Nach den letzten Hochzeitsfeierlichkeiten reiste Max Werner zusammen mit Fenia nach St. Petersburg, wo er sich noch etwas umsehen wollte, ehe er nach Deutschland zurückging. Fenia mietete sich in einer maison meublee des Rewskij Prospekts ein, um sich in Ruhe für ihre künftige Lehrthätigkeit vorzubereiten. Ihn führte sie gleich bei ihren einzigen Petersburger Verwand¬ ten ein, ins Haus ihres Onkels, des Mannes einer verstor¬ benen Schwester ihrer Mutter, weil man dort deutsch sprach und deutsche Interessen pflegte. Der Onkel war von baltischem Adel, Admiral in russischem Dienst und unter¬ hielt mit seinen drei Töchtern die gastfreieste Geselligkeit.
Den größten Teil der ersten Tage seines Aufent¬ halts widmete Max jedoch eingehenden Besichtigungen der Hauptstadt. Einmal, nachdem er so lange in den Kunstsälen der Eremitage verweilt hatte, als das spär¬ liche Winterlicht irgend zuließ, verlangte es ihn nach einem ausgiebigen Spaziergang, und so ging er noch den ganzen Newskij Prospekt hinunter, von dem man ge¬ wöhnlich nur eine gewisse Strecke, zwischen der Admira¬ lität und dem Moskauer Bahnhof, zu sehen bekommt. Hinter dem Moskauer Bahnhof ist es nicht mehr der Newskij der vornehmen Nachmittagspromenade. Die breite schnurgerade Straße mit ihrer Einfassung von Kirchen und Palästen macht eine scharfe Wendung und verändert plötzlich ganz ihren Charakter. Anstatt der eleganten Spiegelscheiben der großen Magazine trifft man gewöhnliche Warenbuden und billige Bazare, deren niedrige Arkaden am Trottoir entlang laufen; anstatt der europäischen Hotels, Wirtshäuser zweiten und dritten
Nach den letzten Hochzeitsfeierlichkeiten reiſte Max Werner zuſammen mit Fenia nach St. Petersburg, wo er ſich noch etwas umſehen wollte, ehe er nach Deutſchland zurückging. Fenia mietete ſich in einer maison meublée des Rewſkij Proſpekts ein, um ſich in Ruhe für ihre künftige Lehrthätigkeit vorzubereiten. Ihn führte ſie gleich bei ihren einzigen Petersburger Verwand¬ ten ein, ins Haus ihres Onkels, des Mannes einer verſtor¬ benen Schweſter ihrer Mutter, weil man dort deutſch ſprach und deutſche Intereſſen pflegte. Der Onkel war von baltiſchem Adel, Admiral in ruſſiſchem Dienſt und unter¬ hielt mit ſeinen drei Töchtern die gaſtfreieſte Geſelligkeit.
Den größten Teil der erſten Tage ſeines Aufent¬ halts widmete Max jedoch eingehenden Beſichtigungen der Hauptſtadt. Einmal, nachdem er ſo lange in den Kunſtſälen der Eremitage verweilt hatte, als das ſpär¬ liche Winterlicht irgend zuließ, verlangte es ihn nach einem ausgiebigen Spaziergang, und ſo ging er noch den ganzen Newskij Proſpekt hinunter, von dem man ge¬ wöhnlich nur eine gewiſſe Strecke, zwiſchen der Admira¬ lität und dem Moſkauer Bahnhof, zu ſehen bekommt. Hinter dem Moſkauer Bahnhof iſt es nicht mehr der Newskij der vornehmen Nachmittagspromenade. Die breite ſchnurgerade Straße mit ihrer Einfaſſung von Kirchen und Paläſten macht eine ſcharfe Wendung und verändert plötzlich ganz ihren Charakter. Anſtatt der eleganten Spiegelſcheiben der großen Magazine trifft man gewöhnliche Warenbuden und billige Bazare, deren niedrige Arkaden am Trottoir entlang laufen; anſtatt der europäiſchen Hotels, Wirtshäuſer zweiten und dritten
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Nach den letzten Hochzeitsfeierlichkeiten reiſte Max
Werner zuſammen mit Fenia nach St. Petersburg,
wo er ſich noch etwas umſehen wollte, ehe er nach
Deutſchland zurückging. Fenia mietete ſich in einer
maison meublée des Rewſkij Proſpekts ein, um ſich in
Ruhe für ihre künftige Lehrthätigkeit vorzubereiten. Ihn
führte ſie gleich bei ihren einzigen Petersburger Verwand¬
ten ein, ins Haus ihres Onkels, des Mannes einer verſtor¬
benen Schweſter ihrer Mutter, weil man dort deutſch
ſprach und deutſche Intereſſen pflegte. Der Onkel war von
baltiſchem Adel, Admiral in ruſſiſchem Dienſt und unter¬
hielt mit ſeinen drei Töchtern die gaſtfreieſte Geſelligkeit.
Den größten Teil der erſten Tage ſeines Aufent¬
halts widmete Max jedoch eingehenden Beſichtigungen
der Hauptſtadt. Einmal, nachdem er ſo lange in den
Kunſtſälen der Eremitage verweilt hatte, als das ſpär¬
liche Winterlicht irgend zuließ, verlangte es ihn nach
einem ausgiebigen Spaziergang, und ſo ging er noch den
ganzen Newskij Proſpekt hinunter, von dem man ge¬
wöhnlich nur eine gewiſſe Strecke, zwiſchen der Admira¬
lität und dem Moſkauer Bahnhof, zu ſehen bekommt.
Hinter dem Moſkauer Bahnhof iſt es nicht mehr der
Newskij der vornehmen Nachmittagspromenade. Die
breite ſchnurgerade Straße mit ihrer Einfaſſung von
Kirchen und Paläſten macht eine ſcharfe Wendung und
verändert plötzlich ganz ihren Charakter. Anſtatt der
eleganten Spiegelſcheiben der großen Magazine trifft
man gewöhnliche Warenbuden und billige Bazare, deren
niedrige Arkaden am Trottoir entlang laufen; anſtatt
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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/38>, abgerufen am 07.07.2024.
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