Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

habe. O thue dem nicht also, sei nicht meiner Begeist-
rung früher erstorben, lasse das Geheimniß der Liebe
noch einmal zwischen uns erblühen; ein ewiger Trieb,
ist außer den Grenzen der irdischen Zeit, und so ist
meine Empfindung zu Dir, ein Urquell der Jugend, der
da erbrauset in seiner Kraft, und sich fortreißt mit er-
neuten Lebensgluthen bis an das Ende.

Und so ist es Mitternacht geworden bei dem Schrei-
ben und Bedenken dieser letzten Zeilen, sie nennen es die
Sylvesternacht in der die Menschen einen Augenblick das
Fortrücken der Zeit wahrnehmen. Nun bei dieser Er-
schütterung, die dem Horn des Nach[t]wächters ein grü-
ßendes Zeichen entlockt, beschwöre ich Dich: denke von
diesen geschriebenen Blättern, daß sie wie alle Wahr-
heit wiederkehren aus vergangner Zeit. Es liegt hier
nicht ein bloßes Erinnern sondern eine innige Verbin-
dung mit jener Zeit zum Grund. Wie der Zauberstab
der sich aus dem Strahl liebender Augen bildet und
den Geliebten aus der Ferne berührt, so bricht sich der
Lichtstrahl jener frühen Zeit an meiner Erinnerung und
wird zum Zauberstab an meinem Geist. Eine Empfin-
dung unmittelbarer Gewißheit, meines eigensten wahr-
haftesten Lebens Ansicht, ist für mich diese Berührung
aus der Vergangenheit; und während Schicksal und

habe. O thue dem nicht alſo, ſei nicht meiner Begeiſt-
rung früher erſtorben, laſſe das Geheimniß der Liebe
noch einmal zwiſchen uns erblühen; ein ewiger Trieb,
iſt außer den Grenzen der irdiſchen Zeit, und ſo iſt
meine Empfindung zu Dir, ein Urquell der Jugend, der
da erbrauſet in ſeiner Kraft, und ſich fortreißt mit er-
neuten Lebensgluthen bis an das Ende.

Und ſo iſt es Mitternacht geworden bei dem Schrei-
ben und Bedenken dieſer letzten Zeilen, ſie nennen es die
Sylveſternacht in der die Menſchen einen Augenblick das
Fortrücken der Zeit wahrnehmen. Nun bei dieſer Er-
ſchütterung, die dem Horn des Nach[t]wächters ein grü-
ßendes Zeichen entlockt, beſchwöre ich Dich: denke von
dieſen geſchriebenen Blättern, daß ſie wie alle Wahr-
heit wiederkehren aus vergangner Zeit. Es liegt hier
nicht ein bloßes Erinnern ſondern eine innige Verbin-
dung mit jener Zeit zum Grund. Wie der Zauberſtab
der ſich aus dem Strahl liebender Augen bildet und
den Geliebten aus der Ferne berührt, ſo bricht ſich der
Lichtſtrahl jener frühen Zeit an meiner Erinnerung und
wird zum Zauberſtab an meinem Geiſt. Eine Empfin-
dung unmittelbarer Gewißheit, meines eigenſten wahr-
hafteſten Lebens Anſicht, iſt für mich dieſe Berührung
aus der Vergangenheit; und während Schickſal und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0326" n="316"/>
habe. O thue dem nicht al&#x017F;o, &#x017F;ei nicht meiner Begei&#x017F;t-<lb/>
rung früher er&#x017F;torben, la&#x017F;&#x017F;e das Geheimniß der Liebe<lb/>
noch einmal zwi&#x017F;chen uns erblühen; ein ewiger Trieb,<lb/>
i&#x017F;t außer den Grenzen der irdi&#x017F;chen Zeit, und &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
meine Empfindung zu Dir, ein Urquell der Jugend, der<lb/>
da erbrau&#x017F;et in &#x017F;einer Kraft, und &#x017F;ich fortreißt mit er-<lb/>
neuten Lebensgluthen bis an das Ende.</p><lb/>
          <p>Und &#x017F;o i&#x017F;t es Mitternacht geworden bei dem Schrei-<lb/>
ben und Bedenken die&#x017F;er letzten Zeilen, &#x017F;ie nennen es die<lb/>
Sylve&#x017F;ternacht in der die Men&#x017F;chen einen Augenblick das<lb/>
Fortrücken der Zeit wahrnehmen. Nun bei die&#x017F;er Er-<lb/>
&#x017F;chütterung, die dem Horn des Nach<supplied>t</supplied>wächters ein grü-<lb/>
ßendes Zeichen entlockt, be&#x017F;chwöre ich Dich: denke von<lb/>
die&#x017F;en ge&#x017F;chriebenen Blättern, daß &#x017F;ie wie alle Wahr-<lb/>
heit wiederkehren aus vergangner Zeit. Es liegt hier<lb/>
nicht ein bloßes Erinnern &#x017F;ondern eine innige Verbin-<lb/>
dung mit jener Zeit zum Grund. Wie der Zauber&#x017F;tab<lb/>
der &#x017F;ich aus dem Strahl liebender Augen bildet und<lb/>
den Geliebten aus der Ferne berührt, &#x017F;o bricht &#x017F;ich der<lb/>
Licht&#x017F;trahl jener frühen Zeit an meiner Erinnerung und<lb/>
wird zum Zauber&#x017F;tab an meinem Gei&#x017F;t. Eine Empfin-<lb/>
dung unmittelbarer Gewißheit, meines eigen&#x017F;ten wahr-<lb/>
hafte&#x017F;ten Lebens An&#x017F;icht, i&#x017F;t für mich die&#x017F;e Berührung<lb/>
aus der Vergangenheit; und während Schick&#x017F;al und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0326] habe. O thue dem nicht alſo, ſei nicht meiner Begeiſt- rung früher erſtorben, laſſe das Geheimniß der Liebe noch einmal zwiſchen uns erblühen; ein ewiger Trieb, iſt außer den Grenzen der irdiſchen Zeit, und ſo iſt meine Empfindung zu Dir, ein Urquell der Jugend, der da erbrauſet in ſeiner Kraft, und ſich fortreißt mit er- neuten Lebensgluthen bis an das Ende. Und ſo iſt es Mitternacht geworden bei dem Schrei- ben und Bedenken dieſer letzten Zeilen, ſie nennen es die Sylveſternacht in der die Menſchen einen Augenblick das Fortrücken der Zeit wahrnehmen. Nun bei dieſer Er- ſchütterung, die dem Horn des Nachtwächters ein grü- ßendes Zeichen entlockt, beſchwöre ich Dich: denke von dieſen geſchriebenen Blättern, daß ſie wie alle Wahr- heit wiederkehren aus vergangner Zeit. Es liegt hier nicht ein bloßes Erinnern ſondern eine innige Verbin- dung mit jener Zeit zum Grund. Wie der Zauberſtab der ſich aus dem Strahl liebender Augen bildet und den Geliebten aus der Ferne berührt, ſo bricht ſich der Lichtſtrahl jener frühen Zeit an meiner Erinnerung und wird zum Zauberſtab an meinem Geiſt. Eine Empfin- dung unmittelbarer Gewißheit, meines eigenſten wahr- hafteſten Lebens Anſicht, iſt für mich dieſe Berührung aus der Vergangenheit; und während Schickſal und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/326
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/326>, abgerufen am 17.05.2024.