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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806.

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ist ein Fruchtbaum, auf den eine milde Gärtnerhand weiße und
rothe Rosen eingeimpft zur Bekränzung. Jeder kann da, was
sonst nur wenigen aus eigner Kraft verliehen, mächtig in das
Herz der Welt rufen, er sammelt sein zerstreutes Volk, wie es
auch getrennt durch Sprache, Staatsvorurtheile, Religionsirr-
thümer und müßige Neuigkeit, singend zu einer neuen Zeit un-
ter seiner Fahne. Sey diese Fahne auch nicht gestickt mit Tro-
phäen, vielleicht nur das zerrissene Segel der schiffenden Argo-
nauten, oder der versezte Mantel eines armen Singers *), wer
sie trägt, der suche darin keine Auszeichnung, wer ihr folgt,
der finde darin seine Schuldigkeit, denn wir suchen alle etwas
Höheres, das goldne Flies, das allen gehört, was der Reich-
thum unsres ganzen Volkes, was seine eigene innere lebende
Kunst gebildet, das Gewebe langer Zeit und mächtiger Kräfte,
den Glauben und das Wissen des Volkes, was sie begleitet in
Lust und Tod, Lieder, Sagen, Kunden, Sprüche, Geschichten,
Prophezeihungen und Melödieen, wir wollen allen alles wieder,
geben, was im vieljährigen Fortrollen seine Demantfestigkeit
bewährt, nicht abgestumpft, nur farbespielend geglättet, alle
Fugen und Ausschnitte hat zu dem allgemeinen Denkmahle des
größten neueren Volkes, der Deutschen, das Grabmahl der Vor-
zeit, das frohe Mahl der Gegenwart, der Zukunft ein Merk-
mahl in der Rennbahn des Lebens: Wir wollen wenigstens die
Grundstücke legen, was über unsre Kräfte andeuten, im festen
Vertrauen, daß die nicht fehlen werden, welche den Bau zum
Höchsten fortführen und Der, welcher die Spitze aufsetzt allem
Unternehmen. Was da lebt und wird, und worin das Leben
haftet, das ist doch weder von heute, noch von gestern, es war
und wird und wird seyn, verlieren kann es sich nie, denn es

*) Vergl. die Zueignung des Buches.

iſt ein Fruchtbaum, auf den eine milde Gaͤrtnerhand weiße und
rothe Roſen eingeimpft zur Bekraͤnzung. Jeder kann da, was
ſonſt nur wenigen aus eigner Kraft verliehen, maͤchtig in das
Herz der Welt rufen, er ſammelt ſein zerſtreutes Volk, wie es
auch getrennt durch Sprache, Staatsvorurtheile, Religionsirr-
thuͤmer und muͤßige Neuigkeit, ſingend zu einer neuen Zeit un-
ter ſeiner Fahne. Sey dieſe Fahne auch nicht geſtickt mit Tro-
phaͤen, vielleicht nur das zerriſſene Segel der ſchiffenden Argo-
nauten, oder der verſezte Mantel eines armen Singers *), wer
ſie traͤgt, der ſuche darin keine Auszeichnung, wer ihr folgt,
der finde darin ſeine Schuldigkeit, denn wir ſuchen alle etwas
Hoͤheres, das goldne Flies, das allen gehoͤrt, was der Reich-
thum unſres ganzen Volkes, was ſeine eigene innere lebende
Kunſt gebildet, das Gewebe langer Zeit und maͤchtiger Kraͤfte,
den Glauben und das Wiſſen des Volkes, was ſie begleitet in
Luſt und Tod, Lieder, Sagen, Kunden, Spruͤche, Geſchichten,
Prophezeihungen und Meloͤdieen, wir wollen allen alles wieder,
geben, was im vieljaͤhrigen Fortrollen ſeine Demantfeſtigkeit
bewaͤhrt, nicht abgeſtumpft, nur farbeſpielend geglaͤttet, alle
Fugen und Ausſchnitte hat zu dem allgemeinen Denkmahle des
groͤßten neueren Volkes, der Deutſchen, das Grabmahl der Vor-
zeit, das frohe Mahl der Gegenwart, der Zukunft ein Merk-
mahl in der Rennbahn des Lebens: Wir wollen wenigſtens die
Grundſtuͤcke legen, was uͤber unſre Kraͤfte andeuten, im feſten
Vertrauen, daß die nicht fehlen werden, welche den Bau zum
Hoͤchſten fortfuͤhren und Der, welcher die Spitze aufſetzt allem
Unternehmen. Was da lebt und wird, und worin das Leben
haftet, das iſt doch weder von heute, noch von geſtern, es war
und wird und wird ſeyn, verlieren kann es ſich nie, denn es

*) Vergl. die Zueignung des Buches.
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[463[473]/0482] iſt ein Fruchtbaum, auf den eine milde Gaͤrtnerhand weiße und rothe Roſen eingeimpft zur Bekraͤnzung. Jeder kann da, was ſonſt nur wenigen aus eigner Kraft verliehen, maͤchtig in das Herz der Welt rufen, er ſammelt ſein zerſtreutes Volk, wie es auch getrennt durch Sprache, Staatsvorurtheile, Religionsirr- thuͤmer und muͤßige Neuigkeit, ſingend zu einer neuen Zeit un- ter ſeiner Fahne. Sey dieſe Fahne auch nicht geſtickt mit Tro- phaͤen, vielleicht nur das zerriſſene Segel der ſchiffenden Argo- nauten, oder der verſezte Mantel eines armen Singers *), wer ſie traͤgt, der ſuche darin keine Auszeichnung, wer ihr folgt, der finde darin ſeine Schuldigkeit, denn wir ſuchen alle etwas Hoͤheres, das goldne Flies, das allen gehoͤrt, was der Reich- thum unſres ganzen Volkes, was ſeine eigene innere lebende Kunſt gebildet, das Gewebe langer Zeit und maͤchtiger Kraͤfte, den Glauben und das Wiſſen des Volkes, was ſie begleitet in Luſt und Tod, Lieder, Sagen, Kunden, Spruͤche, Geſchichten, Prophezeihungen und Meloͤdieen, wir wollen allen alles wieder, geben, was im vieljaͤhrigen Fortrollen ſeine Demantfeſtigkeit bewaͤhrt, nicht abgeſtumpft, nur farbeſpielend geglaͤttet, alle Fugen und Ausſchnitte hat zu dem allgemeinen Denkmahle des groͤßten neueren Volkes, der Deutſchen, das Grabmahl der Vor- zeit, das frohe Mahl der Gegenwart, der Zukunft ein Merk- mahl in der Rennbahn des Lebens: Wir wollen wenigſtens die Grundſtuͤcke legen, was uͤber unſre Kraͤfte andeuten, im feſten Vertrauen, daß die nicht fehlen werden, welche den Bau zum Hoͤchſten fortfuͤhren und Der, welcher die Spitze aufſetzt allem Unternehmen. Was da lebt und wird, und worin das Leben haftet, das iſt doch weder von heute, noch von geſtern, es war und wird und wird ſeyn, verlieren kann es ſich nie, denn es *) Vergl. die Zueignung des Buches.

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Zitationshilfe: Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 463[473]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/482>, abgerufen am 23.11.2024.