Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich
zu schreiben, ich bin nicht so empfindlich; aber ich bin
hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenstand
ab, um ihn ganz zu übersehen; -- gestern war ich da
unten, wo sie lag; die Weiden sind so gewachsen, daß
sie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir so dachte,
wie sie voll Verzweiflung hier herlief, und so rasch das
gewaltige Messer sich in die Brust stieß, und wie das
Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die so nah
mit ihr stand, jetzt an demselben Ort, gehe hin und her
an demselben Ufer, in süßem Überlegen meines Glückes,
und alles und das Geringste was mir begegnet, scheint
mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö-
ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord-
nen und den einfachen Faden unseres Freundelebens,
von dem ich doch nur alles anspinnen könnte, zu ver-
folgen. -- Nein, es kränkt mich und ich mache ihr
Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte,
daß sie die schöne Erde verlassen hat; sie hätt' noch
lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat
und mit dem Menschen verkehrt, und sich seiner und
seines Geschickes annimmt, und daß Lebensverheißungen
in den Lüften uns umwehen; ja, sie hat's bös' mit mir
gemacht, sie ist mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr

4*

Über die Günderode iſt mir am Rhein unmöglich
zu ſchreiben, ich bin nicht ſo empfindlich; aber ich bin
hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenſtand
ab, um ihn ganz zu überſehen; — geſtern war ich da
unten, wo ſie lag; die Weiden ſind ſo gewachſen, daß
ſie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir ſo dachte,
wie ſie voll Verzweiflung hier herlief, und ſo raſch das
gewaltige Meſſer ſich in die Bruſt ſtieß, und wie das
Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die ſo nah
mit ihr ſtand, jetzt an demſelben Ort, gehe hin und her
an demſelben Ufer, in ſüßem Überlegen meines Glückes,
und alles und das Geringſte was mir begegnet, ſcheint
mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö-
ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord-
nen und den einfachen Faden unſeres Freundelebens,
von dem ich doch nur alles anſpinnen könnte, zu ver-
folgen. — Nein, es kränkt mich und ich mache ihr
Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte,
daß ſie die ſchöne Erde verlaſſen hat; ſie hätt' noch
lernen müſſen, daß die Natur Geiſt und Seele hat
und mit dem Menſchen verkehrt, und ſich ſeiner und
ſeines Geſchickes annimmt, und daß Lebensverheißungen
in den Lüften uns umwehen; ja, ſie hat's böſ' mit mir
gemacht, ſie iſt mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr

4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0107" n="75"/>
          <p>Über die Günderode i&#x017F;t mir am Rhein unmöglich<lb/>
zu &#x017F;chreiben, ich bin nicht &#x017F;o empfindlich; aber ich bin<lb/>
hier am Platz nicht weit genug von dem Gegen&#x017F;tand<lb/>
ab, um ihn ganz zu über&#x017F;ehen; &#x2014; ge&#x017F;tern war ich da<lb/>
unten, wo &#x017F;ie lag; die Weiden &#x017F;ind &#x017F;o gewach&#x017F;en, daß<lb/>
&#x017F;ie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir &#x017F;o dachte,<lb/>
wie &#x017F;ie voll Verzweiflung hier herlief, und &#x017F;o ra&#x017F;ch das<lb/>
gewaltige Me&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ich in die Bru&#x017F;t &#x017F;tieß, und wie das<lb/>
Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die &#x017F;o nah<lb/>
mit ihr &#x017F;tand, jetzt an dem&#x017F;elben Ort, gehe hin und her<lb/>
an dem&#x017F;elben Ufer, in &#x017F;üßem Überlegen meines Glückes,<lb/>
und alles und das Gering&#x017F;te was mir begegnet, &#x017F;cheint<lb/>
mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö-<lb/>
ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord-<lb/>
nen und den einfachen Faden un&#x017F;eres Freundelebens,<lb/>
von dem ich doch nur alles an&#x017F;pinnen könnte, zu ver-<lb/>
folgen. &#x2014; Nein, es kränkt mich und ich mache ihr<lb/>
Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte,<lb/>
daß &#x017F;ie die &#x017F;chöne Erde verla&#x017F;&#x017F;en hat; &#x017F;ie hätt' noch<lb/>
lernen mü&#x017F;&#x017F;en, daß die Natur Gei&#x017F;t und Seele hat<lb/>
und mit dem Men&#x017F;chen verkehrt, und &#x017F;ich &#x017F;einer und<lb/>
&#x017F;eines Ge&#x017F;chickes annimmt, und daß Lebensverheißungen<lb/>
in den Lüften uns umwehen; ja, &#x017F;ie hat's bö&#x017F;' mit mir<lb/>
gemacht, &#x017F;ie i&#x017F;t mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0107] Über die Günderode iſt mir am Rhein unmöglich zu ſchreiben, ich bin nicht ſo empfindlich; aber ich bin hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenſtand ab, um ihn ganz zu überſehen; — geſtern war ich da unten, wo ſie lag; die Weiden ſind ſo gewachſen, daß ſie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir ſo dachte, wie ſie voll Verzweiflung hier herlief, und ſo raſch das gewaltige Meſſer ſich in die Bruſt ſtieß, und wie das Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die ſo nah mit ihr ſtand, jetzt an demſelben Ort, gehe hin und her an demſelben Ufer, in ſüßem Überlegen meines Glückes, und alles und das Geringſte was mir begegnet, ſcheint mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö- ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord- nen und den einfachen Faden unſeres Freundelebens, von dem ich doch nur alles anſpinnen könnte, zu ver- folgen. — Nein, es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte, daß ſie die ſchöne Erde verlaſſen hat; ſie hätt' noch lernen müſſen, daß die Natur Geiſt und Seele hat und mit dem Menſchen verkehrt, und ſich ſeiner und ſeines Geſchickes annimmt, und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umwehen; ja, ſie hat's böſ' mit mir gemacht, ſie iſt mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/107
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/107>, abgerufen am 24.11.2024.