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Allgemeine Zeitung. Nr. 39. Augsburg, 8. Februar 1840.

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Die orientalische Frage.

Hamlet der Däne - da haben Sie den politischen Charakter des Jahrhunderts! voll Verstand, aber ohne Willen; reizbar, aber schwächlich in aller Leidenschaft: in seinem Zorn, in seinem Haß, in seiner Furcht, in seiner Liebe; abergläubisch und ungläubig zugleich, lebensmüd und sterbensfeig, blaß, grübelnd, hypochondrisch - das ist der Ausdruck des Zeitalters. Das Mark der Menschheit ist aufgelockert in lauter Reflexion; man hat die Thatkraft der Einzelnen und Völker wie eine Essenz für bestimmte Fälle auf Flaschen ziehen wollen, und siehe da, wenn nun die Funken des Gewitterhimmels niederstreichen, bringt man aus dem Leichnam wenig mehr heraus, als ein galvanisches Zucken. Unsere Geschichte ist durch und durch ein geistreicher Müßiggang, ein unmächtiger Dilettantismus; wir ersparen uns die Handlungen durch einen Monolog über ihre möglichen Folgen. Wir haben wohl mitunter ein heimliches Thatengelüst, ein heroisches Erröthen, aber wir schlafen darüber, und über Nacht kommen allerlei Gedanken, die frische Farbe der Entschlossenheit mit dem Blaß des Denkens zu überkränkeln. Wir sagen mit Hamlet: geschieht es jetzt, so geschieht es nicht künftig; geschieht es nicht künftig, so wird es jetzt geschehen; geschieht es nicht jetzt, einmal geschieht es doch; gefaßt seyn, das ist Alles! Und dabei bringen wir es zu einer passablen Bildung und Menschlichkeit. Kenntnisse haben Alle, Viele Talent, Einige Genie, aber unter zehntausend hat nicht Einer Charakter. Die freien springenden Muskeln der Geschichte, die gewaltigen Lebensenergien sind abgespannt, die majestätische Poesie der Charaktere ist dahin. An der orientalischen Frage erleben wir es wieder. Hätte ein Karl V, ein Friedrich II, ein Napoleon es mit ihr zu thun, was hätten wir nicht Alles schon erlebt, so oder so, Resultate doch, abzeichnende, gestaltende Resultate, nicht diesen langweiligen Wechsel von Noten und Gerüchten, diese jämmerlichen Rivalitäten, die nicht zu Wort kommen vor lauter falscher Freundlichkeit, die eine Honigrede auf der Zunge tragen und eine geballte Faust in der Tasche machen. Es ist, als arbeite Presse und Diplomatie dem Börsenspiel in die Hände - man betrachtet die orientalische Frage wie eine Wette: heute hat sie England gewonnen, morgen Rußland, übermorgen Frankreich, am Ende der Woche keiner. Das Thermometer der Geschichte ist aber ein anderes, als das der Börse. England betrachtet Aegypten als den Isthmus Europa's nach Ostindien; es kann nicht dulden, daß sich in diesem Angelpunkt dreier Welttheile eine Macht erhebe, die sich eines frühen Morgens einfallen lassen könnte, einen eigenen Willen zu besitzen. Daher Englands Haß gegen Mehemed, den kühnen, verschlagenen Barbaren; daher Englands Vormundschaft über die Pforte. Diese Vormundschaft erscheint aber wie die altrömische Patronentutel mehr als ein Vermögensrecht, eine eventuelle Erbschaft für den Tutor, denn als eine ehrliche Stellvertretung für den Pupillen. Rußland umgekehrt betrachtet die Dardanellen als die Schlüssel seines Hauses: du bist alt und schwach, sagt es zur Pforte, gib mir die Schlüssel; ich thue dir schon einen Gefallen wieder! Und dabei hält es nicht den Hut hin, aber den Helm, und die Pforte, alt und schwach wie sie ist, gibt die Schlüssel mit einem demüthigen Lächeln dem Schirmherrn in die Hände. Frankreich endlich poussirt den alten Mehemed gegen beide; es hält sich wie eine Tänzerin in der Schwebe zwischen Rußland und England, zwischen dem Padischah und dem Vicekönig, zwischen der alten Integrität und den "neuen Rechten." Hier wird die Perfidie sogar beredtsam; aber da sie selbst an ihre Großmuth nicht glaubt, wie will sie es von Andern verlangen? Mittlerweile geht im Orient eine ewige Nothwendigkeit ihren Weg: der entseelte Körper eines alten Weltreichs bricht zusammen, und aus seiner Asche wuchern junge Nationalitäten üppig auf, Walachen, Serben, Bulgaren, Griechen, Armenier, Araber, Tscherkessen, Turkomanen! Man hat es wohl gesehen, daß eine Minorität siegreich Jahrhunderte hindurch zu herrschen vermochte, wo sie die Bedingung ihres Lebens an die Verfechtung eines starken großen Grundsatzes band und sich mit diesem identificirte; das Umgekehrte hat man nie erlebt. Nun aber sind die Türken in der Türkei eine Minorität ohne Grundsatz, denn der Islam ist als ein weltgeschichtliches Agens, mindestens diesseits des Bosporus, erloschen. Man hat die orientalische Frage von vornherein nur als ein Problem der Territorialpolitik angegriffen, das ist der Fehler. Man mußte die orientalische Frage entweder als eine rein orientalische sich selbst, das heißt, dem Strom der Ereignisse überlassen, oder man mußte, falls sie eine europäische seyn sollte, sie auch in einem europäischen Sinne auffassen, das heißt, man mußte sie stellen unter die Gesammtbeleuchtung und den Gesammtschutz aller abendländisch-christlichen Interessen. Man hat sich den Anschein davon gegeben, aber den Muth dazu nicht gehabt. - Das charakterisirt unser politisches Jahrhundert. Unterdessen gehen die Ereignisse ihren Weg, und wenn sie vollbracht sind, werden die Diplomaten sie ratificiren und, was sie nur beurkunden, geschaffen zu haben wähnen. Wir Laien aber werden uns alsdann die Hände reiben und mit vergnügter Klugheit wie die zufriedenen Eltern in dem alten Volksmährchen ausrufen: lieber Himmel, was haben wir doch für eine kluge Else!

Zug durch die Wüste nach Schendi, und Aufenthalt daselbst.

(Fortsetzung.)

So wie der Mond über die Felsenspitzen sichtbar ward, setzten wir unsere Reise fort, marschirten vier Stunden lang über eine todte Plaine, und benutzten dann die Zeit zwischen Mondesuntergang bis Sonnenaufgang zu einigen Stunden Schlafes.

Wir hatten nach diesem Ruhepunkt erst eine geringe Strecke von neuem in der Morgenkühle zurückgelegt, als wir mit Verwunderung die Kamele unserer Karawane, die nach unserer Rechnung schon auf der Station angekommen seyn sollten, in der Ferne, über einen weiten Raum unordentlich zerstreut, vor uns erblickten. Bald darauf sahen wir im Sande mehrere einzelne Lagerspuren derselben, und daneben Scherben von Glaslaternen und Flaschen, zerbrochenes Porcellan, einzelne Kistenbretter u. s. w., die uns das Uebelste prophezeiten, was leider auch bald die vollständigste Bestätigung erhielt.

Kurz vor Mitternacht hatten die Karawanenführer neben einer Viehheerde naher Dorfbewohner angehalten, um etwas zu rasten und sich mit Milch zu erfrischen, als die Heerde von einem Löwen, den man uns als von ungeheuerer Größe schilderte, attakirt wurde. Glücklicherweise zog das Raubthier einen fetten Esel und eine Kuh der Araber, wovon er den ersten mit hinweg nahm, und die zweite nur zerriß, unsern Kamelen vor; doch diese rannten nun in rasender Furcht davon,

Die orientalische Frage.

Hamlet der Däne – da haben Sie den politischen Charakter des Jahrhunderts! voll Verstand, aber ohne Willen; reizbar, aber schwächlich in aller Leidenschaft: in seinem Zorn, in seinem Haß, in seiner Furcht, in seiner Liebe; abergläubisch und ungläubig zugleich, lebensmüd und sterbensfeig, blaß, grübelnd, hypochondrisch – das ist der Ausdruck des Zeitalters. Das Mark der Menschheit ist aufgelockert in lauter Reflexion; man hat die Thatkraft der Einzelnen und Völker wie eine Essenz für bestimmte Fälle auf Flaschen ziehen wollen, und siehe da, wenn nun die Funken des Gewitterhimmels niederstreichen, bringt man aus dem Leichnam wenig mehr heraus, als ein galvanisches Zucken. Unsere Geschichte ist durch und durch ein geistreicher Müßiggang, ein unmächtiger Dilettantismus; wir ersparen uns die Handlungen durch einen Monolog über ihre möglichen Folgen. Wir haben wohl mitunter ein heimliches Thatengelüst, ein heroisches Erröthen, aber wir schlafen darüber, und über Nacht kommen allerlei Gedanken, die frische Farbe der Entschlossenheit mit dem Blaß des Denkens zu überkränkeln. Wir sagen mit Hamlet: geschieht es jetzt, so geschieht es nicht künftig; geschieht es nicht künftig, so wird es jetzt geschehen; geschieht es nicht jetzt, einmal geschieht es doch; gefaßt seyn, das ist Alles! Und dabei bringen wir es zu einer passablen Bildung und Menschlichkeit. Kenntnisse haben Alle, Viele Talent, Einige Genie, aber unter zehntausend hat nicht Einer Charakter. Die freien springenden Muskeln der Geschichte, die gewaltigen Lebensenergien sind abgespannt, die majestätische Poesie der Charaktere ist dahin. An der orientalischen Frage erleben wir es wieder. Hätte ein Karl V, ein Friedrich II, ein Napoleon es mit ihr zu thun, was hätten wir nicht Alles schon erlebt, so oder so, Resultate doch, abzeichnende, gestaltende Resultate, nicht diesen langweiligen Wechsel von Noten und Gerüchten, diese jämmerlichen Rivalitäten, die nicht zu Wort kommen vor lauter falscher Freundlichkeit, die eine Honigrede auf der Zunge tragen und eine geballte Faust in der Tasche machen. Es ist, als arbeite Presse und Diplomatie dem Börsenspiel in die Hände – man betrachtet die orientalische Frage wie eine Wette: heute hat sie England gewonnen, morgen Rußland, übermorgen Frankreich, am Ende der Woche keiner. Das Thermometer der Geschichte ist aber ein anderes, als das der Börse. England betrachtet Aegypten als den Isthmus Europa's nach Ostindien; es kann nicht dulden, daß sich in diesem Angelpunkt dreier Welttheile eine Macht erhebe, die sich eines frühen Morgens einfallen lassen könnte, einen eigenen Willen zu besitzen. Daher Englands Haß gegen Mehemed, den kühnen, verschlagenen Barbaren; daher Englands Vormundschaft über die Pforte. Diese Vormundschaft erscheint aber wie die altrömische Patronentutel mehr als ein Vermögensrecht, eine eventuelle Erbschaft für den Tutor, denn als eine ehrliche Stellvertretung für den Pupillen. Rußland umgekehrt betrachtet die Dardanellen als die Schlüssel seines Hauses: du bist alt und schwach, sagt es zur Pforte, gib mir die Schlüssel; ich thue dir schon einen Gefallen wieder! Und dabei hält es nicht den Hut hin, aber den Helm, und die Pforte, alt und schwach wie sie ist, gibt die Schlüssel mit einem demüthigen Lächeln dem Schirmherrn in die Hände. Frankreich endlich poussirt den alten Mehemed gegen beide; es hält sich wie eine Tänzerin in der Schwebe zwischen Rußland und England, zwischen dem Padischah und dem Vicekönig, zwischen der alten Integrität und den „neuen Rechten.“ Hier wird die Perfidie sogar beredtsam; aber da sie selbst an ihre Großmuth nicht glaubt, wie will sie es von Andern verlangen? Mittlerweile geht im Orient eine ewige Nothwendigkeit ihren Weg: der entseelte Körper eines alten Weltreichs bricht zusammen, und aus seiner Asche wuchern junge Nationalitäten üppig auf, Walachen, Serben, Bulgaren, Griechen, Armenier, Araber, Tscherkessen, Turkomanen! Man hat es wohl gesehen, daß eine Minorität siegreich Jahrhunderte hindurch zu herrschen vermochte, wo sie die Bedingung ihres Lebens an die Verfechtung eines starken großen Grundsatzes band und sich mit diesem identificirte; das Umgekehrte hat man nie erlebt. Nun aber sind die Türken in der Türkei eine Minorität ohne Grundsatz, denn der Islam ist als ein weltgeschichtliches Agens, mindestens diesseits des Bosporus, erloschen. Man hat die orientalische Frage von vornherein nur als ein Problem der Territorialpolitik angegriffen, das ist der Fehler. Man mußte die orientalische Frage entweder als eine rein orientalische sich selbst, das heißt, dem Strom der Ereignisse überlassen, oder man mußte, falls sie eine europäische seyn sollte, sie auch in einem europäischen Sinne auffassen, das heißt, man mußte sie stellen unter die Gesammtbeleuchtung und den Gesammtschutz aller abendländisch-christlichen Interessen. Man hat sich den Anschein davon gegeben, aber den Muth dazu nicht gehabt. – Das charakterisirt unser politisches Jahrhundert. Unterdessen gehen die Ereignisse ihren Weg, und wenn sie vollbracht sind, werden die Diplomaten sie ratificiren und, was sie nur beurkunden, geschaffen zu haben wähnen. Wir Laien aber werden uns alsdann die Hände reiben und mit vergnügter Klugheit wie die zufriedenen Eltern in dem alten Volksmährchen ausrufen: lieber Himmel, was haben wir doch für eine kluge Else!

Zug durch die Wüste nach Schendi, und Aufenthalt daselbst.

(Fortsetzung.)

So wie der Mond über die Felsenspitzen sichtbar ward, setzten wir unsere Reise fort, marschirten vier Stunden lang über eine todte Plaine, und benutzten dann die Zeit zwischen Mondesuntergang bis Sonnenaufgang zu einigen Stunden Schlafes.

Wir hatten nach diesem Ruhepunkt erst eine geringe Strecke von neuem in der Morgenkühle zurückgelegt, als wir mit Verwunderung die Kamele unserer Karawane, die nach unserer Rechnung schon auf der Station angekommen seyn sollten, in der Ferne, über einen weiten Raum unordentlich zerstreut, vor uns erblickten. Bald darauf sahen wir im Sande mehrere einzelne Lagerspuren derselben, und daneben Scherben von Glaslaternen und Flaschen, zerbrochenes Porcellan, einzelne Kistenbretter u. s. w., die uns das Uebelste prophezeiten, was leider auch bald die vollständigste Bestätigung erhielt.

Kurz vor Mitternacht hatten die Karawanenführer neben einer Viehheerde naher Dorfbewohner angehalten, um etwas zu rasten und sich mit Milch zu erfrischen, als die Heerde von einem Löwen, den man uns als von ungeheuerer Größe schilderte, attakirt wurde. Glücklicherweise zog das Raubthier einen fetten Esel und eine Kuh der Araber, wovon er den ersten mit hinweg nahm, und die zweite nur zerriß, unsern Kamelen vor; doch diese rannten nun in rasender Furcht davon,

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Wir haben wohl mitunter ein heimliches Thatengelüst, ein heroisches Erröthen, aber wir schlafen darüber, und über Nacht kommen allerlei Gedanken, die frische Farbe der Entschlossenheit mit dem Blaß des Denkens zu überkränkeln. Wir sagen mit Hamlet: geschieht es jetzt, so geschieht es nicht künftig; geschieht es nicht künftig, so wird es jetzt geschehen; geschieht es nicht jetzt, einmal geschieht es doch; gefaßt seyn, das ist Alles! Und dabei bringen wir es zu einer passablen Bildung und Menschlichkeit. Kenntnisse haben Alle, Viele Talent, Einige Genie, aber unter zehntausend hat nicht Einer Charakter. Die freien springenden Muskeln der Geschichte, die gewaltigen Lebensenergien sind abgespannt, die majestätische Poesie der Charaktere ist dahin. An der orientalischen Frage erleben wir es wieder. Hätte ein Karl V, ein Friedrich II, ein Napoleon es mit ihr zu thun, was hätten wir nicht Alles schon erlebt, so oder so, Resultate doch, abzeichnende, gestaltende Resultate, nicht diesen langweiligen Wechsel von Noten und Gerüchten, diese jämmerlichen Rivalitäten, die nicht zu Wort kommen vor lauter falscher Freundlichkeit, die eine Honigrede auf der Zunge tragen und eine geballte Faust in der Tasche machen. Es ist, als arbeite Presse und Diplomatie dem Börsenspiel in die Hände &#x2013; man betrachtet die orientalische Frage wie eine Wette: heute hat sie England gewonnen, morgen Rußland, übermorgen Frankreich, am Ende der Woche keiner. Das Thermometer der Geschichte ist aber ein anderes, als das der Börse. England betrachtet Aegypten als den Isthmus Europa's nach Ostindien; es kann nicht dulden, daß sich in diesem Angelpunkt dreier Welttheile eine Macht erhebe, die sich eines frühen Morgens einfallen lassen könnte, einen eigenen Willen zu besitzen. Daher Englands Haß gegen Mehemed, den kühnen, verschlagenen Barbaren; daher Englands Vormundschaft über die Pforte. Diese Vormundschaft erscheint aber wie die altrömische Patronentutel mehr als ein Vermögensrecht, eine eventuelle Erbschaft für den Tutor, denn als eine ehrliche Stellvertretung für den Pupillen. Rußland umgekehrt betrachtet die Dardanellen als die Schlüssel seines Hauses: du bist alt und schwach, sagt es zur Pforte, gib mir die Schlüssel; ich thue dir schon einen Gefallen wieder! Und dabei hält es nicht den Hut hin, aber den Helm, und die Pforte, alt und schwach wie sie ist, gibt die Schlüssel mit einem demüthigen Lächeln dem Schirmherrn in die Hände. 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Nun aber sind die Türken in der Türkei eine Minorität ohne Grundsatz, denn der Islam ist als ein weltgeschichtliches Agens, mindestens diesseits des Bosporus, erloschen. Man hat die orientalische Frage von vornherein nur als ein Problem der Territorialpolitik angegriffen, das ist der Fehler. Man mußte die orientalische Frage entweder als eine rein orientalische sich selbst, das heißt, dem Strom der Ereignisse überlassen, oder man mußte, falls sie eine europäische seyn sollte, sie auch in einem europäischen Sinne auffassen, das heißt, man mußte sie stellen unter die Gesammtbeleuchtung und den Gesammtschutz aller abendländisch-christlichen Interessen. Man hat sich den Anschein davon gegeben, aber den Muth dazu nicht gehabt. &#x2013; Das charakterisirt unser politisches Jahrhundert. Unterdessen gehen die Ereignisse ihren Weg, und wenn sie vollbracht sind, werden die Diplomaten sie ratificiren und, was sie nur beurkunden, geschaffen zu haben wähnen. 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[0305/0009] Die orientalische Frage. ♁Vom Rhein. Hamlet der Däne – da haben Sie den politischen Charakter des Jahrhunderts! voll Verstand, aber ohne Willen; reizbar, aber schwächlich in aller Leidenschaft: in seinem Zorn, in seinem Haß, in seiner Furcht, in seiner Liebe; abergläubisch und ungläubig zugleich, lebensmüd und sterbensfeig, blaß, grübelnd, hypochondrisch – das ist der Ausdruck des Zeitalters. Das Mark der Menschheit ist aufgelockert in lauter Reflexion; man hat die Thatkraft der Einzelnen und Völker wie eine Essenz für bestimmte Fälle auf Flaschen ziehen wollen, und siehe da, wenn nun die Funken des Gewitterhimmels niederstreichen, bringt man aus dem Leichnam wenig mehr heraus, als ein galvanisches Zucken. Unsere Geschichte ist durch und durch ein geistreicher Müßiggang, ein unmächtiger Dilettantismus; wir ersparen uns die Handlungen durch einen Monolog über ihre möglichen Folgen. Wir haben wohl mitunter ein heimliches Thatengelüst, ein heroisches Erröthen, aber wir schlafen darüber, und über Nacht kommen allerlei Gedanken, die frische Farbe der Entschlossenheit mit dem Blaß des Denkens zu überkränkeln. Wir sagen mit Hamlet: geschieht es jetzt, so geschieht es nicht künftig; geschieht es nicht künftig, so wird es jetzt geschehen; geschieht es nicht jetzt, einmal geschieht es doch; gefaßt seyn, das ist Alles! Und dabei bringen wir es zu einer passablen Bildung und Menschlichkeit. Kenntnisse haben Alle, Viele Talent, Einige Genie, aber unter zehntausend hat nicht Einer Charakter. Die freien springenden Muskeln der Geschichte, die gewaltigen Lebensenergien sind abgespannt, die majestätische Poesie der Charaktere ist dahin. An der orientalischen Frage erleben wir es wieder. Hätte ein Karl V, ein Friedrich II, ein Napoleon es mit ihr zu thun, was hätten wir nicht Alles schon erlebt, so oder so, Resultate doch, abzeichnende, gestaltende Resultate, nicht diesen langweiligen Wechsel von Noten und Gerüchten, diese jämmerlichen Rivalitäten, die nicht zu Wort kommen vor lauter falscher Freundlichkeit, die eine Honigrede auf der Zunge tragen und eine geballte Faust in der Tasche machen. Es ist, als arbeite Presse und Diplomatie dem Börsenspiel in die Hände – man betrachtet die orientalische Frage wie eine Wette: heute hat sie England gewonnen, morgen Rußland, übermorgen Frankreich, am Ende der Woche keiner. Das Thermometer der Geschichte ist aber ein anderes, als das der Börse. England betrachtet Aegypten als den Isthmus Europa's nach Ostindien; es kann nicht dulden, daß sich in diesem Angelpunkt dreier Welttheile eine Macht erhebe, die sich eines frühen Morgens einfallen lassen könnte, einen eigenen Willen zu besitzen. Daher Englands Haß gegen Mehemed, den kühnen, verschlagenen Barbaren; daher Englands Vormundschaft über die Pforte. Diese Vormundschaft erscheint aber wie die altrömische Patronentutel mehr als ein Vermögensrecht, eine eventuelle Erbschaft für den Tutor, denn als eine ehrliche Stellvertretung für den Pupillen. Rußland umgekehrt betrachtet die Dardanellen als die Schlüssel seines Hauses: du bist alt und schwach, sagt es zur Pforte, gib mir die Schlüssel; ich thue dir schon einen Gefallen wieder! Und dabei hält es nicht den Hut hin, aber den Helm, und die Pforte, alt und schwach wie sie ist, gibt die Schlüssel mit einem demüthigen Lächeln dem Schirmherrn in die Hände. Frankreich endlich poussirt den alten Mehemed gegen beide; es hält sich wie eine Tänzerin in der Schwebe zwischen Rußland und England, zwischen dem Padischah und dem Vicekönig, zwischen der alten Integrität und den „neuen Rechten.“ Hier wird die Perfidie sogar beredtsam; aber da sie selbst an ihre Großmuth nicht glaubt, wie will sie es von Andern verlangen? Mittlerweile geht im Orient eine ewige Nothwendigkeit ihren Weg: der entseelte Körper eines alten Weltreichs bricht zusammen, und aus seiner Asche wuchern junge Nationalitäten üppig auf, Walachen, Serben, Bulgaren, Griechen, Armenier, Araber, Tscherkessen, Turkomanen! Man hat es wohl gesehen, daß eine Minorität siegreich Jahrhunderte hindurch zu herrschen vermochte, wo sie die Bedingung ihres Lebens an die Verfechtung eines starken großen Grundsatzes band und sich mit diesem identificirte; das Umgekehrte hat man nie erlebt. Nun aber sind die Türken in der Türkei eine Minorität ohne Grundsatz, denn der Islam ist als ein weltgeschichtliches Agens, mindestens diesseits des Bosporus, erloschen. Man hat die orientalische Frage von vornherein nur als ein Problem der Territorialpolitik angegriffen, das ist der Fehler. Man mußte die orientalische Frage entweder als eine rein orientalische sich selbst, das heißt, dem Strom der Ereignisse überlassen, oder man mußte, falls sie eine europäische seyn sollte, sie auch in einem europäischen Sinne auffassen, das heißt, man mußte sie stellen unter die Gesammtbeleuchtung und den Gesammtschutz aller abendländisch-christlichen Interessen. Man hat sich den Anschein davon gegeben, aber den Muth dazu nicht gehabt. – Das charakterisirt unser politisches Jahrhundert. Unterdessen gehen die Ereignisse ihren Weg, und wenn sie vollbracht sind, werden die Diplomaten sie ratificiren und, was sie nur beurkunden, geschaffen zu haben wähnen. Wir Laien aber werden uns alsdann die Hände reiben und mit vergnügter Klugheit wie die zufriedenen Eltern in dem alten Volksmährchen ausrufen: lieber Himmel, was haben wir doch für eine kluge Else! Zug durch die Wüste nach Schendi, und Aufenthalt daselbst. (Fortsetzung.) ♔So wie der Mond über die Felsenspitzen sichtbar ward, setzten wir unsere Reise fort, marschirten vier Stunden lang über eine todte Plaine, und benutzten dann die Zeit zwischen Mondesuntergang bis Sonnenaufgang zu einigen Stunden Schlafes. Wir hatten nach diesem Ruhepunkt erst eine geringe Strecke von neuem in der Morgenkühle zurückgelegt, als wir mit Verwunderung die Kamele unserer Karawane, die nach unserer Rechnung schon auf der Station angekommen seyn sollten, in der Ferne, über einen weiten Raum unordentlich zerstreut, vor uns erblickten. Bald darauf sahen wir im Sande mehrere einzelne Lagerspuren derselben, und daneben Scherben von Glaslaternen und Flaschen, zerbrochenes Porcellan, einzelne Kistenbretter u. s. w., die uns das Uebelste prophezeiten, was leider auch bald die vollständigste Bestätigung erhielt. Kurz vor Mitternacht hatten die Karawanenführer neben einer Viehheerde naher Dorfbewohner angehalten, um etwas zu rasten und sich mit Milch zu erfrischen, als die Heerde von einem Löwen, den man uns als von ungeheuerer Größe schilderte, attakirt wurde. Glücklicherweise zog das Raubthier einen fetten Esel und eine Kuh der Araber, wovon er den ersten mit hinweg nahm, und die zweite nur zerriß, unsern Kamelen vor; doch diese rannten nun in rasender Furcht davon,

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 39. Augsburg, 8. Februar 1840, S. 0305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_039_18400208/9>, abgerufen am 25.04.2024.