die Unzuverlässigkeit, über die Zufälle des äußeren, dar- aus entstehe die edle Harmonie, das Wesen, was so wohl über Schönheit hinaus ist, als der Häßlichkeit trotzt. So bist Du mir erschienen, die geistige Erschei- nung der Unsterblichkeit, die der irdischen vergänglichen Meister wird. Obschon nun Dürrer's Antlitz ein ganz anders ist, so hat mich doch die Sprache seines Charak- ters mächtig an die Deinige erinnert, ich habe mir's ko- pieren lassen. -- Ich hab das Bild den ganzen Win- ter über auf mein Zimmer gehabt und war nicht al- lein. Ich hab mich viel in Gedanken an diesen Mann gewendet, hab Trost und Leid von ihm empfunden, bald war's mir traurig zu fühlen, wie manches, worauf man doch in sich stolz ist, zu Grunde geht vor einem solchen, der recht wollte was er wollte; bald flüchtete ich mich zu diesem Bild als zu einem Hausgott. Wenn mich die Lebenden langweilten, und daß ich Dir's recht sage: mein Herz war in manchen Stunden so tief von dem reinen Scharfblick gerührt, der aus seinem edlen Augen dringt, daß er mir mehr im Umgang war als ein Le- bender. Dieses Bild nun hatte ich eigentlich für Dich kopieren lassen, ich wollte Dir's als einen Sachwalter meiner Herzensangelegenheiten senden, und so verging Woche um Woche, immer mit dem festen Entschluß es
4**
die Unzuverläſſigkeit, über die Zufälle des äußeren, dar- aus entſtehe die edle Harmonie, das Weſen, was ſo wohl über Schönheit hinaus iſt, als der Häßlichkeit trotzt. So biſt Du mir erſchienen, die geiſtige Erſchei- nung der Unſterblichkeit, die der irdiſchen vergänglichen Meiſter wird. Obſchon nun Dürrer's Antlitz ein ganz anders iſt, ſo hat mich doch die Sprache ſeines Charak- ters mächtig an die Deinige erinnert, ich habe mir's ko- pieren laſſen. — Ich hab das Bild den ganzen Win- ter über auf mein Zimmer gehabt und war nicht al- lein. Ich hab mich viel in Gedanken an dieſen Mann gewendet, hab Troſt und Leid von ihm empfunden, bald war's mir traurig zu fühlen, wie manches, worauf man doch in ſich ſtolz iſt, zu Grunde geht vor einem ſolchen, der recht wollte was er wollte; bald flüchtete ich mich zu dieſem Bild als zu einem Hausgott. Wenn mich die Lebenden langweilten, und daß ich Dir's recht ſage: mein Herz war in manchen Stunden ſo tief von dem reinen Scharfblick gerührt, der aus ſeinem edlen Augen dringt, daß er mir mehr im Umgang war als ein Le- bender. Dieſes Bild nun hatte ich eigentlich für Dich kopieren laſſen, ich wollte Dir's als einen Sachwalter meiner Herzensangelegenheiten ſenden, und ſo verging Woche um Woche, immer mit dem feſten Entſchluß es
4**
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0091"n="81"/>
die Unzuverläſſigkeit, über die Zufälle des äußeren, dar-<lb/>
aus entſtehe die edle Harmonie, das Weſen, was ſo<lb/>
wohl über Schönheit hinaus iſt, als der Häßlichkeit<lb/>
trotzt. So biſt Du mir erſchienen, die geiſtige Erſchei-<lb/>
nung der Unſterblichkeit, die der irdiſchen vergänglichen<lb/>
Meiſter wird. Obſchon nun Dürrer's Antlitz ein ganz<lb/>
anders iſt, ſo hat mich doch die Sprache ſeines Charak-<lb/>
ters mächtig an die Deinige erinnert, ich habe mir's ko-<lb/>
pieren laſſen. — Ich hab das Bild den ganzen Win-<lb/>
ter über auf mein Zimmer gehabt <hirendition="#g">und war nicht al-<lb/>
lein</hi>. Ich hab mich viel in Gedanken an dieſen Mann<lb/>
gewendet, hab Troſt und Leid von ihm empfunden, bald<lb/>
war's mir traurig zu fühlen, wie manches, worauf man<lb/>
doch in ſich ſtolz iſt, zu Grunde geht vor einem ſolchen,<lb/>
der recht wollte was er wollte; bald flüchtete ich mich<lb/>
zu dieſem Bild als zu einem Hausgott. Wenn mich die<lb/>
Lebenden langweilten, und daß ich Dir's recht ſage:<lb/>
mein Herz war in manchen Stunden ſo tief von dem<lb/>
reinen Scharfblick gerührt, der aus ſeinem edlen Augen<lb/>
dringt, daß er mir mehr im Umgang war als ein Le-<lb/>
bender. Dieſes Bild nun hatte ich eigentlich für Dich<lb/>
kopieren laſſen, ich wollte Dir's als einen Sachwalter<lb/>
meiner Herzensangelegenheiten ſenden, und ſo verging<lb/>
Woche um Woche, immer mit dem feſten Entſchluß es<lb/><fwplace="bottom"type="sig">4**</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[81/0091]
die Unzuverläſſigkeit, über die Zufälle des äußeren, dar-
aus entſtehe die edle Harmonie, das Weſen, was ſo
wohl über Schönheit hinaus iſt, als der Häßlichkeit
trotzt. So biſt Du mir erſchienen, die geiſtige Erſchei-
nung der Unſterblichkeit, die der irdiſchen vergänglichen
Meiſter wird. Obſchon nun Dürrer's Antlitz ein ganz
anders iſt, ſo hat mich doch die Sprache ſeines Charak-
ters mächtig an die Deinige erinnert, ich habe mir's ko-
pieren laſſen. — Ich hab das Bild den ganzen Win-
ter über auf mein Zimmer gehabt und war nicht al-
lein. Ich hab mich viel in Gedanken an dieſen Mann
gewendet, hab Troſt und Leid von ihm empfunden, bald
war's mir traurig zu fühlen, wie manches, worauf man
doch in ſich ſtolz iſt, zu Grunde geht vor einem ſolchen,
der recht wollte was er wollte; bald flüchtete ich mich
zu dieſem Bild als zu einem Hausgott. Wenn mich die
Lebenden langweilten, und daß ich Dir's recht ſage:
mein Herz war in manchen Stunden ſo tief von dem
reinen Scharfblick gerührt, der aus ſeinem edlen Augen
dringt, daß er mir mehr im Umgang war als ein Le-
bender. Dieſes Bild nun hatte ich eigentlich für Dich
kopieren laſſen, ich wollte Dir's als einen Sachwalter
meiner Herzensangelegenheiten ſenden, und ſo verging
Woche um Woche, immer mit dem feſten Entſchluß es
4**
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/91>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.