fenlosen himmelhohen Leiter hinaufzuklimmen; ich ver- suchte es, gleitete aber wieder herunter, nachdem ich eine Strecke hinaufgekommen war; in der Nacht, nachdem ich schon eine Weile im Bett gelegen hatte und Me- line schlief, ließ es mir keine Ruhe; ich warf ein Überkleid um, stieg zum Fenster hinaus, und ging an dem alten Marburger Schloß vorbei, da guckte der Kurfürst Philipp mit der Elisabeth lachend zum Fenster heraus; ich hatte diese Steingrupp' die beide Arm in Arm sich weit aus dem Fenster lehnen, als wollten sie ihre Lande übersehen, schon oft bei Tage betrachtet, aber jetzt bei Nacht fürchtete ich mich so davor, daß ich in hohen Sprüngen davoneilte in den Thurm; dort ergriff ich eine Leiterstange und half mir, Gott weiß wie, daran hinauf; was mir bei Tage nicht möglich war, gelang mir bei Nacht in der schwe- benden Angst meines Herzens; wie ich beinah oben war, machte ich Halt; ich überlegte, wie die Spitzbuben wirk- lich oben sein könnten und da mich überfallen und von der Warte hinunterstürzen; da hing ich und wußte nicht hinunter oder herauf, aber die frische Luft, die ich witterte, lockte mich nach oben; -- wie war mir da, wie ich plötzlich durch Schnee und Mondlicht die weit verbreitete Natur überschaute, allein und gesichert, das
fenloſen himmelhohen Leiter hinaufzuklimmen; ich ver- ſuchte es, gleitete aber wieder herunter, nachdem ich eine Strecke hinaufgekommen war; in der Nacht, nachdem ich ſchon eine Weile im Bett gelegen hatte und Me- line ſchlief, ließ es mir keine Ruhe; ich warf ein Überkleid um, ſtieg zum Fenſter hinaus, und ging an dem alten Marburger Schloß vorbei, da guckte der Kurfürſt Philipp mit der Eliſabeth lachend zum Fenſter heraus; ich hatte dieſe Steingrupp' die beide Arm in Arm ſich weit aus dem Fenſter lehnen, als wollten ſie ihre Lande überſehen, ſchon oft bei Tage betrachtet, aber jetzt bei Nacht fürchtete ich mich ſo davor, daß ich in hohen Sprüngen davoneilte in den Thurm; dort ergriff ich eine Leiterſtange und half mir, Gott weiß wie, daran hinauf; was mir bei Tage nicht möglich war, gelang mir bei Nacht in der ſchwe- benden Angſt meines Herzens; wie ich beinah oben war, machte ich Halt; ich überlegte, wie die Spitzbuben wirk- lich oben ſein könnten und da mich überfallen und von der Warte hinunterſtürzen; da hing ich und wußte nicht hinunter oder herauf, aber die friſche Luft, die ich witterte, lockte mich nach oben; — wie war mir da, wie ich plötzlich durch Schnee und Mondlicht die weit verbreitete Natur überſchaute, allein und geſichert, das
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0132"n="100"/>
fenloſen himmelhohen Leiter hinaufzuklimmen; ich ver-<lb/>ſuchte es, gleitete aber wieder herunter, nachdem ich eine<lb/>
Strecke hinaufgekommen war; in der Nacht, nachdem<lb/>
ich ſchon eine Weile im Bett gelegen hatte und Me-<lb/>
line ſchlief, ließ es mir keine Ruhe; ich warf ein<lb/>
Überkleid um, ſtieg zum Fenſter hinaus, und ging<lb/>
an dem alten Marburger Schloß vorbei, da guckte<lb/>
der Kurfürſt Philipp mit der Eliſabeth lachend zum<lb/>
Fenſter heraus; ich hatte dieſe Steingrupp' die beide<lb/>
Arm in Arm ſich weit aus dem Fenſter lehnen, als<lb/>
wollten ſie ihre Lande überſehen, ſchon oft bei Tage<lb/>
betrachtet, aber jetzt bei Nacht fürchtete ich mich ſo<lb/>
davor, daß ich in hohen Sprüngen davoneilte in<lb/>
den Thurm; dort ergriff ich eine Leiterſtange und half<lb/>
mir, Gott weiß wie, daran hinauf; was mir bei Tage<lb/>
nicht möglich war, gelang mir bei Nacht in der ſchwe-<lb/>
benden Angſt meines Herzens; wie ich beinah oben war,<lb/>
machte ich Halt; ich überlegte, wie die Spitzbuben wirk-<lb/>
lich oben ſein könnten und da mich überfallen und von<lb/>
der Warte hinunterſtürzen; da hing ich und wußte<lb/>
nicht hinunter oder herauf, aber die friſche Luft, die ich<lb/>
witterte, lockte mich nach oben; — wie war mir da,<lb/>
wie ich plötzlich durch Schnee und Mondlicht die weit<lb/>
verbreitete Natur überſchaute, allein und geſichert, das<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[100/0132]
fenloſen himmelhohen Leiter hinaufzuklimmen; ich ver-
ſuchte es, gleitete aber wieder herunter, nachdem ich eine
Strecke hinaufgekommen war; in der Nacht, nachdem
ich ſchon eine Weile im Bett gelegen hatte und Me-
line ſchlief, ließ es mir keine Ruhe; ich warf ein
Überkleid um, ſtieg zum Fenſter hinaus, und ging
an dem alten Marburger Schloß vorbei, da guckte
der Kurfürſt Philipp mit der Eliſabeth lachend zum
Fenſter heraus; ich hatte dieſe Steingrupp' die beide
Arm in Arm ſich weit aus dem Fenſter lehnen, als
wollten ſie ihre Lande überſehen, ſchon oft bei Tage
betrachtet, aber jetzt bei Nacht fürchtete ich mich ſo
davor, daß ich in hohen Sprüngen davoneilte in
den Thurm; dort ergriff ich eine Leiterſtange und half
mir, Gott weiß wie, daran hinauf; was mir bei Tage
nicht möglich war, gelang mir bei Nacht in der ſchwe-
benden Angſt meines Herzens; wie ich beinah oben war,
machte ich Halt; ich überlegte, wie die Spitzbuben wirk-
lich oben ſein könnten und da mich überfallen und von
der Warte hinunterſtürzen; da hing ich und wußte
nicht hinunter oder herauf, aber die friſche Luft, die ich
witterte, lockte mich nach oben; — wie war mir da,
wie ich plötzlich durch Schnee und Mondlicht die weit
verbreitete Natur überſchaute, allein und geſichert, das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/132>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.