Jugend gewagt sich das Ziel einer anderthalb Stund- weiten Reise zu setzen, der Ort unserer Wallfarth heißt Harlachingen, auf französisch Arlequin. Ein heißer Nachmittag, recht um melancholische Blicke in Brand zu stecken.
Wir verlassen den grünen Teppig, schreiten über einen schmalen Balken auf die andre Seite des Ufers, wandern zwischen Weiden, Mühlen, Bächen, weiter; -- wie nimmt sich da ein Bauer in rother Jacke gut aus, gelehnt an den hohen Stamm des edlen populus alba, dessen feine Aeste mit kaum entsproßnen Blättern einen sanften grünen Schleier, gleichsam ein Frühlingsnetz niederspinnen, in welchem sich die tausend Käfer und sonstige Bestien fangen, scherzen und ganz lieblich haus- halten. Jetzt! warum nicht? -- da unter dem Baum ist genugsam Platz seinen Gedanken Audienz zu geben, der launige Naturliebhaber läßt sich da nieder, das Dolce farniente summt ihm ein Wiegenliedchen in die Ohren, die Augenlieder sinken, Rumohr schläft. Natur hält Wache, lispelt, flüstert, lallt, zwitschert. -- Das thut ihm so gut; träumend senkt er sein Haupt auf die Brust; jetzt möcht ich Dich fragen, Rumohr was ich nie fragen mag wenn Du wach bist. Wie kommt's, daß Du so ein großes Erbarmen hast und freundlich bist mit
Jugend gewagt ſich das Ziel einer anderthalb Stund- weiten Reiſe zu ſetzen, der Ort unſerer Wallfarth heißt Harlachingen, auf franzöſiſch Arlequin. Ein heißer Nachmittag, recht um melancholiſche Blicke in Brand zu ſtecken.
Wir verlaſſen den grünen Teppig, ſchreiten über einen ſchmalen Balken auf die andre Seite des Ufers, wandern zwiſchen Weiden, Mühlen, Bächen, weiter; — wie nimmt ſich da ein Bauer in rother Jacke gut aus, gelehnt an den hohen Stamm des edlen populus alba, deſſen feine Aeſte mit kaum entſproßnen Blättern einen ſanften grünen Schleier, gleichſam ein Frühlingsnetz niederſpinnen, in welchem ſich die tauſend Käfer und ſonſtige Beſtien fangen, ſcherzen und ganz lieblich haus- halten. Jetzt! warum nicht? — da unter dem Baum iſt genugſam Platz ſeinen Gedanken Audienz zu geben, der launige Naturliebhaber läßt ſich da nieder, das Dolce farniente ſummt ihm ein Wiegenliedchen in die Ohren, die Augenlieder ſinken, Rumohr ſchläft. Natur hält Wache, liſpelt, flüſtert, lallt, zwitſchert. — Das thut ihm ſo gut; träumend ſenkt er ſein Haupt auf die Bruſt; jetzt möcht ich Dich fragen, Rumohr was ich nie fragen mag wenn Du wach biſt. Wie kommt's, daß Du ſo ein großes Erbarmen haſt und freundlich biſt mit
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Jugend gewagt ſich das Ziel einer anderthalb Stund-
weiten Reiſe zu ſetzen, der Ort unſerer Wallfarth heißt
Harlachingen, auf franzöſiſch Arlequin. Ein heißer
Nachmittag, recht um melancholiſche Blicke in Brand
zu ſtecken.
Wir verlaſſen den grünen Teppig, ſchreiten über
einen ſchmalen Balken auf die andre Seite des Ufers,
wandern zwiſchen Weiden, Mühlen, Bächen, weiter; —
wie nimmt ſich da ein Bauer in rother Jacke gut aus,
gelehnt an den hohen Stamm des edlen populus alba,
deſſen feine Aeſte mit kaum entſproßnen Blättern einen
ſanften grünen Schleier, gleichſam ein Frühlingsnetz
niederſpinnen, in welchem ſich die tauſend Käfer und
ſonſtige Beſtien fangen, ſcherzen und ganz lieblich haus-
halten. Jetzt! warum nicht? — da unter dem Baum
iſt genugſam Platz ſeinen Gedanken Audienz zu geben,
der launige Naturliebhaber läßt ſich da nieder, das
Dolce farniente ſummt ihm ein Wiegenliedchen in die
Ohren, die Augenlieder ſinken, Rumohr ſchläft. Natur
hält Wache, liſpelt, flüſtert, lallt, zwitſchert. — Das
thut ihm ſo gut; träumend ſenkt er ſein Haupt auf die
Bruſt; jetzt möcht ich Dich fragen, Rumohr was ich nie
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/71>, abgerufen am 24.11.2024.
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