Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 15. Augsburg, 15. Januar 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

reißt Entsittlichung ein. Dazu sind die Juden, eine andere Plage des Landes, behülflich. Sie sind die Pächter des Schankrechts, verlocken die Bauern zur Trunksucht und speculiren auf ihr Verderben. Die Polen hatten in der letzten Zeit, wo sie es vermochten, die Juden zu beschränken gesucht, und namentlich durch ein Gesetz verboten, das Schankrecht an sie zu verpachten, sey's vom Fiscus, sey's vom Grundherrn. Darum stehen die Juden des Königreichs auf russischer Seite, während z. B. die Juden in Litthauen, wo sie noch zahlreicher sind und mitunter ganze Ortschaften bewohnen, in der letzten polnischen Revolution dieser zugethan waren. Alle jene Bestimmungen gegen die Juden sind jetzt wieder aufgehoben worden, die lucrativen Pachtungen, die Capitalien des Landes befinden sich in ihren Händen.

Das ist in der Kürze, wie sich die Zustände in Russisch-Polen neuerdings gestaltet haben. Was Rußland eigentlich will, wie klar es sich seiner Zwecke bewußt ist, das geht schon aus den Verhandlungen am Wiener Congreß hervor, das besagen deutlich viele Memoranda aus jener Zeit. Graf Pozzo di Borgo sprach es bereits im Jahr 1814 in einem Memorial an den Kaiser Alexander mit klaren, dürren Worten aus: "Polen gebe Rußland die mächtigste Stellung, den größten Einfluß in Europa, nähere es den Thoren von Berlin, Wien und dem Rhein; aber damit diese Stellung Wahrheit erhalte, activ werde, dürfe Polen nicht selbstständig bleiben, müsse Volk und Nationalität in den russischen Körper völlig aufgehen." Oesterreich und England empfanden tief diese Wahrheit, aber ihre Bemühungen fanden nicht die nöthige Unterstützung bei den andern Cabinetten: Polen, Finnland, die Ostsee, die Länder der untern Donau und des schwarzen Meers wurden dem bereits so mächtigen Rußland hingegeben und Sachsen im Innern Deutschlands zerbröckelt. - Man vergegenwärtige sich eine Lage Europa's, deren Wiederkehr, wenn auch in anderer Art, nicht eben unmöglich ist. Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges stand fast ganz Europa in Waffen gegen Oesterreich und Bayern: die norddeutschen Staaten, Dänemark, Schweden, Holland, Frankreich, zu Zeiten auch England. Nur ein glücklicher Umstand waltete für Oesterreich - das war die neutrale Stellung, welche Polen einnahm und trotz aller Machinationen behauptete. Nachdem der Waffenstillstand zwischen Polen und Schweden zu Stande gebracht worden war, suchte der Cardinal Richelieu die Polen, welche die ausgezeichnetste Cavallerie hatten, durch alle Mittel zur Theilnahme an dem Kriege gegen Oesterreich zu bewegen, er sicherte ihnen Schlesien und andere Acquisitionen zu, ja er versprach endlich dem Könige Sigismund, ihn auf den deutschen Kaiserthron erheben zu wollen; aber Alles vergeblich, zur größten Verwunderung des Cardinals, der solche Uneigennützigkeit nicht begriff - die Polen beschränkten sich darauf, den vor dem schweren Kriege flüchtigen Deutschen eine willkommene Zufluchtsstätte in ihrem Lande zu bieten! Was würde jetzt in ähnlicher Lage geschehen? Würde Rußland auch so großmüthig seyn? Rußland kann Verträge im Orient aufgeben, die ihm nichts mehr nützen; es mag die orientalischen Verwickelungen bis zur gelegenern Zeit sich hinschleppen lassen, was seine Interessen nur fördert; es mag sich England nähern, ja am sehnlichsten wünschen, gegen den mit Frankreich verbündeten Pascha von Aegypten in der Türkei zu Felde ziehen zu können - darum aber wird es seine Zwecke nicht aus den Augen verlieren, seine Plane nicht fahren lassen und die Besitzergreifung von Konstantinopel nicht sein letztes Ziel seyn.



Als Seitenbild, und - da der politische Standpunkt ein durchaus anderer ist - als Gegenbild zu obiger Schilderung des russischen Polens lassen wir die Schilderung folgen, die der Apologet der russischen Politik, der Verfasser "der europäischen Pentarchie" über den gegenwärtigen Zustand von Polen gibt:

"Die letzte polnische Theilung von 1795 hatte die alte polnische Wahlrepublik politisch aufgelöst. Es verschwand der polnische Staat aus dem Staatensystem von Europa. Allein über den Grabhügeln rauschte die Geschichte der Vorzeit, und in dem Unterrichte der Wiegenlieder spann sich der Geisterfaden weiter fort. Doch die elegischen Eindrücke wurden immer flüchtiger, die Ueberlegung ward ruhiger, die Beurtheilung der Vergangenheit schärfer und richtiger. Da erschien Napoleon auf dem Niemen, und quittirte die polnische Legion mit einem Herzogthum Warschau. Das Herzogthum Warschau war nicht die Republik Polen. Die Polen fühlten diesen Unterschied mit Gram. Nichtsdestoweniger freuten sie sich den Schupan und Contusch wieder anlegen zu dürfen und, so weit sich es thun ließ, die alte polnische Wirthschaft wieder herzustellen. Das Entzücken war groß, aber kurz. Es erfror in Rußland. Das Herzogthum Warschau hatte aufgehört zu existiren. Es war eine Eroberung von Rußland.

"1815 wurde das Czarthum Polen von dem Wiener Congreß geschaffen, von Europa anerkannt und garantirt. Rußland trat einzelne Theile seiner Eroberung an Oesterreich und Preußen ab.

"Auch das neue Czarthum Polen war, so wenig wie das Herzogthum Warschau, eine modificirte Restauration der alten Republik Polen. Doch der Geist der letzteren brannte durch die Constitution von 1815 wieder auf. Die Verfassung von 1807 hatte die polnische Lust und Leidenschaft, sich sprechen zu hören, so lange man wünscht, in die Comites des Reichstags verwiesen, und ihren Einfluß dadurch klug zersplittert und geschwächt. Dagegen durfte sich jener angeborne Hang der Polen nach der Constitution von 1815, wie in alten Zeiten im Reichstag, selbst Genugthuung verschaffen. So wurde sein Einfluß concentrirt und gestärkt. Die Folgen konnten nicht fehlen. Aus den Reibungen und Erhitzungen des Reichstags entstanden die geheimen Gesellschaften, die Verschwörungen und Revolutionsversuche. Und die Frage, welche nie hätte zwischen zwei Freunden aufgeworfen werden dürfen, ob überhaupt ein Czarthum oder eine Republik Polen bestehen solle, diese heillose Frage ging in das Volksleben über.

"Ein grauer und trauriger Herbsttag war der 29 November 1830. Unter dem Schutze seiner kalten Abendnebel brach die vielfach verkündete Revolution an. Einige Tage später zitterte Warschau vor seiner wohlfeil errungenen Heldengröße. Es gedachte des eisernen Suwarow und Praga's. Die Kinder hungerten, die Mütter weinten, die Väter mußten illuminiren. Es gab eine besoffene Straßenfreude, Feuerröthe, kein Morgenroth.

"Neun Monate später wurde auf dem kleinen Kirchhofe von Wola, unter den Linden vergessener Gräber, Altpolens letzte Lebenskraft vernichtet. Die späteren Kämpfe waren nur die Todeszuckungen der gleißnerischen Schlange, welche die Warschauer Kinder mit der trügerischen Verheißung verführte: ihr werdet mit nichten des Todes sterben. Warschau sah zum andernmale vor seinen Thoren ein reichbestelltes Todtenfeld, ein Todesfeld falscher Hoffnungen und Schwüre, eiteln Gelüstes an Abenteuern. War solches Ende Zufall, Ungeschick, ein grasser Zahlenirrthum in der Pluralität eines kämpfenden Theils? Viele vermeinten es. Aber ein Heros alttestamentarischer Geschichte hatte den Glauben: "Gott könne ebensowohl durch Wenige Sieg geben, als durch Viele; denn der Sieg komme vom Himmel und werde nicht durch große

reißt Entsittlichung ein. Dazu sind die Juden, eine andere Plage des Landes, behülflich. Sie sind die Pächter des Schankrechts, verlocken die Bauern zur Trunksucht und speculiren auf ihr Verderben. Die Polen hatten in der letzten Zeit, wo sie es vermochten, die Juden zu beschränken gesucht, und namentlich durch ein Gesetz verboten, das Schankrecht an sie zu verpachten, sey's vom Fiscus, sey's vom Grundherrn. Darum stehen die Juden des Königreichs auf russischer Seite, während z. B. die Juden in Litthauen, wo sie noch zahlreicher sind und mitunter ganze Ortschaften bewohnen, in der letzten polnischen Revolution dieser zugethan waren. Alle jene Bestimmungen gegen die Juden sind jetzt wieder aufgehoben worden, die lucrativen Pachtungen, die Capitalien des Landes befinden sich in ihren Händen.

Das ist in der Kürze, wie sich die Zustände in Russisch-Polen neuerdings gestaltet haben. Was Rußland eigentlich will, wie klar es sich seiner Zwecke bewußt ist, das geht schon aus den Verhandlungen am Wiener Congreß hervor, das besagen deutlich viele Memoranda aus jener Zeit. Graf Pozzo di Borgo sprach es bereits im Jahr 1814 in einem Memorial an den Kaiser Alexander mit klaren, dürren Worten aus: „Polen gebe Rußland die mächtigste Stellung, den größten Einfluß in Europa, nähere es den Thoren von Berlin, Wien und dem Rhein; aber damit diese Stellung Wahrheit erhalte, activ werde, dürfe Polen nicht selbstständig bleiben, müsse Volk und Nationalität in den russischen Körper völlig aufgehen.“ Oesterreich und England empfanden tief diese Wahrheit, aber ihre Bemühungen fanden nicht die nöthige Unterstützung bei den andern Cabinetten: Polen, Finnland, die Ostsee, die Länder der untern Donau und des schwarzen Meers wurden dem bereits so mächtigen Rußland hingegeben und Sachsen im Innern Deutschlands zerbröckelt. – Man vergegenwärtige sich eine Lage Europa's, deren Wiederkehr, wenn auch in anderer Art, nicht eben unmöglich ist. Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges stand fast ganz Europa in Waffen gegen Oesterreich und Bayern: die norddeutschen Staaten, Dänemark, Schweden, Holland, Frankreich, zu Zeiten auch England. Nur ein glücklicher Umstand waltete für Oesterreich – das war die neutrale Stellung, welche Polen einnahm und trotz aller Machinationen behauptete. Nachdem der Waffenstillstand zwischen Polen und Schweden zu Stande gebracht worden war, suchte der Cardinal Richelieu die Polen, welche die ausgezeichnetste Cavallerie hatten, durch alle Mittel zur Theilnahme an dem Kriege gegen Oesterreich zu bewegen, er sicherte ihnen Schlesien und andere Acquisitionen zu, ja er versprach endlich dem Könige Sigismund, ihn auf den deutschen Kaiserthron erheben zu wollen; aber Alles vergeblich, zur größten Verwunderung des Cardinals, der solche Uneigennützigkeit nicht begriff – die Polen beschränkten sich darauf, den vor dem schweren Kriege flüchtigen Deutschen eine willkommene Zufluchtsstätte in ihrem Lande zu bieten! Was würde jetzt in ähnlicher Lage geschehen? Würde Rußland auch so großmüthig seyn? Rußland kann Verträge im Orient aufgeben, die ihm nichts mehr nützen; es mag die orientalischen Verwickelungen bis zur gelegenern Zeit sich hinschleppen lassen, was seine Interessen nur fördert; es mag sich England nähern, ja am sehnlichsten wünschen, gegen den mit Frankreich verbündeten Pascha von Aegypten in der Türkei zu Felde ziehen zu können – darum aber wird es seine Zwecke nicht aus den Augen verlieren, seine Plane nicht fahren lassen und die Besitzergreifung von Konstantinopel nicht sein letztes Ziel seyn.



Als Seitenbild, und – da der politische Standpunkt ein durchaus anderer ist – als Gegenbild zu obiger Schilderung des russischen Polens lassen wir die Schilderung folgen, die der Apologet der russischen Politik, der Verfasser „der europäischen Pentarchie“ über den gegenwärtigen Zustand von Polen gibt:

„Die letzte polnische Theilung von 1795 hatte die alte polnische Wahlrepublik politisch aufgelöst. Es verschwand der polnische Staat aus dem Staatensystem von Europa. Allein über den Grabhügeln rauschte die Geschichte der Vorzeit, und in dem Unterrichte der Wiegenlieder spann sich der Geisterfaden weiter fort. Doch die elegischen Eindrücke wurden immer flüchtiger, die Ueberlegung ward ruhiger, die Beurtheilung der Vergangenheit schärfer und richtiger. Da erschien Napoleon auf dem Niemen, und quittirte die polnische Legion mit einem Herzogthum Warschau. Das Herzogthum Warschau war nicht die Republik Polen. Die Polen fühlten diesen Unterschied mit Gram. Nichtsdestoweniger freuten sie sich den Schupan und Contusch wieder anlegen zu dürfen und, so weit sich es thun ließ, die alte polnische Wirthschaft wieder herzustellen. Das Entzücken war groß, aber kurz. Es erfror in Rußland. Das Herzogthum Warschau hatte aufgehört zu existiren. Es war eine Eroberung von Rußland.

„1815 wurde das Czarthum Polen von dem Wiener Congreß geschaffen, von Europa anerkannt und garantirt. Rußland trat einzelne Theile seiner Eroberung an Oesterreich und Preußen ab.

„Auch das neue Czarthum Polen war, so wenig wie das Herzogthum Warschau, eine modificirte Restauration der alten Republik Polen. Doch der Geist der letzteren brannte durch die Constitution von 1815 wieder auf. Die Verfassung von 1807 hatte die polnische Lust und Leidenschaft, sich sprechen zu hören, so lange man wünscht, in die Comités des Reichstags verwiesen, und ihren Einfluß dadurch klug zersplittert und geschwächt. Dagegen durfte sich jener angeborne Hang der Polen nach der Constitution von 1815, wie in alten Zeiten im Reichstag, selbst Genugthuung verschaffen. So wurde sein Einfluß concentrirt und gestärkt. Die Folgen konnten nicht fehlen. Aus den Reibungen und Erhitzungen des Reichstags entstanden die geheimen Gesellschaften, die Verschwörungen und Revolutionsversuche. Und die Frage, welche nie hätte zwischen zwei Freunden aufgeworfen werden dürfen, ob überhaupt ein Czarthum oder eine Republik Polen bestehen solle, diese heillose Frage ging in das Volksleben über.

„Ein grauer und trauriger Herbsttag war der 29 November 1830. Unter dem Schutze seiner kalten Abendnebel brach die vielfach verkündete Revolution an. Einige Tage später zitterte Warschau vor seiner wohlfeil errungenen Heldengröße. Es gedachte des eisernen Suwarow und Praga's. Die Kinder hungerten, die Mütter weinten, die Väter mußten illuminiren. Es gab eine besoffene Straßenfreude, Feuerröthe, kein Morgenroth.

„Neun Monate später wurde auf dem kleinen Kirchhofe von Wola, unter den Linden vergessener Gräber, Altpolens letzte Lebenskraft vernichtet. Die späteren Kämpfe waren nur die Todeszuckungen der gleißnerischen Schlange, welche die Warschauer Kinder mit der trügerischen Verheißung verführte: ihr werdet mit nichten des Todes sterben. Warschau sah zum andernmale vor seinen Thoren ein reichbestelltes Todtenfeld, ein Todesfeld falscher Hoffnungen und Schwüre, eiteln Gelüstes an Abenteuern. War solches Ende Zufall, Ungeschick, ein grasser Zahlenirrthum in der Pluralität eines kämpfenden Theils? Viele vermeinten es. Aber ein Heros alttestamentarischer Geschichte hatte den Glauben: „Gott könne ebensowohl durch Wenige Sieg geben, als durch Viele; denn der Sieg komme vom Himmel und werde nicht durch große

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="jArticle" n="2">
          <p><pb facs="#f0011" n="0115"/>
reißt Entsittlichung ein. Dazu sind die Juden, eine andere Plage des Landes, behülflich. Sie sind die Pächter des Schankrechts, verlocken die Bauern zur Trunksucht und speculiren auf ihr Verderben. Die Polen hatten in der letzten Zeit, wo sie es vermochten, die Juden zu beschränken gesucht, und namentlich durch ein Gesetz verboten, das Schankrecht an sie zu verpachten, sey's vom Fiscus, sey's vom Grundherrn. Darum stehen die Juden des Königreichs auf russischer Seite, während z. B. die Juden in Litthauen, wo sie noch zahlreicher sind und mitunter ganze Ortschaften bewohnen, in der letzten polnischen Revolution dieser zugethan waren. Alle jene Bestimmungen gegen die Juden sind jetzt wieder aufgehoben worden, die lucrativen Pachtungen, die Capitalien des Landes befinden sich in ihren Händen.</p><lb/>
          <p>Das ist in der Kürze, wie sich die Zustände in Russisch-Polen neuerdings gestaltet haben. Was Rußland eigentlich will, wie klar es sich seiner Zwecke bewußt ist, das geht schon aus den Verhandlungen am Wiener Congreß hervor, das besagen deutlich viele Memoranda aus jener Zeit. Graf Pozzo di Borgo sprach es bereits im Jahr 1814 in einem Memorial an den Kaiser Alexander mit klaren, dürren Worten aus: &#x201E;Polen gebe Rußland die mächtigste Stellung, den größten Einfluß in Europa, nähere es den Thoren von Berlin, Wien und dem Rhein; aber damit diese Stellung Wahrheit erhalte, <hi rendition="#g">activ</hi> werde, dürfe Polen nicht selbstständig bleiben, müsse Volk und Nationalität in den russischen Körper völlig aufgehen.&#x201C; Oesterreich und England empfanden tief diese Wahrheit, aber ihre Bemühungen fanden nicht die nöthige Unterstützung bei den andern Cabinetten: Polen, Finnland, die Ostsee, die Länder der untern Donau und des schwarzen Meers wurden dem bereits so mächtigen Rußland hingegeben und Sachsen im Innern Deutschlands zerbröckelt. &#x2013; Man vergegenwärtige sich eine Lage Europa's, deren Wiederkehr, wenn auch in anderer Art, nicht eben unmöglich ist. Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges stand fast ganz Europa in Waffen gegen Oesterreich und Bayern: die norddeutschen Staaten, Dänemark, Schweden, Holland, Frankreich, zu Zeiten auch England. Nur ein glücklicher Umstand waltete für Oesterreich &#x2013; das war die neutrale Stellung, welche Polen einnahm und trotz aller Machinationen behauptete. Nachdem der Waffenstillstand zwischen Polen und Schweden zu Stande gebracht worden war, suchte der Cardinal Richelieu die Polen, welche die ausgezeichnetste Cavallerie hatten, durch alle Mittel zur Theilnahme an dem Kriege gegen Oesterreich zu bewegen, er sicherte ihnen Schlesien und andere Acquisitionen zu, ja er versprach endlich dem Könige Sigismund, ihn auf den deutschen Kaiserthron erheben zu wollen; aber Alles vergeblich, zur größten Verwunderung des Cardinals, der solche Uneigennützigkeit nicht begriff &#x2013; die Polen beschränkten sich darauf, den vor dem schweren Kriege flüchtigen Deutschen eine willkommene Zufluchtsstätte in ihrem Lande zu bieten! Was würde jetzt in ähnlicher Lage geschehen? Würde Rußland auch so großmüthig seyn? Rußland kann Verträge im Orient aufgeben, die ihm nichts mehr nützen; es mag die orientalischen Verwickelungen bis zur gelegenern Zeit sich hinschleppen lassen, was seine Interessen nur fördert; es mag sich England nähern, ja am sehnlichsten wünschen, gegen den mit Frankreich verbündeten Pascha von Aegypten in der Türkei zu Felde ziehen zu können &#x2013; darum aber wird es seine Zwecke nicht aus den Augen verlieren, seine Plane nicht fahren lassen und die Besitzergreifung von Konstantinopel nicht sein letztes Ziel seyn.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Als Seitenbild, und &#x2013; da der politische Standpunkt ein durchaus anderer ist &#x2013; als Gegenbild zu obiger Schilderung des russischen Polens lassen wir die Schilderung folgen, die der Apologet der russischen Politik, der Verfasser &#x201E;der europäischen Pentarchie&#x201C; über den gegenwärtigen Zustand von Polen gibt:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die letzte polnische Theilung von 1795 hatte die alte polnische Wahlrepublik politisch aufgelöst. Es verschwand der polnische Staat aus dem Staatensystem von Europa. Allein über den Grabhügeln rauschte die Geschichte der Vorzeit, und in dem Unterrichte der Wiegenlieder spann sich der Geisterfaden weiter fort. Doch die elegischen Eindrücke wurden immer flüchtiger, die Ueberlegung ward ruhiger, die Beurtheilung der Vergangenheit schärfer und richtiger. Da erschien Napoleon auf dem Niemen, und quittirte die polnische Legion mit einem Herzogthum Warschau. Das Herzogthum <hi rendition="#g">Warschau</hi> war nicht die Republik <hi rendition="#g">Polen</hi>. Die Polen fühlten diesen Unterschied mit Gram. Nichtsdestoweniger freuten sie sich den Schupan und Contusch wieder anlegen zu dürfen und, so weit sich es thun ließ, die alte polnische Wirthschaft wieder herzustellen. Das Entzücken war groß, aber kurz. Es erfror in Rußland. Das Herzogthum Warschau hatte aufgehört zu existiren. Es war eine <hi rendition="#g">Eroberung</hi> von Rußland.</p><lb/>
          <p>&#x201E;1815 wurde das <hi rendition="#g">Czarthum</hi> Polen von dem Wiener Congreß geschaffen, von Europa anerkannt und garantirt. Rußland trat einzelne Theile seiner Eroberung an Oesterreich und Preußen ab.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Auch das neue Czarthum Polen war, so wenig wie das Herzogthum Warschau, eine modificirte Restauration der alten Republik Polen. Doch der Geist der letzteren brannte durch die Constitution von 1815 wieder auf. Die Verfassung von 1807 hatte die polnische Lust und Leidenschaft, sich sprechen zu hören, so lange man wünscht, in die Comités des Reichstags verwiesen, und ihren Einfluß dadurch klug zersplittert und geschwächt. Dagegen durfte sich jener angeborne Hang der Polen nach der Constitution von 1815, wie in alten Zeiten im Reichstag, selbst Genugthuung verschaffen. So wurde sein Einfluß concentrirt und gestärkt. Die Folgen konnten nicht fehlen. Aus den Reibungen und Erhitzungen des Reichstags entstanden die geheimen Gesellschaften, die Verschwörungen und Revolutionsversuche. Und die Frage, welche nie hätte zwischen zwei Freunden aufgeworfen werden dürfen, ob überhaupt ein Czarthum oder eine Republik Polen bestehen solle, diese heillose Frage ging in das Volksleben über.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ein grauer und trauriger Herbsttag war der 29 November 1830. Unter dem Schutze seiner kalten Abendnebel brach die vielfach verkündete Revolution an. Einige Tage später zitterte Warschau vor seiner wohlfeil errungenen Heldengröße. Es gedachte des eisernen Suwarow und Praga's. Die Kinder hungerten, die Mütter weinten, die Väter mußten illuminiren. Es gab eine besoffene Straßenfreude, Feuerröthe, kein Morgenroth.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Neun Monate später wurde auf dem kleinen Kirchhofe von Wola, unter den Linden vergessener Gräber, Altpolens letzte Lebenskraft vernichtet. Die späteren Kämpfe waren nur die Todeszuckungen der gleißnerischen Schlange, welche die Warschauer Kinder mit der trügerischen Verheißung verführte: <hi rendition="#g">ihr werdet mit nichten des Todes sterben</hi>. Warschau sah zum andernmale vor seinen Thoren ein reichbestelltes Todtenfeld, ein Todesfeld falscher Hoffnungen und Schwüre, eiteln Gelüstes an Abenteuern. War solches Ende Zufall, Ungeschick, ein grasser Zahlenirrthum in der Pluralität eines kämpfenden Theils? Viele vermeinten es. Aber ein Heros alttestamentarischer Geschichte hatte den Glauben: &#x201E;<hi rendition="#g">Gott könne ebensowohl durch Wenige Sieg geben</hi>, <hi rendition="#g">als durch Viele</hi>; <hi rendition="#g">denn der Sieg komme vom Himmel und werde nicht durch große<lb/></hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0115/0011] reißt Entsittlichung ein. Dazu sind die Juden, eine andere Plage des Landes, behülflich. Sie sind die Pächter des Schankrechts, verlocken die Bauern zur Trunksucht und speculiren auf ihr Verderben. Die Polen hatten in der letzten Zeit, wo sie es vermochten, die Juden zu beschränken gesucht, und namentlich durch ein Gesetz verboten, das Schankrecht an sie zu verpachten, sey's vom Fiscus, sey's vom Grundherrn. Darum stehen die Juden des Königreichs auf russischer Seite, während z. B. die Juden in Litthauen, wo sie noch zahlreicher sind und mitunter ganze Ortschaften bewohnen, in der letzten polnischen Revolution dieser zugethan waren. Alle jene Bestimmungen gegen die Juden sind jetzt wieder aufgehoben worden, die lucrativen Pachtungen, die Capitalien des Landes befinden sich in ihren Händen. Das ist in der Kürze, wie sich die Zustände in Russisch-Polen neuerdings gestaltet haben. Was Rußland eigentlich will, wie klar es sich seiner Zwecke bewußt ist, das geht schon aus den Verhandlungen am Wiener Congreß hervor, das besagen deutlich viele Memoranda aus jener Zeit. Graf Pozzo di Borgo sprach es bereits im Jahr 1814 in einem Memorial an den Kaiser Alexander mit klaren, dürren Worten aus: „Polen gebe Rußland die mächtigste Stellung, den größten Einfluß in Europa, nähere es den Thoren von Berlin, Wien und dem Rhein; aber damit diese Stellung Wahrheit erhalte, activ werde, dürfe Polen nicht selbstständig bleiben, müsse Volk und Nationalität in den russischen Körper völlig aufgehen.“ Oesterreich und England empfanden tief diese Wahrheit, aber ihre Bemühungen fanden nicht die nöthige Unterstützung bei den andern Cabinetten: Polen, Finnland, die Ostsee, die Länder der untern Donau und des schwarzen Meers wurden dem bereits so mächtigen Rußland hingegeben und Sachsen im Innern Deutschlands zerbröckelt. – Man vergegenwärtige sich eine Lage Europa's, deren Wiederkehr, wenn auch in anderer Art, nicht eben unmöglich ist. Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges stand fast ganz Europa in Waffen gegen Oesterreich und Bayern: die norddeutschen Staaten, Dänemark, Schweden, Holland, Frankreich, zu Zeiten auch England. Nur ein glücklicher Umstand waltete für Oesterreich – das war die neutrale Stellung, welche Polen einnahm und trotz aller Machinationen behauptete. Nachdem der Waffenstillstand zwischen Polen und Schweden zu Stande gebracht worden war, suchte der Cardinal Richelieu die Polen, welche die ausgezeichnetste Cavallerie hatten, durch alle Mittel zur Theilnahme an dem Kriege gegen Oesterreich zu bewegen, er sicherte ihnen Schlesien und andere Acquisitionen zu, ja er versprach endlich dem Könige Sigismund, ihn auf den deutschen Kaiserthron erheben zu wollen; aber Alles vergeblich, zur größten Verwunderung des Cardinals, der solche Uneigennützigkeit nicht begriff – die Polen beschränkten sich darauf, den vor dem schweren Kriege flüchtigen Deutschen eine willkommene Zufluchtsstätte in ihrem Lande zu bieten! Was würde jetzt in ähnlicher Lage geschehen? Würde Rußland auch so großmüthig seyn? Rußland kann Verträge im Orient aufgeben, die ihm nichts mehr nützen; es mag die orientalischen Verwickelungen bis zur gelegenern Zeit sich hinschleppen lassen, was seine Interessen nur fördert; es mag sich England nähern, ja am sehnlichsten wünschen, gegen den mit Frankreich verbündeten Pascha von Aegypten in der Türkei zu Felde ziehen zu können – darum aber wird es seine Zwecke nicht aus den Augen verlieren, seine Plane nicht fahren lassen und die Besitzergreifung von Konstantinopel nicht sein letztes Ziel seyn. Als Seitenbild, und – da der politische Standpunkt ein durchaus anderer ist – als Gegenbild zu obiger Schilderung des russischen Polens lassen wir die Schilderung folgen, die der Apologet der russischen Politik, der Verfasser „der europäischen Pentarchie“ über den gegenwärtigen Zustand von Polen gibt: „Die letzte polnische Theilung von 1795 hatte die alte polnische Wahlrepublik politisch aufgelöst. Es verschwand der polnische Staat aus dem Staatensystem von Europa. Allein über den Grabhügeln rauschte die Geschichte der Vorzeit, und in dem Unterrichte der Wiegenlieder spann sich der Geisterfaden weiter fort. Doch die elegischen Eindrücke wurden immer flüchtiger, die Ueberlegung ward ruhiger, die Beurtheilung der Vergangenheit schärfer und richtiger. Da erschien Napoleon auf dem Niemen, und quittirte die polnische Legion mit einem Herzogthum Warschau. Das Herzogthum Warschau war nicht die Republik Polen. Die Polen fühlten diesen Unterschied mit Gram. Nichtsdestoweniger freuten sie sich den Schupan und Contusch wieder anlegen zu dürfen und, so weit sich es thun ließ, die alte polnische Wirthschaft wieder herzustellen. Das Entzücken war groß, aber kurz. Es erfror in Rußland. Das Herzogthum Warschau hatte aufgehört zu existiren. Es war eine Eroberung von Rußland. „1815 wurde das Czarthum Polen von dem Wiener Congreß geschaffen, von Europa anerkannt und garantirt. Rußland trat einzelne Theile seiner Eroberung an Oesterreich und Preußen ab. „Auch das neue Czarthum Polen war, so wenig wie das Herzogthum Warschau, eine modificirte Restauration der alten Republik Polen. Doch der Geist der letzteren brannte durch die Constitution von 1815 wieder auf. Die Verfassung von 1807 hatte die polnische Lust und Leidenschaft, sich sprechen zu hören, so lange man wünscht, in die Comités des Reichstags verwiesen, und ihren Einfluß dadurch klug zersplittert und geschwächt. Dagegen durfte sich jener angeborne Hang der Polen nach der Constitution von 1815, wie in alten Zeiten im Reichstag, selbst Genugthuung verschaffen. So wurde sein Einfluß concentrirt und gestärkt. Die Folgen konnten nicht fehlen. Aus den Reibungen und Erhitzungen des Reichstags entstanden die geheimen Gesellschaften, die Verschwörungen und Revolutionsversuche. Und die Frage, welche nie hätte zwischen zwei Freunden aufgeworfen werden dürfen, ob überhaupt ein Czarthum oder eine Republik Polen bestehen solle, diese heillose Frage ging in das Volksleben über. „Ein grauer und trauriger Herbsttag war der 29 November 1830. Unter dem Schutze seiner kalten Abendnebel brach die vielfach verkündete Revolution an. Einige Tage später zitterte Warschau vor seiner wohlfeil errungenen Heldengröße. Es gedachte des eisernen Suwarow und Praga's. Die Kinder hungerten, die Mütter weinten, die Väter mußten illuminiren. Es gab eine besoffene Straßenfreude, Feuerröthe, kein Morgenroth. „Neun Monate später wurde auf dem kleinen Kirchhofe von Wola, unter den Linden vergessener Gräber, Altpolens letzte Lebenskraft vernichtet. Die späteren Kämpfe waren nur die Todeszuckungen der gleißnerischen Schlange, welche die Warschauer Kinder mit der trügerischen Verheißung verführte: ihr werdet mit nichten des Todes sterben. Warschau sah zum andernmale vor seinen Thoren ein reichbestelltes Todtenfeld, ein Todesfeld falscher Hoffnungen und Schwüre, eiteln Gelüstes an Abenteuern. War solches Ende Zufall, Ungeschick, ein grasser Zahlenirrthum in der Pluralität eines kämpfenden Theils? Viele vermeinten es. Aber ein Heros alttestamentarischer Geschichte hatte den Glauben: „Gott könne ebensowohl durch Wenige Sieg geben, als durch Viele; denn der Sieg komme vom Himmel und werde nicht durch große

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_015_18400115
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_015_18400115/11
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 15. Augsburg, 15. Januar 1840, S. 0115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_015_18400115/11>, abgerufen am 22.11.2024.