alle Rücksicht auf Diätetik. Mit Vergnügen liest er aber bei Hippocrates die Schilderungen der gefährlichen Folgen der- selben und den Ausspruch des Celsus: Zweimal zu essen sei besser, als einmal, und mehr zuträglicher als zu wenig.
Es ist eine diätetische, der Physiologie entnommene, Grund- regel, dem Magen nichts zu überantworten, was die Zunge nicht hinlänglich geschmeckt und die Zähne nicht gehörig gekaut haben. Nichts wäre dem Eßkünstler unangenehmer als sich im Schmecken und Kauen verkürzt zu sehen. Er schmeckt und kaut aber nicht deßhalb, um den Speicheldrüsen Zeit zu gönnen, dem Gekauten ihren gedeihlichen Zuschuß zu geben, und um dem Magen gehörig Mazerirtes und Vorbereitetes zu überliefern. Aber indem er weiß, wie gesund und zuträglich, wie wissen- schaftlich geheischt und geboten zugleich dasjenige Verfahren ist, wobei er als Künstler so sehr seine Rechnung findet, übt er es mit Bewußtsein noch einmal so gerne und mit doppelter Lust. So las ich als junger Mensch sehr gerne Callot-Hoff- mann's Mährlein vom König Daucus Carota, und die gelben Rüben gleiches Namens, so wie Scorzonera, Petersilie, Körbelkraut etc. genoß ich mit Lust, aber ohne Urtheil, wie die Mährlein auch. Seitdem ich aber darüber nachgedacht, wie ich in den genannten schmackhaften und würzigen Vegetabilien, so wie in den zarten Spargelköpfchen, den sanften jungen Bohnen, den süßen grünen Erbsen, dem milden Blumenkohl etc. gleichsam den ganzen lieben Frühling mir aneigne, wie mein melancholisches Blut dadurch erfrischt und ermuntert, erquickt und versüßt wird, genieße ich's mit wahrer Wollust. Dabei ist nicht zu übersehen, wie durch diese Glaubensfreudigkeit aller- dings das Gedeihliche der genannten lieben Speisen erhöht und vermehrt wird. Aber ich errege in mir keine absichtliche Freude, um jenen Zweck zu erreichen; meine Freude hat jene Gedeihlich- keit von selbst zur Folge, wie ich auch über und nicht über
alle Ruͤckſicht auf Diaͤtetik. Mit Vergnuͤgen lieſt er aber bei Hippocrates die Schilderungen der gefaͤhrlichen Folgen der- ſelben und den Ausſpruch des Celſus: Zweimal zu eſſen ſei beſſer, als einmal, und mehr zutraͤglicher als zu wenig.
Es iſt eine diaͤtetiſche, der Phyſiologie entnommene, Grund- regel, dem Magen nichts zu uͤberantworten, was die Zunge nicht hinlaͤnglich geſchmeckt und die Zaͤhne nicht gehoͤrig gekaut haben. Nichts waͤre dem Eßkuͤnſtler unangenehmer als ſich im Schmecken und Kauen verkuͤrzt zu ſehen. Er ſchmeckt und kaut aber nicht deßhalb, um den Speicheldruͤſen Zeit zu goͤnnen, dem Gekauten ihren gedeihlichen Zuſchuß zu geben, und um dem Magen gehoͤrig Mazerirtes und Vorbereitetes zu uͤberliefern. Aber indem er weiß, wie geſund und zutraͤglich, wie wiſſen- ſchaftlich geheiſcht und geboten zugleich dasjenige Verfahren iſt, wobei er als Kuͤnſtler ſo ſehr ſeine Rechnung findet, uͤbt er es mit Bewußtſein noch einmal ſo gerne und mit doppelter Luſt. So las ich als junger Menſch ſehr gerne Callot-Hoff- mann’s Maͤhrlein vom Koͤnig Daucus Carota, und die gelben Ruͤben gleiches Namens, ſo wie Scorzonera, Peterſilie, Koͤrbelkraut ꝛc. genoß ich mit Luſt, aber ohne Urtheil, wie die Maͤhrlein auch. Seitdem ich aber daruͤber nachgedacht, wie ich in den genannten ſchmackhaften und wuͤrzigen Vegetabilien, ſo wie in den zarten Spargelkoͤpfchen, den ſanften jungen Bohnen, den ſuͤßen gruͤnen Erbſen, dem milden Blumenkohl ꝛc. gleichſam den ganzen lieben Fruͤhling mir aneigne, wie mein melancholiſches Blut dadurch erfriſcht und ermuntert, erquickt und verſuͤßt wird, genieße ich’s mit wahrer Wolluſt. Dabei iſt nicht zu uͤberſehen, wie durch dieſe Glaubensfreudigkeit aller- dings das Gedeihliche der genannten lieben Speiſen erhoͤht und vermehrt wird. Aber ich errege in mir keine abſichtliche Freude, um jenen Zweck zu erreichen; meine Freude hat jene Gedeihlich- keit von ſelbſt zur Folge, wie ich auch uͤber und nicht uͤber
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alle Ruͤckſicht auf Diaͤtetik. Mit Vergnuͤgen lieſt er aber bei
Hippocrates die Schilderungen der gefaͤhrlichen Folgen der-
ſelben und den Ausſpruch des Celſus: Zweimal zu eſſen ſei
beſſer, als einmal, und mehr zutraͤglicher als zu wenig.
Es iſt eine diaͤtetiſche, der Phyſiologie entnommene, Grund-
regel, dem Magen nichts zu uͤberantworten, was die Zunge
nicht hinlaͤnglich geſchmeckt und die Zaͤhne nicht gehoͤrig gekaut
haben. Nichts waͤre dem Eßkuͤnſtler unangenehmer als ſich im
Schmecken und Kauen verkuͤrzt zu ſehen. Er ſchmeckt und kaut
aber nicht deßhalb, um den Speicheldruͤſen Zeit zu goͤnnen,
dem Gekauten ihren gedeihlichen Zuſchuß zu geben, und um
dem Magen gehoͤrig Mazerirtes und Vorbereitetes zu uͤberliefern.
Aber indem er weiß, wie geſund und zutraͤglich, wie wiſſen-
ſchaftlich geheiſcht und geboten zugleich dasjenige Verfahren
iſt, wobei er als Kuͤnſtler ſo ſehr ſeine Rechnung findet, uͤbt er
es mit Bewußtſein noch einmal ſo gerne und mit doppelter
Luſt. So las ich als junger Menſch ſehr gerne Callot-Hoff-
mann’s Maͤhrlein vom Koͤnig Daucus Carota, und die
gelben Ruͤben gleiches Namens, ſo wie Scorzonera, Peterſilie,
Koͤrbelkraut ꝛc. genoß ich mit Luſt, aber ohne Urtheil, wie die
Maͤhrlein auch. Seitdem ich aber daruͤber nachgedacht, wie
ich in den genannten ſchmackhaften und wuͤrzigen Vegetabilien,
ſo wie in den zarten Spargelkoͤpfchen, den ſanften jungen
Bohnen, den ſuͤßen gruͤnen Erbſen, dem milden Blumenkohl
ꝛc. gleichſam den ganzen lieben Fruͤhling mir aneigne, wie mein
melancholiſches Blut dadurch erfriſcht und ermuntert, erquickt
und verſuͤßt wird, genieße ich’s mit wahrer Wolluſt. Dabei
iſt nicht zu uͤberſehen, wie durch dieſe Glaubensfreudigkeit aller-
dings das Gedeihliche der genannten lieben Speiſen erhoͤht und
vermehrt wird. Aber ich errege in mir keine abſichtliche Freude,
um jenen Zweck zu erreichen; meine Freude hat jene Gedeihlich-
keit von ſelbſt zur Folge, wie ich auch uͤber und nicht uͤber
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/133>, abgerufen am 23.07.2024.
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