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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806.

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in den Schulen behandelt worden, aber Wahnsinn ist es, wäh-
rend die Gebildeten sich ihrer als Meister rühmen und Aeltern
aus Gewohnheit ihnen wohl wünschen, daß unwissende Vorste-
her diese einzige uns übrige feste historische Wurzel ausreissen:
Sind denn Kinder Kartenblätter, die thörichte Spieler einander
an den Kopf werfen? -- Was erscheint, was wird, was ge-
schieht? -- Nichts? -- Immer nur die Sucht der Bösen die
Welt sich, und alles der Nichtswürdigkeit in der Welt gleich zu
machen, alles aufzulösen, was enger als ein umzäuntes Feld,
an den Boden des Vaterlandes bindet, der Gedanke, es ist
derselbe Boden, auf dem wir in Lust gesprungen. Wer so
denkt, wird fest und herrlich sich und seinen Nachkommen bauen,
wem aber die Baukunst fehlt, dem fehlt ein Vaterland. Wer
nun fühlt, daß seinem bessern Leben ein Vaterland fehlt; geh'
in die Komödie, sagt mancher, da ist poetischer Genuß, da
singt's und klingts! -- Aber was ist das poetischer Genuß? --
Wo das Wesen dem Leben ausgegangen, da sendet es einen
Schatten zu unsrer Furcht, daß wir uns selber nicht vergessen:
So ist unser Schauspiel vom wahren Volksschauspiel ein fratzen-
hafter Schatten; und kein Volksschauspiel kann entstehen, weil
es den Künsten kein Volk giebt; die äußere Noth hat sie ver-
bunden nicht innere Lust, sonst wäre ein Volk, so weit man
deutsch am Markte reden hört. Wisset, Künstler sind nur in

mation als alle Hallersche Gedichte aufstellte. Aber wie die Jungen in
unsrer Zeit ganz alt unter einander thun müssen, um in die Gesellschaft
der Alten geführt zu werden, und in aller Schlechtigkeit sich früh abzuglü-
hen, so impft man ihnen einen ästhetischen Ausschlag früh ein, die
natürliche Verehrung und das Gefühl dessen zu unterdrücken, was wir
selbst nur im glücklichen Augenblicke hervorzubringen vermögen. So
möchte freylich mancher dieser Knaben mit edler Herablassung dieser
Lieder lächeln.

in den Schulen behandelt worden, aber Wahnſinn iſt es, waͤh-
rend die Gebildeten ſich ihrer als Meiſter ruͤhmen und Aeltern
aus Gewohnheit ihnen wohl wuͤnſchen, daß unwiſſende Vorſte-
her dieſe einzige uns uͤbrige feſte hiſtoriſche Wurzel ausreiſſen:
Sind denn Kinder Kartenblaͤtter, die thoͤrichte Spieler einander
an den Kopf werfen? — Was erſcheint, was wird, was ge-
ſchieht? — Nichts? — Immer nur die Sucht der Boͤſen die
Welt ſich, und alles der Nichtswuͤrdigkeit in der Welt gleich zu
machen, alles aufzuloͤſen, was enger als ein umzaͤuntes Feld,
an den Boden des Vaterlandes bindet, der Gedanke, es iſt
derſelbe Boden, auf dem wir in Luſt geſprungen. Wer ſo
denkt, wird feſt und herrlich ſich und ſeinen Nachkommen bauen,
wem aber die Baukunſt fehlt, dem fehlt ein Vaterland. Wer
nun fuͤhlt, daß ſeinem beſſern Leben ein Vaterland fehlt; geh'
in die Komoͤdie, ſagt mancher, da iſt poetiſcher Genuß, da
ſingt's und klingts! — Aber was iſt das poetiſcher Genuß? —
Wo das Weſen dem Leben ausgegangen, da ſendet es einen
Schatten zu unſrer Furcht, daß wir uns ſelber nicht vergeſſen:
So iſt unſer Schauſpiel vom wahren Volksſchauſpiel ein fratzen-
hafter Schatten; und kein Volksſchauſpiel kann entſtehen, weil
es den Kuͤnſten kein Volk giebt; die aͤußere Noth hat ſie ver-
bunden nicht innere Luſt, ſonſt waͤre ein Volk, ſo weit man
deutſch am Markte reden hoͤrt. Wiſſet, Kuͤnſtler ſind nur in

mation als alle Hallerſche Gedichte aufſtellte. Aber wie die Jungen in
unſrer Zeit ganz alt unter einander thun muͤſſen, um in die Geſellſchaft
der Alten gefuͤhrt zu werden, und in aller Schlechtigkeit ſich fruͤh abzugluͤ-
hen, ſo impft man ihnen einen aͤſthetiſchen Ausſchlag fruͤh ein, die
natuͤrliche Verehrung und das Gefuͤhl deſſen zu unterdruͤcken, was wir
ſelbſt nur im gluͤcklichen Augenblicke hervorzubringen vermoͤgen. So
moͤchte freylich mancher dieſer Knaben mit edler Herablaſſung dieſer
Lieder laͤcheln.
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[443[453]/0462] in den Schulen behandelt worden, aber Wahnſinn iſt es, waͤh- rend die Gebildeten ſich ihrer als Meiſter ruͤhmen und Aeltern aus Gewohnheit ihnen wohl wuͤnſchen, daß unwiſſende Vorſte- her dieſe einzige uns uͤbrige feſte hiſtoriſche Wurzel ausreiſſen: Sind denn Kinder Kartenblaͤtter, die thoͤrichte Spieler einander an den Kopf werfen? — Was erſcheint, was wird, was ge- ſchieht? — Nichts? — Immer nur die Sucht der Boͤſen die Welt ſich, und alles der Nichtswuͤrdigkeit in der Welt gleich zu machen, alles aufzuloͤſen, was enger als ein umzaͤuntes Feld, an den Boden des Vaterlandes bindet, der Gedanke, es iſt derſelbe Boden, auf dem wir in Luſt geſprungen. Wer ſo denkt, wird feſt und herrlich ſich und ſeinen Nachkommen bauen, wem aber die Baukunſt fehlt, dem fehlt ein Vaterland. Wer nun fuͤhlt, daß ſeinem beſſern Leben ein Vaterland fehlt; geh' in die Komoͤdie, ſagt mancher, da iſt poetiſcher Genuß, da ſingt's und klingts! — Aber was iſt das poetiſcher Genuß? — Wo das Weſen dem Leben ausgegangen, da ſendet es einen Schatten zu unſrer Furcht, daß wir uns ſelber nicht vergeſſen: So iſt unſer Schauſpiel vom wahren Volksſchauſpiel ein fratzen- hafter Schatten; und kein Volksſchauſpiel kann entſtehen, weil es den Kuͤnſten kein Volk giebt; die aͤußere Noth hat ſie ver- bunden nicht innere Luſt, ſonſt waͤre ein Volk, ſo weit man deutſch am Markte reden hoͤrt. Wiſſet, Kuͤnſtler ſind nur in *) *) mation als alle Hallerſche Gedichte aufſtellte. Aber wie die Jungen in unſrer Zeit ganz alt unter einander thun muͤſſen, um in die Geſellſchaft der Alten gefuͤhrt zu werden, und in aller Schlechtigkeit ſich fruͤh abzugluͤ- hen, ſo impft man ihnen einen aͤſthetiſchen Ausſchlag fruͤh ein, die natuͤrliche Verehrung und das Gefuͤhl deſſen zu unterdruͤcken, was wir ſelbſt nur im gluͤcklichen Augenblicke hervorzubringen vermoͤgen. So moͤchte freylich mancher dieſer Knaben mit edler Herablaſſung dieſer Lieder laͤcheln.

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Zitationshilfe: Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 443[453]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/462>, abgerufen am 22.11.2024.