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Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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gehen, tröstete sich Medard, wenn er überlegte, wie er diese Trennung ertragen werde. An einem Mittag, an dem die Nebel nicht von Berg und Thal wichen, saß Medard am Waldrande, an dem ein schmaler Holzweg sich hinzog, und vor ihm, den jähen Berghang hinab, weideten die Schafe; Munde stand weiter unten, just in der Biegung des Weges, in einer Brombeerhecke und erlabte sich an der saftigen Frucht. Vom Walde oben vernahm man Hacken und Knacken der Holzhauer, und das Schellengeläute war so summend, daß Medard fast in Schlaf versinken wollte. Da hörte er über sich etwas poltern, er schaute rückwärts -- hat sich ein Felsen aus seiner uralten Ruhe losgelös't? Da kommt es den Weg herab, ein in Schuß gerathener lediger zweirädriger Karren, Medard ist ganz erstarrt, er schaut auf und schaut hinab und ruft schnell: Munde, geh bei Seite, Munde, um Gottes Willen lug auf! Aber das Kind hörte nicht, und der Wagen ist schon so nahe; kommt er bei Munde an, stürzt er die Halde hinab und zerschmettert das Kind, es ist kein Stein am Wege, nichts, womit man einhalten kann. All dies Schauen, Denken, Rufen, war das Werk eines Augenblickes, schon ist das zermalmende Rad nahe, Medard kann sich retten, aber das Kind! Schnell streckt Medard halb träumend, halb wissend, was er thut, den rechten Fuß weit vor, es knackt, der Karren steht still . . . Die Leute, denen der Karren entronnen war, kamen mit Geschrei hinterdrein, sie fanden Medard mit zerknicktem Fuße, leblos, sie warfen schnell das Holz ab und luden Medard auf den Karren und führten ihn nach dem Dorfe, wo er Monate lang eingeschindelt lag. Um so lustiger aber sprang Munde um ihn her, und das erquickte den Leidenden mehr, als all die guten Tränkchen, die der alte Schäfer bereitete, und als die sorgsame Abwartung der Meistersfrau. Medard war nicht so großmüthig, seinem Bruder nie zu sagen, was für ein Opfer er ihm gebracht. Das Kind verstand dessen Bedeutung noch nicht, und als er in spätern Jahren es erkannte, war die That eine längst

gehen, tröstete sich Medard, wenn er überlegte, wie er diese Trennung ertragen werde. An einem Mittag, an dem die Nebel nicht von Berg und Thal wichen, saß Medard am Waldrande, an dem ein schmaler Holzweg sich hinzog, und vor ihm, den jähen Berghang hinab, weideten die Schafe; Munde stand weiter unten, just in der Biegung des Weges, in einer Brombeerhecke und erlabte sich an der saftigen Frucht. Vom Walde oben vernahm man Hacken und Knacken der Holzhauer, und das Schellengeläute war so summend, daß Medard fast in Schlaf versinken wollte. Da hörte er über sich etwas poltern, er schaute rückwärts — hat sich ein Felsen aus seiner uralten Ruhe losgelös't? Da kommt es den Weg herab, ein in Schuß gerathener lediger zweirädriger Karren, Medard ist ganz erstarrt, er schaut auf und schaut hinab und ruft schnell: Munde, geh bei Seite, Munde, um Gottes Willen lug auf! Aber das Kind hörte nicht, und der Wagen ist schon so nahe; kommt er bei Munde an, stürzt er die Halde hinab und zerschmettert das Kind, es ist kein Stein am Wege, nichts, womit man einhalten kann. All dies Schauen, Denken, Rufen, war das Werk eines Augenblickes, schon ist das zermalmende Rad nahe, Medard kann sich retten, aber das Kind! Schnell streckt Medard halb träumend, halb wissend, was er thut, den rechten Fuß weit vor, es knackt, der Karren steht still . . . Die Leute, denen der Karren entronnen war, kamen mit Geschrei hinterdrein, sie fanden Medard mit zerknicktem Fuße, leblos, sie warfen schnell das Holz ab und luden Medard auf den Karren und führten ihn nach dem Dorfe, wo er Monate lang eingeschindelt lag. Um so lustiger aber sprang Munde um ihn her, und das erquickte den Leidenden mehr, als all die guten Tränkchen, die der alte Schäfer bereitete, und als die sorgsame Abwartung der Meistersfrau. Medard war nicht so großmüthig, seinem Bruder nie zu sagen, was für ein Opfer er ihm gebracht. Das Kind verstand dessen Bedeutung noch nicht, und als er in spätern Jahren es erkannte, war die That eine längst

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[0031] gehen, tröstete sich Medard, wenn er überlegte, wie er diese Trennung ertragen werde. An einem Mittag, an dem die Nebel nicht von Berg und Thal wichen, saß Medard am Waldrande, an dem ein schmaler Holzweg sich hinzog, und vor ihm, den jähen Berghang hinab, weideten die Schafe; Munde stand weiter unten, just in der Biegung des Weges, in einer Brombeerhecke und erlabte sich an der saftigen Frucht. Vom Walde oben vernahm man Hacken und Knacken der Holzhauer, und das Schellengeläute war so summend, daß Medard fast in Schlaf versinken wollte. Da hörte er über sich etwas poltern, er schaute rückwärts — hat sich ein Felsen aus seiner uralten Ruhe losgelös't? Da kommt es den Weg herab, ein in Schuß gerathener lediger zweirädriger Karren, Medard ist ganz erstarrt, er schaut auf und schaut hinab und ruft schnell: Munde, geh bei Seite, Munde, um Gottes Willen lug auf! Aber das Kind hörte nicht, und der Wagen ist schon so nahe; kommt er bei Munde an, stürzt er die Halde hinab und zerschmettert das Kind, es ist kein Stein am Wege, nichts, womit man einhalten kann. All dies Schauen, Denken, Rufen, war das Werk eines Augenblickes, schon ist das zermalmende Rad nahe, Medard kann sich retten, aber das Kind! Schnell streckt Medard halb träumend, halb wissend, was er thut, den rechten Fuß weit vor, es knackt, der Karren steht still . . . Die Leute, denen der Karren entronnen war, kamen mit Geschrei hinterdrein, sie fanden Medard mit zerknicktem Fuße, leblos, sie warfen schnell das Holz ab und luden Medard auf den Karren und führten ihn nach dem Dorfe, wo er Monate lang eingeschindelt lag. Um so lustiger aber sprang Munde um ihn her, und das erquickte den Leidenden mehr, als all die guten Tränkchen, die der alte Schäfer bereitete, und als die sorgsame Abwartung der Meistersfrau. Medard war nicht so großmüthig, seinem Bruder nie zu sagen, was für ein Opfer er ihm gebracht. Das Kind verstand dessen Bedeutung noch nicht, und als er in spätern Jahren es erkannte, war die That eine längst

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:04:01Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T13:04:01Z)

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Zitationshilfe: Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/auerbach_diethelm_1910/31>, abgerufen am 23.11.2024.