der Geschäfte bemächtigen, wenn sie sich mit der katholischen Meinung oder mit den Liberalen verbinden. Im ersteren Falle würden sie über eine bedeutende Stimmenmehrheit gebieten, im zweiten bedürften sie noch der Unterstützung eines Theils der Katholiken, um auf die Dauer der Kammer gewiß zu seyn. Damit eine oder die andere Combination möglich werde, muß man sich verständigen, sich gegenseitige Zugeständnisse machen, über ein Programm übereinkommen, darin aber besteht gerade die Schwierigkeit, denn Niemand ist zum Aufgeben einer oder der andern seiner wesentlichen Ansichten und Tendenzen bereit, und die Doctrinäre selbst am wenigsten. Eine Art pedantischer Strenge und Unbeugsamkeit ist ihnen in Belgien wie in Frankreich eigen. Man könnte einwerfen, daß sie früher schon und zwar mehrere Jahre hindurch fast ohne Unterbrechung und unter den schwierigsten Umständen im Ministerium gewesen, sich also doch mit den andern Meinungen verständigt hätten. Das ist allerdings wahr, aber die Umstände sind seitdem durchaus anders geworden. Damals vertheidigten die Doctrinäre die Sache der Ordnung gegen die Anarchie, das System des Unterhandelns und der friedlichen Lösung unserer Frage gegen die Uebertreibungen und die kriegerischen Gelüste der Partei der Bewegung, deßhalb unterstützte sie die unendliche Mehrheit der Kammer und der Nation, alle Gemäßigten, alle die Ruhe und Ordnung und die Anerkennung Belgiens durch Negociation und nicht durch Drohung und Gewalt wollten. Jetzt sind alle die Zwecke, welche die Doctrinäre sich damals vorsetzten, erreicht; das Land ist constituirt, Ruhe und Ordnung herrscht überall, die materiellen Interessen sind, was Einzelne auch sagen mögen, blühend; die Doctrinäre haben keine Fahne mehr aufzustecken, um die sich alle Gutgesinnten versammeln könnten. Doch nein, ich irre mich, noch ist ein großes nationales Interesse vorhanden, das die Doctrinäre als Banner erheben können und erheben müßten, wenn sie auf Unterstützung und Sympathie der Bessergesinnten und Gemäßigten rechnen wollten. Es ist die Befestigung, die innere Consolidation der Gewalt, des legitimen, ordnenden, erhaltenden Einflusses der Verwaltung, die moralische Kraft der Regierung, abgesehen von den Namen, die an der Spitze der Ministerien stehen, um die es sich handelt. Aber daß es den Doctrinärs darum nicht zu thun ist, dieß hat ihre Theilnahme an dem letzten Votum bewiesen, wo Gouverneure, Gesandte, höhere Regierungsbeamte, die zu den Koryphäen dieser Partei gehören, für ihre Leiter gelten wollen und mit Recht gelten, gegen ihre Chefs stimmten, und zum Sturz derselben Minister aus allen Kräften mitwirkten, von denen sie ernannt oder in ihren hohen Stellungen erhalten worden waren. Niemand konnte sie zwingen, derselben Meinung zu seyn, wie die Minister, aber die Männer, die beständig von der Pflicht der Unterwerfung unter die rechtmäßige Behörde und von der Nothwendigkeit der Stärke und Energie der Regierung sprechen, mußten dann jedenfalls begreifen, daß, sobald sie als Deputirte nicht mehr die Ansichten der Regierung theilen, sie es sich selbst und der Consequenz ihrer Ansichten schuldig sind, als Beamte nicht mehr unter dieser Regierung zu stehen. Ihr Verfahren hat ihnen den größten Nachtheil in der öffentlichen Meinung gebracht, sie selbst haben sich das Regieren, sollten sie dazu gelangen, unendlich erschwert, und ein bedeutender Theil der Mitglieder der Kammer zeigt sich wenig geneigt, ihren Beistand ihnen zuzusichern. Daher kommt es, daß die Chancen eines doctrinären Ministeriums sich seit einigen Tagen sehr vermindert haben; möglich ist dasselbe allerdings noch, aber nicht mehr in demselben Grade, wie eine andere Combination, nach der ein Theil des frühern Cabinets am Ruder bliebe, und sich mit einigen neuen Namen ergänzte. Ich schreibe Ihnen darüber, sobald die Sache mehr Consistenz als in diesem Augenblick hat. Das Eine ist jetzt schon gewiß, daß, kommen die Doctrinäre ins Ministerium, zehn gegen eins zu wetten ist, daß sie sich darin nicht mehr auch nur die Hälfte der Zeit wie früher behaupten können.

Niederlande.

Die financiellen Vorschläge sowohl, als die über die Veränderung des Grundgesetzes, sind an die Kammer gebracht worden, und ich bemerke Ihnen darüber bloß, daß die erstern im Allgemeinen den Erwartungen entsprechen, aber nicht die zweiten. Die Budgetssumme ist zwar etwas höher als früher angesetzt, dagegen sind für das Amortisationssyndicat volle vier Millionen ausgeworfen. Die Gesammtersparnisse an den einzelnen Posten betragen 2,376,385 fl., wovon auf das Kriegsministerium allein 2,191,500 fl. kommen; die übrigen Posten sind sonach unbedeutend. Unter den Veränderungen des Grundgesetzes ist namentlich der famose Artikel 60 bemerkenswerth. Seine frühere Fassung war: "der König hat die oberste Leitung der Colonien und der Besitzungen in andern Welttheilen ausschließlich"; daraus leitete man bekanntlich ab, daß der König das Recht habe, über die Colonialfinanzen nach Gefallen zu verfügen. Dieser Artikel lautet jetzt: "Den Generalstaaten werden beim Anfang jeder gewöhnlichen Sitzung die zuletzt eingetroffenen Rechnungen (staten) über Einnahmen und Ausgaben der gemeldeten Colonien und Besitzungen mitgetheilt. Die Verwendung des Ueberschusses (batig slot) der für die Bedürfnisse des Mutterlandes

noch in den letzten Augenblicken vor der Abstimmung sich eine höchst günstige Gelegenheit darbot – abgeneigt gezeigt, als daß nicht, so wie das Votum gefallen, sie selbst und mit ihnen Jedermann es für unmöglich gehalten hätte, daß sie noch ferner am Ruder bleiben könnten. Nichts schien natürlicher, als daß die Majorität, die sie gestürzt, aus ihrer Mitte dem Könige die Männer, die ihres Vertrauens sich am meisten erfreuten, bezeichnete, um aus ihnen das neue Cabinet zu bilden. In der ersten Freude eines so überraschenden und unerwarteten Gelingens schien die Bildung eines Ministeriums für die Opposition die leichteste Sache von der Welt. Unter den Elementen, deren Coalition das Votum herbeigeführt, stehen die Doctrinärs, durch Erfahrung, Wissen und politische Intelligenz an der Spitze; ihr Haupt, Hr. Devaux, hatte durch seine beredte Philippika gegen die unpatriotischen Minister eine Menge unentschiedener Deputirten zu seiner Meinung herübergezogen; die Ehre des Tages gehörte ihm; weder die äußerste Linke der Katholiken, Dumortier und seine Freunde, noch das Centrum der Liberalen, um Heinrich de Brouckère geschaart, machte sie ihm streitig. Als es sich davon handelte, die Folgen des Votums zu realisiren, stellten sich die Doctrinäre von selbst als die Leute der Situation dar. Da der immer kränkelnde Devaux der Last der Geschäfte wenig gewachsen ist, und die Praxis seinen Ruf als theoretischen Staatsmann vielleicht gefährden könnte, so wandte sich die Aufmerksamkeit natürlich dem zweiten Haupte der doctrinären Hierarchie zu. Die Journale und die der Opposition nicht ohne beginnenden Triumpfruf, zeigten am Dienstag an, daß Hr. Lebeau von Sr. Maj. empfangen worden sey. Dabei ist es bis jetzt geblieben. Als man nach den Garantien, welche die Doctrinäre für die Grundbedingung einer jeden neuen Verwaltung – daß sie eine Majorität in der Kammer haben müsse, fragte, begannen die Schwierigkeiten, die, sind wir recht unterrichtet, bis jetzt noch nicht gehoben sind. Die Doctrinäre bilden die numerisch geringste Fraction der Kammer; sie können sich nur dann der Leitung der Geschäfte bemächtigen, wenn sie sich mit der katholischen Meinung oder mit den Liberalen verbinden. Im ersteren Falle würden sie über eine bedeutende Stimmenmehrheit gebieten, im zweiten bedürften sie noch der Unterstützung eines Theils der Katholiken, um auf die Dauer der Kammer gewiß zu seyn. Damit eine oder die andere Combination möglich werde, muß man sich verständigen, sich gegenseitige Zugeständnisse machen, über ein Programm übereinkommen, darin aber besteht gerade die Schwierigkeit, denn Niemand ist zum Aufgeben einer oder der andern seiner wesentlichen Ansichten und Tendenzen bereit, und die Doctrinäre selbst am wenigsten. Eine Art pedantischer Strenge und Unbeugsamkeit ist ihnen in Belgien wie in Frankreich eigen. Man könnte einwerfen, daß sie früher schon und zwar mehrere Jahre hindurch fast ohne Unterbrechung und unter den schwierigsten Umständen im Ministerium gewesen, sich also doch mit den andern Meinungen verständigt hätten. Das ist allerdings wahr, aber die Umstände sind seitdem durchaus anders geworden. Damals vertheidigten die Doctrinäre die Sache der Ordnung gegen die Anarchie, das System des Unterhandelns und der friedlichen Lösung unserer Frage gegen die Uebertreibungen und die kriegerischen Gelüste der Partei der Bewegung, deßhalb unterstützte sie die unendliche Mehrheit der Kammer und der Nation, alle Gemäßigten, alle die Ruhe und Ordnung und die Anerkennung Belgiens durch Negociation und nicht durch Drohung und Gewalt wollten. Jetzt sind alle die Zwecke, welche die Doctrinäre sich damals vorsetzten, erreicht; das Land ist constituirt, Ruhe und Ordnung herrscht überall, die materiellen Interessen sind, was Einzelne auch sagen mögen, blühend; die Doctrinäre haben keine Fahne mehr aufzustecken, um die sich alle Gutgesinnten versammeln könnten. Doch nein, ich irre mich, noch ist ein großes nationales Interesse vorhanden, das die Doctrinäre als Banner erheben können und erheben müßten, wenn sie auf Unterstützung und Sympathie der Bessergesinnten und Gemäßigten rechnen wollten. Es ist die Befestigung, die innere Consolidation der Gewalt, des legitimen, ordnenden, erhaltenden Einflusses der Verwaltung, die moralische Kraft der Regierung, abgesehen von den Namen, die an der Spitze der Ministerien stehen, um die es sich handelt. Aber daß es den Doctrinärs darum nicht zu thun ist, dieß hat ihre Theilnahme an dem letzten Votum bewiesen, wo Gouverneure, Gesandte, höhere Regierungsbeamte, die zu den Koryphäen dieser Partei gehören, für ihre Leiter gelten wollen und mit Recht gelten, gegen ihre Chefs stimmten, und zum Sturz derselben Minister aus allen Kräften mitwirkten, von denen sie ernannt oder in ihren hohen Stellungen erhalten worden waren. Niemand konnte sie zwingen, derselben Meinung zu seyn, wie die Minister, aber die Männer, die beständig von der Pflicht der Unterwerfung unter die rechtmäßige Behörde und von der Nothwendigkeit der Stärke und Energie der Regierung sprechen, mußten dann jedenfalls begreifen, daß, sobald sie als Deputirte nicht mehr die Ansichten der Regierung theilen, sie es sich selbst und der Consequenz ihrer Ansichten schuldig sind, als Beamte nicht mehr unter dieser Regierung zu stehen. Ihr Verfahren hat ihnen den größten Nachtheil in der öffentlichen Meinung gebracht, sie selbst haben sich das Regieren, sollten sie dazu gelangen, unendlich erschwert, und ein bedeutender Theil der Mitglieder der Kammer zeigt sich wenig geneigt, ihren Beistand ihnen zuzusichern. Daher kommt es, daß die Chancen eines doctrinären Ministeriums sich seit einigen Tagen sehr vermindert haben; möglich ist dasselbe allerdings noch, aber nicht mehr in demselben Grade, wie eine andere Combination, nach der ein Theil des frühern Cabinets am Ruder bliebe, und sich mit einigen neuen Namen ergänzte. Ich schreibe Ihnen darüber, sobald die Sache mehr Consistenz als in diesem Augenblick hat. Das Eine ist jetzt schon gewiß, daß, kommen die Doctrinäre ins Ministerium, zehn gegen eins zu wetten ist, daß sie sich darin nicht mehr auch nur die Hälfte der Zeit wie früher behaupten können.

Niederlande.

Die financiellen Vorschläge sowohl, als die über die Veränderung des Grundgesetzes, sind an die Kammer gebracht worden, und ich bemerke Ihnen darüber bloß, daß die erstern im Allgemeinen den Erwartungen entsprechen, aber nicht die zweiten. Die Budgetssumme ist zwar etwas höher als früher angesetzt, dagegen sind für das Amortisationssyndicat volle vier Millionen ausgeworfen. Die Gesammtersparnisse an den einzelnen Posten betragen 2,376,385 fl., wovon auf das Kriegsministerium allein 2,191,500 fl. kommen; die übrigen Posten sind sonach unbedeutend. Unter den Veränderungen des Grundgesetzes ist namentlich der famose Artikel 60 bemerkenswerth. Seine frühere Fassung war: „der König hat die oberste Leitung der Colonien und der Besitzungen in andern Welttheilen ausschließlich“; daraus leitete man bekanntlich ab, daß der König das Recht habe, über die Colonialfinanzen nach Gefallen zu verfügen. Dieser Artikel lautet jetzt: „Den Generalstaaten werden beim Anfang jeder gewöhnlichen Sitzung die zuletzt eingetroffenen Rechnungen (staten) über Einnahmen und Ausgaben der gemeldeten Colonien und Besitzungen mitgetheilt. Die Verwendung des Ueberschusses (batig slot) der für die Bedürfnisse des Mutterlandes

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noch in den letzten Augenblicken vor der Abstimmung sich eine höchst günstige Gelegenheit darbot &#x2013; abgeneigt gezeigt, als daß nicht, so wie das Votum gefallen, sie selbst und mit ihnen Jedermann es für unmöglich gehalten hätte, daß sie noch ferner am Ruder bleiben könnten. Nichts schien natürlicher, als daß die Majorität, die sie gestürzt, aus ihrer Mitte dem Könige die Männer, die ihres Vertrauens sich am meisten erfreuten, bezeichnete, um aus ihnen das neue Cabinet zu bilden. In der ersten Freude eines so überraschenden und unerwarteten Gelingens schien die Bildung eines Ministeriums für die Opposition die leichteste Sache von der Welt. Unter den Elementen, deren Coalition das Votum herbeigeführt, stehen die Doctrinärs, durch Erfahrung, Wissen und politische Intelligenz an der Spitze; ihr Haupt, Hr. Devaux, hatte durch seine beredte Philippika gegen die unpatriotischen Minister eine Menge unentschiedener Deputirten zu seiner Meinung herübergezogen; die Ehre des Tages gehörte ihm; weder die äußerste Linke der Katholiken, Dumortier und seine Freunde, noch das Centrum der Liberalen, um Heinrich de Brouckère geschaart, machte sie ihm streitig. Als es sich davon handelte, die Folgen des Votums zu realisiren, stellten sich die Doctrinäre von selbst als die Leute der Situation dar. Da der immer kränkelnde Devaux der Last der Geschäfte wenig gewachsen ist, und die Praxis seinen Ruf als theoretischen Staatsmann vielleicht gefährden könnte, so wandte sich die Aufmerksamkeit natürlich dem zweiten Haupte der doctrinären Hierarchie zu. Die Journale und die der Opposition nicht ohne beginnenden Triumpfruf, zeigten am Dienstag an, daß Hr. Lebeau von Sr. Maj. empfangen worden sey. Dabei ist es bis jetzt geblieben. Als man nach den Garantien, welche die Doctrinäre für die Grundbedingung einer jeden neuen Verwaltung &#x2013; daß sie eine Majorität in der Kammer haben müsse, fragte, begannen die Schwierigkeiten, die, sind wir recht unterrichtet, bis jetzt noch nicht gehoben sind. Die Doctrinäre bilden die numerisch geringste Fraction der Kammer; sie können sich nur dann der Leitung der Geschäfte bemächtigen, wenn sie sich mit der katholischen Meinung oder mit den Liberalen verbinden. Im ersteren Falle würden sie über eine bedeutende Stimmenmehrheit gebieten, im zweiten bedürften sie noch der Unterstützung eines Theils der Katholiken, um auf die Dauer der Kammer gewiß zu seyn. Damit eine oder die andere Combination möglich werde, muß man sich verständigen, sich gegenseitige Zugeständnisse machen, über ein Programm übereinkommen, darin aber besteht gerade die Schwierigkeit, denn Niemand ist zum Aufgeben einer oder der andern seiner wesentlichen Ansichten und Tendenzen bereit, und die Doctrinäre selbst am wenigsten. Eine Art pedantischer Strenge und Unbeugsamkeit ist ihnen in Belgien wie in Frankreich eigen. Man könnte einwerfen, daß sie früher schon und zwar mehrere Jahre hindurch fast ohne Unterbrechung und unter den schwierigsten Umständen im Ministerium gewesen, sich also doch mit den andern Meinungen verständigt hätten. Das ist allerdings wahr, aber die Umstände sind seitdem durchaus anders geworden. Damals vertheidigten die Doctrinäre die Sache der Ordnung gegen die Anarchie, das System des Unterhandelns und der friedlichen Lösung unserer Frage gegen die Uebertreibungen und die kriegerischen Gelüste der Partei der Bewegung, deßhalb unterstützte sie die unendliche Mehrheit der Kammer und der Nation, alle Gemäßigten, alle die Ruhe und Ordnung und die Anerkennung Belgiens durch Negociation und nicht durch Drohung und Gewalt wollten. Jetzt sind alle die Zwecke, welche die Doctrinäre sich damals vorsetzten, erreicht; das Land ist constituirt, Ruhe und Ordnung herrscht überall, die materiellen Interessen sind, was Einzelne auch sagen mögen, blühend; die Doctrinäre haben keine Fahne mehr aufzustecken, um die sich alle Gutgesinnten versammeln könnten. Doch nein, ich irre mich, noch ist ein großes nationales Interesse vorhanden, das die Doctrinäre als Banner erheben können und erheben müßten, wenn sie auf Unterstützung und Sympathie der Bessergesinnten und Gemäßigten rechnen wollten. Es ist die Befestigung, die innere Consolidation der Gewalt, des legitimen, ordnenden, erhaltenden Einflusses der Verwaltung, die moralische Kraft der Regierung, abgesehen von den Namen, die an der Spitze der Ministerien stehen, um die es sich handelt. Aber daß es den Doctrinärs darum nicht zu thun ist, dieß hat ihre Theilnahme an dem letzten Votum bewiesen, wo Gouverneure, Gesandte, höhere Regierungsbeamte, die zu den Koryphäen dieser Partei gehören, für ihre Leiter gelten wollen und mit Recht gelten, gegen ihre Chefs stimmten, und zum Sturz derselben Minister aus allen Kräften mitwirkten, von denen sie ernannt oder in ihren hohen Stellungen erhalten worden waren. Niemand konnte sie zwingen, derselben Meinung zu seyn, wie die Minister, aber die Männer, die beständig von der Pflicht der Unterwerfung unter die rechtmäßige Behörde und von der Nothwendigkeit der Stärke und Energie der Regierung sprechen, mußten dann jedenfalls begreifen, daß, sobald sie als Deputirte nicht mehr die Ansichten der Regierung theilen, sie es sich selbst und der Consequenz ihrer Ansichten schuldig sind, als Beamte nicht mehr unter dieser Regierung zu stehen. Ihr Verfahren hat ihnen den größten Nachtheil in der öffentlichen Meinung gebracht, sie selbst haben sich das Regieren, sollten sie dazu gelangen, unendlich erschwert, und ein bedeutender Theil der Mitglieder der Kammer zeigt sich wenig geneigt, ihren Beistand ihnen zuzusichern. Daher kommt es, daß die Chancen eines doctrinären Ministeriums sich seit einigen Tagen sehr vermindert haben; möglich ist dasselbe allerdings noch, aber nicht mehr in demselben Grade, wie eine andere Combination, nach der ein Theil des frühern Cabinets am Ruder bliebe, und sich mit einigen neuen Namen ergänzte. Ich schreibe Ihnen darüber, sobald die Sache mehr Consistenz als in diesem Augenblick hat. Das Eine ist jetzt schon gewiß, daß, kommen die Doctrinäre ins Ministerium, zehn gegen eins zu wetten ist, daß sie sich darin nicht mehr auch nur die Hälfte der Zeit wie früher behaupten können.</p><lb/>
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[0694/0006] noch in den letzten Augenblicken vor der Abstimmung sich eine höchst günstige Gelegenheit darbot – abgeneigt gezeigt, als daß nicht, so wie das Votum gefallen, sie selbst und mit ihnen Jedermann es für unmöglich gehalten hätte, daß sie noch ferner am Ruder bleiben könnten. Nichts schien natürlicher, als daß die Majorität, die sie gestürzt, aus ihrer Mitte dem Könige die Männer, die ihres Vertrauens sich am meisten erfreuten, bezeichnete, um aus ihnen das neue Cabinet zu bilden. In der ersten Freude eines so überraschenden und unerwarteten Gelingens schien die Bildung eines Ministeriums für die Opposition die leichteste Sache von der Welt. Unter den Elementen, deren Coalition das Votum herbeigeführt, stehen die Doctrinärs, durch Erfahrung, Wissen und politische Intelligenz an der Spitze; ihr Haupt, Hr. Devaux, hatte durch seine beredte Philippika gegen die unpatriotischen Minister eine Menge unentschiedener Deputirten zu seiner Meinung herübergezogen; die Ehre des Tages gehörte ihm; weder die äußerste Linke der Katholiken, Dumortier und seine Freunde, noch das Centrum der Liberalen, um Heinrich de Brouckère geschaart, machte sie ihm streitig. Als es sich davon handelte, die Folgen des Votums zu realisiren, stellten sich die Doctrinäre von selbst als die Leute der Situation dar. Da der immer kränkelnde Devaux der Last der Geschäfte wenig gewachsen ist, und die Praxis seinen Ruf als theoretischen Staatsmann vielleicht gefährden könnte, so wandte sich die Aufmerksamkeit natürlich dem zweiten Haupte der doctrinären Hierarchie zu. Die Journale und die der Opposition nicht ohne beginnenden Triumpfruf, zeigten am Dienstag an, daß Hr. Lebeau von Sr. Maj. empfangen worden sey. Dabei ist es bis jetzt geblieben. Als man nach den Garantien, welche die Doctrinäre für die Grundbedingung einer jeden neuen Verwaltung – daß sie eine Majorität in der Kammer haben müsse, fragte, begannen die Schwierigkeiten, die, sind wir recht unterrichtet, bis jetzt noch nicht gehoben sind. Die Doctrinäre bilden die numerisch geringste Fraction der Kammer; sie können sich nur dann der Leitung der Geschäfte bemächtigen, wenn sie sich mit der katholischen Meinung oder mit den Liberalen verbinden. Im ersteren Falle würden sie über eine bedeutende Stimmenmehrheit gebieten, im zweiten bedürften sie noch der Unterstützung eines Theils der Katholiken, um auf die Dauer der Kammer gewiß zu seyn. Damit eine oder die andere Combination möglich werde, muß man sich verständigen, sich gegenseitige Zugeständnisse machen, über ein Programm übereinkommen, darin aber besteht gerade die Schwierigkeit, denn Niemand ist zum Aufgeben einer oder der andern seiner wesentlichen Ansichten und Tendenzen bereit, und die Doctrinäre selbst am wenigsten. Eine Art pedantischer Strenge und Unbeugsamkeit ist ihnen in Belgien wie in Frankreich eigen. Man könnte einwerfen, daß sie früher schon und zwar mehrere Jahre hindurch fast ohne Unterbrechung und unter den schwierigsten Umständen im Ministerium gewesen, sich also doch mit den andern Meinungen verständigt hätten. Das ist allerdings wahr, aber die Umstände sind seitdem durchaus anders geworden. Damals vertheidigten die Doctrinäre die Sache der Ordnung gegen die Anarchie, das System des Unterhandelns und der friedlichen Lösung unserer Frage gegen die Uebertreibungen und die kriegerischen Gelüste der Partei der Bewegung, deßhalb unterstützte sie die unendliche Mehrheit der Kammer und der Nation, alle Gemäßigten, alle die Ruhe und Ordnung und die Anerkennung Belgiens durch Negociation und nicht durch Drohung und Gewalt wollten. Jetzt sind alle die Zwecke, welche die Doctrinäre sich damals vorsetzten, erreicht; das Land ist constituirt, Ruhe und Ordnung herrscht überall, die materiellen Interessen sind, was Einzelne auch sagen mögen, blühend; die Doctrinäre haben keine Fahne mehr aufzustecken, um die sich alle Gutgesinnten versammeln könnten. Doch nein, ich irre mich, noch ist ein großes nationales Interesse vorhanden, das die Doctrinäre als Banner erheben können und erheben müßten, wenn sie auf Unterstützung und Sympathie der Bessergesinnten und Gemäßigten rechnen wollten. Es ist die Befestigung, die innere Consolidation der Gewalt, des legitimen, ordnenden, erhaltenden Einflusses der Verwaltung, die moralische Kraft der Regierung, abgesehen von den Namen, die an der Spitze der Ministerien stehen, um die es sich handelt. Aber daß es den Doctrinärs darum nicht zu thun ist, dieß hat ihre Theilnahme an dem letzten Votum bewiesen, wo Gouverneure, Gesandte, höhere Regierungsbeamte, die zu den Koryphäen dieser Partei gehören, für ihre Leiter gelten wollen und mit Recht gelten, gegen ihre Chefs stimmten, und zum Sturz derselben Minister aus allen Kräften mitwirkten, von denen sie ernannt oder in ihren hohen Stellungen erhalten worden waren. Niemand konnte sie zwingen, derselben Meinung zu seyn, wie die Minister, aber die Männer, die beständig von der Pflicht der Unterwerfung unter die rechtmäßige Behörde und von der Nothwendigkeit der Stärke und Energie der Regierung sprechen, mußten dann jedenfalls begreifen, daß, sobald sie als Deputirte nicht mehr die Ansichten der Regierung theilen, sie es sich selbst und der Consequenz ihrer Ansichten schuldig sind, als Beamte nicht mehr unter dieser Regierung zu stehen. Ihr Verfahren hat ihnen den größten Nachtheil in der öffentlichen Meinung gebracht, sie selbst haben sich das Regieren, sollten sie dazu gelangen, unendlich erschwert, und ein bedeutender Theil der Mitglieder der Kammer zeigt sich wenig geneigt, ihren Beistand ihnen zuzusichern. Daher kommt es, daß die Chancen eines doctrinären Ministeriums sich seit einigen Tagen sehr vermindert haben; möglich ist dasselbe allerdings noch, aber nicht mehr in demselben Grade, wie eine andere Combination, nach der ein Theil des frühern Cabinets am Ruder bliebe, und sich mit einigen neuen Namen ergänzte. Ich schreibe Ihnen darüber, sobald die Sache mehr Consistenz als in diesem Augenblick hat. Das Eine ist jetzt schon gewiß, daß, kommen die Doctrinäre ins Ministerium, zehn gegen eins zu wetten ist, daß sie sich darin nicht mehr auch nur die Hälfte der Zeit wie früher behaupten können. Niederlande. _ Vom Niederrhein, 21 März. Die financiellen Vorschläge sowohl, als die über die Veränderung des Grundgesetzes, sind an die Kammer gebracht worden, und ich bemerke Ihnen darüber bloß, daß die erstern im Allgemeinen den Erwartungen entsprechen, aber nicht die zweiten. Die Budgetssumme ist zwar etwas höher als früher angesetzt, dagegen sind für das Amortisationssyndicat volle vier Millionen ausgeworfen. Die Gesammtersparnisse an den einzelnen Posten betragen 2,376,385 fl., wovon auf das Kriegsministerium allein 2,191,500 fl. kommen; die übrigen Posten sind sonach unbedeutend. Unter den Veränderungen des Grundgesetzes ist namentlich der famose Artikel 60 bemerkenswerth. Seine frühere Fassung war: „der König hat die oberste Leitung der Colonien und der Besitzungen in andern Welttheilen ausschließlich“; daraus leitete man bekanntlich ab, daß der König das Recht habe, über die Colonialfinanzen nach Gefallen zu verfügen. Dieser Artikel lautet jetzt: „Den Generalstaaten werden beim Anfang jeder gewöhnlichen Sitzung die zuletzt eingetroffenen Rechnungen (staten) über Einnahmen und Ausgaben der gemeldeten Colonien und Besitzungen mitgetheilt. Die Verwendung des Ueberschusses (batig slot) der für die Bedürfnisse des Mutterlandes

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 87. Augsburg, 27. März 1840, S. 0694. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_087_18400327/6>, abgerufen am 29.03.2024.