Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Eine Mutter giebt sich alle erdenkliche Mühe ihr
kleines unverständiges Kindchen zufrieden zu stellen, sie
kömmt seinen Bedürfnissen zuvor und macht ihm aus
allem ein Spielwerk; wenn es nun auf nichts hören
will und mit nichts sich befriedigen läßt: so läßt sie
es seine Unart ausschreien bis es müde ist, und dann
sucht sie es wieder von neuem mit dem Spielwerk ver-
traut zu machen. Das ist grade wie es Gott mit den
Menschen macht: er giebt das Schönste um den Men-
schen zur Lust, zur Freude zu reizen, und ihm den Ver-
stand dafür zu schärfen. -- Die Kunst ist ein so schönes
Spielwerk, um den unruhigen, ewig begehrenden Men-
schengeist auf sich selbst zurück zu führen, um ihn den-
ken zu lehren und sehen; um Geschicklichkeit zu erwer-
ben, die seine Kräfte weckt und steigert. Er soll lernen
ganz der Unschuld solcher Erfindung sich hingeben, und
vertrauen auf die Lust und das Spiel der Phantasie,
die ihn zum Höchsten auszubilden und zu reifen ver-
mag. Gewiß liegen in der Kunst große Geheimnisse
höherer Entwicklung verborgen; ja ich glaub' sogar,
daß alle Neigungen von denen die Philister sagen, daß
sie keinen nützlichen Zweck haben, zu jenen mystischen
gehören die den Keim zu großen, in diesem Leben noch
unverständlichen Eigenschaften in unsre Seele legen;

Eine Mutter giebt ſich alle erdenkliche Mühe ihr
kleines unverſtändiges Kindchen zufrieden zu ſtellen, ſie
kömmt ſeinen Bedürfniſſen zuvor und macht ihm aus
allem ein Spielwerk; wenn es nun auf nichts hören
will und mit nichts ſich befriedigen läßt: ſo läßt ſie
es ſeine Unart ausſchreien bis es müde iſt, und dann
ſucht ſie es wieder von neuem mit dem Spielwerk ver-
traut zu machen. Das iſt grade wie es Gott mit den
Menſchen macht: er giebt das Schönſte um den Men-
ſchen zur Luſt, zur Freude zu reizen, und ihm den Ver-
ſtand dafür zu ſchärfen. — Die Kunſt iſt ein ſo ſchönes
Spielwerk, um den unruhigen, ewig begehrenden Men-
ſchengeiſt auf ſich ſelbſt zurück zu führen, um ihn den-
ken zu lehren und ſehen; um Geſchicklichkeit zu erwer-
ben, die ſeine Kräfte weckt und ſteigert. Er ſoll lernen
ganz der Unſchuld ſolcher Erfindung ſich hingeben, und
vertrauen auf die Luſt und das Spiel der Phantaſie,
die ihn zum Höchſten auszubilden und zu reifen ver-
mag. Gewiß liegen in der Kunſt große Geheimniſſe
höherer Entwicklung verborgen; ja ich glaub' ſogar,
daß alle Neigungen von denen die Philiſter ſagen, daß
ſie keinen nützlichen Zweck haben, zu jenen myſtiſchen
gehören die den Keim zu großen, in dieſem Leben noch
unverſtändlichen Eigenſchaften in unſre Seele legen;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0100" n="68"/>
          <p>Eine Mutter giebt &#x017F;ich alle erdenkliche Mühe ihr<lb/>
kleines unver&#x017F;tändiges Kindchen zufrieden zu &#x017F;tellen, &#x017F;ie<lb/>
kömmt &#x017F;einen Bedürfni&#x017F;&#x017F;en zuvor und macht ihm aus<lb/>
allem ein Spielwerk; wenn es nun auf nichts hören<lb/>
will und mit nichts &#x017F;ich befriedigen läßt: &#x017F;o läßt &#x017F;ie<lb/>
es &#x017F;eine Unart aus&#x017F;chreien bis es müde i&#x017F;t, und dann<lb/>
&#x017F;ucht &#x017F;ie es wieder von neuem mit dem Spielwerk ver-<lb/>
traut zu machen. Das i&#x017F;t grade wie es Gott mit den<lb/>
Men&#x017F;chen macht: er giebt das Schön&#x017F;te um den Men-<lb/>
&#x017F;chen zur Lu&#x017F;t, zur Freude zu reizen, und ihm den Ver-<lb/>
&#x017F;tand dafür zu &#x017F;chärfen. &#x2014; Die Kun&#x017F;t i&#x017F;t ein &#x017F;o &#x017F;chönes<lb/>
Spielwerk, um den unruhigen, ewig begehrenden Men-<lb/>
&#x017F;chengei&#x017F;t auf &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zurück zu führen, um ihn den-<lb/>
ken zu lehren und &#x017F;ehen; um Ge&#x017F;chicklichkeit zu erwer-<lb/>
ben, die &#x017F;eine Kräfte weckt und &#x017F;teigert. Er &#x017F;oll lernen<lb/>
ganz der Un&#x017F;chuld &#x017F;olcher Erfindung &#x017F;ich hingeben, und<lb/>
vertrauen auf die Lu&#x017F;t und das Spiel der Phanta&#x017F;ie,<lb/>
die ihn zum Höch&#x017F;ten auszubilden und zu reifen ver-<lb/>
mag. Gewiß liegen in der Kun&#x017F;t große Geheimni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
höherer Entwicklung verborgen; ja ich glaub' &#x017F;ogar,<lb/>
daß alle Neigungen von denen die Phili&#x017F;ter &#x017F;agen, daß<lb/>
&#x017F;ie keinen nützlichen Zweck haben, zu jenen my&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
gehören die den Keim zu großen, in die&#x017F;em Leben noch<lb/>
unver&#x017F;tändlichen Eigen&#x017F;chaften in un&#x017F;re Seele legen;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0100] Eine Mutter giebt ſich alle erdenkliche Mühe ihr kleines unverſtändiges Kindchen zufrieden zu ſtellen, ſie kömmt ſeinen Bedürfniſſen zuvor und macht ihm aus allem ein Spielwerk; wenn es nun auf nichts hören will und mit nichts ſich befriedigen läßt: ſo läßt ſie es ſeine Unart ausſchreien bis es müde iſt, und dann ſucht ſie es wieder von neuem mit dem Spielwerk ver- traut zu machen. Das iſt grade wie es Gott mit den Menſchen macht: er giebt das Schönſte um den Men- ſchen zur Luſt, zur Freude zu reizen, und ihm den Ver- ſtand dafür zu ſchärfen. — Die Kunſt iſt ein ſo ſchönes Spielwerk, um den unruhigen, ewig begehrenden Men- ſchengeiſt auf ſich ſelbſt zurück zu führen, um ihn den- ken zu lehren und ſehen; um Geſchicklichkeit zu erwer- ben, die ſeine Kräfte weckt und ſteigert. Er ſoll lernen ganz der Unſchuld ſolcher Erfindung ſich hingeben, und vertrauen auf die Luſt und das Spiel der Phantaſie, die ihn zum Höchſten auszubilden und zu reifen ver- mag. Gewiß liegen in der Kunſt große Geheimniſſe höherer Entwicklung verborgen; ja ich glaub' ſogar, daß alle Neigungen von denen die Philiſter ſagen, daß ſie keinen nützlichen Zweck haben, zu jenen myſtiſchen gehören die den Keim zu großen, in dieſem Leben noch unverſtändlichen Eigenſchaften in unſre Seele legen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/100
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/100>, abgerufen am 22.11.2024.