weil es ihm nicht fortdauert. Als vorzeiten die Flagellanten in Selbstgeisselung wehklagend durch alle Straßen den Strom der Vorübergehenden in ihren Ton hineinrissen *), so verstummte in dieser späteren Selbstpeinigung der Furcht noch einmal aller edle Gemüthston. Die Regierungen glaubten es ihre Pflicht diesen Jammer zu stillen, statt ihn in sich ausgehen zu lassen, aber sie waren demselben Zeitgeiste unterworfen, statt einer höheren Thätigkeit machten sie gegenthätige (antipoetische) Bemühungen, das Fieber sollte sich schwächer zeigen, indem sie die gesammte Kraft des Körpers minderten, von dem Zwecke des Fiebers hatten sie keine Vorstellung, es war ihnen ein Miß- verhältniß weiter nichts. Die nothwendigen Lasten des bürger- lichen Vortheils wurden Einheimischen wie Fremden versteckt und heimlich, das Regierungwesen schien daher den Regierten dunkel und sündig. Nochmehr, es wurden ihnen Grenzen des Nothwendigen gesezt, man schnitt die Freude davon ab -- so ward ihrem Leben aller Werth genommen, es entstand eine Sehnsucht nach dem Tode, an sich selbst Tod, der mit seinem Knochenarm dem Lebenden eine Fallgrube gräbt. In der Liebe ist keine Furcht, sagt Johannes, es war diese Klage über die Selbstentleibung von Deutschland, wie jene der Chrimhilde, welche immer neue Verzweiflung herbeyführte. Die Spaltung war gemacht, der Keil eingetrieben, bald sollte der Staat nicht
*) Herr Koch, dem ich bey dieser Gelegenheit für manche literarische Mit- theilung meinen Dank abstatte, bemerkt den Einfluß der Flagellanten auf den Untergang vieler weltlicher Lieder in seinem schätzbaren Hand- buche. Sie entstanden während der großen Pestzeiten. Merkwürdig ist, daß in zwey sehr verschiedenen Chroniken, in der Straßburger und der Limpurger, immer dasselbe ganz schlechte Lied von ihnen angeführt wird. Vielleicht stammen aus den damaligen Gesinnungen die allgemein verbreiteten Todtentänze.
weil es ihm nicht fortdauert. Als vorzeiten die Flagellanten in Selbſtgeiſſelung wehklagend durch alle Straßen den Strom der Voruͤbergehenden in ihren Ton hineinriſſen *), ſo verſtummte in dieſer ſpaͤteren Selbſtpeinigung der Furcht noch einmal aller edle Gemuͤthston. Die Regierungen glaubten es ihre Pflicht dieſen Jammer zu ſtillen, ſtatt ihn in ſich ausgehen zu laſſen, aber ſie waren demſelben Zeitgeiſte unterworfen, ſtatt einer hoͤheren Thaͤtigkeit machten ſie gegenthaͤtige (antipoetiſche) Bemuͤhungen, das Fieber ſollte ſich ſchwaͤcher zeigen, indem ſie die geſammte Kraft des Koͤrpers minderten, von dem Zwecke des Fiebers hatten ſie keine Vorſtellung, es war ihnen ein Miß- verhaͤltniß weiter nichts. Die nothwendigen Laſten des buͤrger- lichen Vortheils wurden Einheimiſchen wie Fremden verſteckt und heimlich, das Regierungweſen ſchien daher den Regierten dunkel und ſuͤndig. Nochmehr, es wurden ihnen Grenzen des Nothwendigen geſezt, man ſchnitt die Freude davon ab — ſo ward ihrem Leben aller Werth genommen, es entſtand eine Sehnſucht nach dem Tode, an ſich ſelbſt Tod, der mit ſeinem Knochenarm dem Lebenden eine Fallgrube graͤbt. In der Liebe iſt keine Furcht, ſagt Johannes, es war dieſe Klage uͤber die Selbſtentleibung von Deutſchland, wie jene der Chrimhilde, welche immer neue Verzweiflung herbeyfuͤhrte. Die Spaltung war gemacht, der Keil eingetrieben, bald ſollte der Staat nicht
*) Herr Koch, dem ich bey dieſer Gelegenheit fuͤr manche literariſche Mit- theilung meinen Dank abſtatte, bemerkt den Einfluß der Flagellanten auf den Untergang vieler weltlicher Lieder in ſeinem ſchaͤtzbaren Hand- buche. Sie entſtanden waͤhrend der großen Peſtzeiten. Merkwuͤrdig iſt, daß in zwey ſehr verſchiedenen Chroniken, in der Straßburger und der Limpurger, immer daſſelbe ganz ſchlechte Lied von ihnen angefuͤhrt wird. Vielleicht ſtammen aus den damaligen Geſinnungen die allgemein verbreiteten Todtentaͤnze.
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[435[445]/0454]
weil es ihm nicht fortdauert. Als vorzeiten die Flagellanten in
Selbſtgeiſſelung wehklagend durch alle Straßen den Strom der
Voruͤbergehenden in ihren Ton hineinriſſen *), ſo verſtummte
in dieſer ſpaͤteren Selbſtpeinigung der Furcht noch einmal aller
edle Gemuͤthston. Die Regierungen glaubten es ihre Pflicht
dieſen Jammer zu ſtillen, ſtatt ihn in ſich ausgehen zu
laſſen, aber ſie waren demſelben Zeitgeiſte unterworfen, ſtatt
einer hoͤheren Thaͤtigkeit machten ſie gegenthaͤtige (antipoetiſche)
Bemuͤhungen, das Fieber ſollte ſich ſchwaͤcher zeigen, indem ſie
die geſammte Kraft des Koͤrpers minderten, von dem Zwecke des
Fiebers hatten ſie keine Vorſtellung, es war ihnen ein Miß-
verhaͤltniß weiter nichts. Die nothwendigen Laſten des buͤrger-
lichen Vortheils wurden Einheimiſchen wie Fremden verſteckt
und heimlich, das Regierungweſen ſchien daher den Regierten
dunkel und ſuͤndig. Nochmehr, es wurden ihnen Grenzen des
Nothwendigen geſezt, man ſchnitt die Freude davon ab — ſo
ward ihrem Leben aller Werth genommen, es entſtand eine
Sehnſucht nach dem Tode, an ſich ſelbſt Tod, der mit ſeinem
Knochenarm dem Lebenden eine Fallgrube graͤbt. In der Liebe
iſt keine Furcht, ſagt Johannes, es war dieſe Klage uͤber die
Selbſtentleibung von Deutſchland, wie jene der Chrimhilde,
welche immer neue Verzweiflung herbeyfuͤhrte. Die Spaltung
war gemacht, der Keil eingetrieben, bald ſollte der Staat nicht
*) Herr Koch, dem ich bey dieſer Gelegenheit fuͤr manche literariſche Mit-
theilung meinen Dank abſtatte, bemerkt den Einfluß der Flagellanten
auf den Untergang vieler weltlicher Lieder in ſeinem ſchaͤtzbaren Hand-
buche. Sie entſtanden waͤhrend der großen Peſtzeiten. Merkwuͤrdig
iſt, daß in zwey ſehr verſchiedenen Chroniken, in der Straßburger und
der Limpurger, immer daſſelbe ganz ſchlechte Lied von ihnen angefuͤhrt
wird. Vielleicht ſtammen aus den damaligen Geſinnungen die allgemein
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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 435[445]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/454>, abgerufen am 22.11.2024.
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