Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 1. Grünberg u. a., 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

da sah ich jed Gesicht an wie ein Räthsel, und hätt
auch manches gern errathen oder ich habs errathen,
denn ich bin gar scharfsinnig. Der Mensch drückt wirk¬
lich sein Sein aus, wenn mans nur recht zusammen¬
nimmt und nicht zersteut ist und nichts von der eignen
Einbildung dazuthut, aber man ist immer blind wenn
man dem Andern gefallen will und will was vor ihm
scheinen, das hab ich an mir gemerkt. Wenn man je¬
mand lieb hat, da sollt man sich lieber recht fassen, um
ihn zu verstehen, und ganz sich selbst vergessen und ihn
nur ansehen, ich glaub, man kann den ganz verborgnen
Menschen aus seinem äußern Wesen heraus erkennen.
Das hab ich so plötzlich erkennt, wie ich Menschen sah,
die ich nicht verstand, was sie mir sollten, und nun
sind mir die meisten, daß ich sie nicht lang überlegen
mag, weil ich nichts merk, was mir gefällt oder mit
mir stimmt, aber mit Dir hab ich wie eine Musik em¬
pfunden, so daheim war ich gleich; ich war wie ein Kind,
das noch ungeboren aus seinem Heimathland entfrem¬
det, in einem fremden Land geboren war, und nun
auf einmal von weit her übers Meer wieder herüber
getragen von einem fremden Vogel, wo alles neu ist,
aber viel näher verwandt und heimlicher, und so ist
mirs immer seit dem gewesen, wenn ich in Dein Stüb¬

da ſah ich jed Geſicht an wie ein Räthſel, und hätt
auch manches gern errathen oder ich habs errathen,
denn ich bin gar ſcharfſinnig. Der Menſch drückt wirk¬
lich ſein Sein aus, wenn mans nur recht zuſammen¬
nimmt und nicht zerſteut iſt und nichts von der eignen
Einbildung dazuthut, aber man iſt immer blind wenn
man dem Andern gefallen will und will was vor ihm
ſcheinen, das hab ich an mir gemerkt. Wenn man je¬
mand lieb hat, da ſollt man ſich lieber recht faſſen, um
ihn zu verſtehen, und ganz ſich ſelbſt vergeſſen und ihn
nur anſehen, ich glaub, man kann den ganz verborgnen
Menſchen aus ſeinem äußern Weſen heraus erkennen.
Das hab ich ſo plötzlich erkennt, wie ich Menſchen ſah,
die ich nicht verſtand, was ſie mir ſollten, und nun
ſind mir die meiſten, daß ich ſie nicht lang überlegen
mag, weil ich nichts merk, was mir gefällt oder mit
mir ſtimmt, aber mit Dir hab ich wie eine Muſik em¬
pfunden, ſo daheim war ich gleich; ich war wie ein Kind,
das noch ungeboren aus ſeinem Heimathland entfrem¬
det, in einem fremden Land geboren war, und nun
auf einmal von weit her übers Meer wieder herüber
getragen von einem fremden Vogel, wo alles neu iſt,
aber viel näher verwandt und heimlicher, und ſo iſt
mirs immer ſeit dem geweſen, wenn ich in Dein Stüb¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0157" n="141"/>
da &#x017F;ah ich jed Ge&#x017F;icht an wie ein Räth&#x017F;el, und hätt<lb/>
auch manches gern errathen oder ich habs errathen,<lb/>
denn ich bin gar &#x017F;charf&#x017F;innig. Der Men&#x017F;ch drückt wirk¬<lb/>
lich &#x017F;ein Sein aus, wenn mans nur recht zu&#x017F;ammen¬<lb/>
nimmt und nicht zer&#x017F;teut i&#x017F;t und nichts von der eignen<lb/>
Einbildung dazuthut, aber man i&#x017F;t immer blind wenn<lb/>
man dem Andern gefallen will und will was vor ihm<lb/>
&#x017F;cheinen, das hab ich an mir gemerkt. Wenn man je¬<lb/>
mand lieb hat, da &#x017F;ollt man &#x017F;ich lieber recht fa&#x017F;&#x017F;en, um<lb/>
ihn zu ver&#x017F;tehen, und ganz &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t verge&#x017F;&#x017F;en und ihn<lb/>
nur an&#x017F;ehen, ich glaub, man kann den ganz verborgnen<lb/>
Men&#x017F;chen aus &#x017F;einem äußern We&#x017F;en heraus erkennen.<lb/>
Das hab ich &#x017F;o plötzlich erkennt, wie ich Men&#x017F;chen &#x017F;ah,<lb/>
die ich nicht ver&#x017F;tand, was &#x017F;ie mir &#x017F;ollten, und nun<lb/>
&#x017F;ind mir die mei&#x017F;ten, daß ich &#x017F;ie nicht lang überlegen<lb/>
mag, weil ich nichts merk, was mir gefällt oder mit<lb/>
mir &#x017F;timmt, aber mit Dir hab ich wie eine Mu&#x017F;ik em¬<lb/>
pfunden, &#x017F;o daheim war ich gleich; ich war wie ein Kind,<lb/>
das noch ungeboren aus &#x017F;einem Heimathland entfrem¬<lb/>
det, in einem fremden Land geboren war, und nun<lb/>
auf einmal von weit her übers Meer wieder herüber<lb/>
getragen von einem fremden Vogel, wo alles neu i&#x017F;t,<lb/>
aber viel näher verwandt und heimlicher, und &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
mirs immer &#x017F;eit dem gewe&#x017F;en, wenn ich in Dein Stüb¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0157] da ſah ich jed Geſicht an wie ein Räthſel, und hätt auch manches gern errathen oder ich habs errathen, denn ich bin gar ſcharfſinnig. Der Menſch drückt wirk¬ lich ſein Sein aus, wenn mans nur recht zuſammen¬ nimmt und nicht zerſteut iſt und nichts von der eignen Einbildung dazuthut, aber man iſt immer blind wenn man dem Andern gefallen will und will was vor ihm ſcheinen, das hab ich an mir gemerkt. Wenn man je¬ mand lieb hat, da ſollt man ſich lieber recht faſſen, um ihn zu verſtehen, und ganz ſich ſelbſt vergeſſen und ihn nur anſehen, ich glaub, man kann den ganz verborgnen Menſchen aus ſeinem äußern Weſen heraus erkennen. Das hab ich ſo plötzlich erkennt, wie ich Menſchen ſah, die ich nicht verſtand, was ſie mir ſollten, und nun ſind mir die meiſten, daß ich ſie nicht lang überlegen mag, weil ich nichts merk, was mir gefällt oder mit mir ſtimmt, aber mit Dir hab ich wie eine Muſik em¬ pfunden, ſo daheim war ich gleich; ich war wie ein Kind, das noch ungeboren aus ſeinem Heimathland entfrem¬ det, in einem fremden Land geboren war, und nun auf einmal von weit her übers Meer wieder herüber getragen von einem fremden Vogel, wo alles neu iſt, aber viel näher verwandt und heimlicher, und ſo iſt mirs immer ſeit dem geweſen, wenn ich in Dein Stüb¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode01_1840/157
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 1. Grünberg u. a., 1840, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode01_1840/157>, abgerufen am 18.05.2024.