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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.

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ich ganz entsetzlich unglücklich. Er aber hat mich gelehrt,
glücklich zu werden."

"Indem er Ihnen solche Studien erschloß?"

Sie schüttelte den blonden Kopf.

"Nein. Indem er mich darüber aufklärte, daß das,
woran ich kranke, unheilbar ist, und daß ich mich damit
abfinden muß. Unheilbar verwachsen bin ich, -- nein,
werden Sie nicht verlegen für mich!" fügte sie sehr lieb
im Ton hinzu, und legte ihr kleines blaugeädertes Händ¬
chen auf meine Hand, "Sie sehen ja, ich kann so ganz
ruhig davon sprechen."

Und als ich ihre Hand umfaßt hielt, und sie die
stumme Anteilnahme, das große lebhafte Interesse in mei¬
nen Augen lesen mochte, da fuhr sie vertrauensvoll fort:

"Mich haben die Menschen so sehr damit gepeinigt,
daß sie mir aus lauter Mitleid vorredeten, ich würde
mich bis zum erwachsenen Alter grade wachsen und wer¬
den wie andre auch. Aber je älter ich wurde, -- ich
bin jetzt neunzehn, -- desto besser begriff ich, daß sie
mich betrogen, und wagte doch nicht, es irgendwen merken
zu lassen oder mich gegen irgendwen auszusprechen. Denn
bemitleidet leben zu müssen, das ist doch wie Tod, nicht
wahr? Ueber diesem innern Zwang und erstickten Kum¬
mer wurde ich zuletzt schwermütig. Und nun wurde Herr
Doktor Frensdorff ins Haus gerufen. Er brauchte nicht
lange, um die Sachlage zu durchschauen! Er fing damit
an, mich die Wahrheit ertragen zu lehren. Ach, er hat
es nicht leicht gehabt, das können Sie glauben! Ich
habe bei ihm geweint und geschrieen, und schließlich lernte
ich bei ihm wieder lachen."

Lou Andreas-Salome, Fenitschka. 10

ich ganz entſetzlich unglücklich. Er aber hat mich gelehrt,
glücklich zu werden.“

„Indem er Ihnen ſolche Studien erſchloß?“

Sie ſchüttelte den blonden Kopf.

„Nein. Indem er mich darüber aufklärte, daß das,
woran ich kranke, unheilbar iſt, und daß ich mich damit
abfinden muß. Unheilbar verwachſen bin ich, — nein,
werden Sie nicht verlegen für mich!“ fügte ſie ſehr lieb
im Ton hinzu, und legte ihr kleines blaugeädertes Händ¬
chen auf meine Hand, „Sie ſehen ja, ich kann ſo ganz
ruhig davon ſprechen.“

Und als ich ihre Hand umfaßt hielt, und ſie die
ſtumme Anteilnahme, das große lebhafte Intereſſe in mei¬
nen Augen leſen mochte, da fuhr ſie vertrauensvoll fort:

„Mich haben die Menſchen ſo ſehr damit gepeinigt,
daß ſie mir aus lauter Mitleid vorredeten, ich würde
mich bis zum erwachſenen Alter grade wachſen und wer¬
den wie andre auch. Aber je älter ich wurde, — ich
bin jetzt neunzehn, — deſto beſſer begriff ich, daß ſie
mich betrogen, und wagte doch nicht, es irgendwen merken
zu laſſen oder mich gegen irgendwen auszuſprechen. Denn
bemitleidet leben zu müſſen, das iſt doch wie Tod, nicht
wahr? Ueber dieſem innern Zwang und erſtickten Kum¬
mer wurde ich zuletzt ſchwermütig. Und nun wurde Herr
Doktor Frensdorff ins Haus gerufen. Er brauchte nicht
lange, um die Sachlage zu durchſchauen! Er fing damit
an, mich die Wahrheit ertragen zu lehren. Ach, er hat
es nicht leicht gehabt, das können Sie glauben! Ich
habe bei ihm geweint und geſchrieen, und ſchließlich lernte
ich bei ihm wieder lachen.“

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[145/0149] — 145 — ich ganz entſetzlich unglücklich. Er aber hat mich gelehrt, glücklich zu werden.“ „Indem er Ihnen ſolche Studien erſchloß?“ Sie ſchüttelte den blonden Kopf. „Nein. Indem er mich darüber aufklärte, daß das, woran ich kranke, unheilbar iſt, und daß ich mich damit abfinden muß. Unheilbar verwachſen bin ich, — nein, werden Sie nicht verlegen für mich!“ fügte ſie ſehr lieb im Ton hinzu, und legte ihr kleines blaugeädertes Händ¬ chen auf meine Hand, „Sie ſehen ja, ich kann ſo ganz ruhig davon ſprechen.“ Und als ich ihre Hand umfaßt hielt, und ſie die ſtumme Anteilnahme, das große lebhafte Intereſſe in mei¬ nen Augen leſen mochte, da fuhr ſie vertrauensvoll fort: „Mich haben die Menſchen ſo ſehr damit gepeinigt, daß ſie mir aus lauter Mitleid vorredeten, ich würde mich bis zum erwachſenen Alter grade wachſen und wer¬ den wie andre auch. Aber je älter ich wurde, — ich bin jetzt neunzehn, — deſto beſſer begriff ich, daß ſie mich betrogen, und wagte doch nicht, es irgendwen merken zu laſſen oder mich gegen irgendwen auszuſprechen. Denn bemitleidet leben zu müſſen, das iſt doch wie Tod, nicht wahr? Ueber dieſem innern Zwang und erſtickten Kum¬ mer wurde ich zuletzt ſchwermütig. Und nun wurde Herr Doktor Frensdorff ins Haus gerufen. Er brauchte nicht lange, um die Sachlage zu durchſchauen! Er fing damit an, mich die Wahrheit ertragen zu lehren. Ach, er hat es nicht leicht gehabt, das können Sie glauben! Ich habe bei ihm geweint und geſchrieen, und ſchließlich lernte ich bei ihm wieder lachen.“ Lou Andreas-Salomé, Fenitſchka. 10

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Zitationshilfe: Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/149>, abgerufen am 23.11.2024.